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Desmoulins an seine Frau Lucile

Am 2. Germinal der 11. Dekade, um 5 Uhr morgens [den 1. April 1794].

Kopie meines Briefes, den Du vielleicht nicht erhalten hast. Wohltätiger Schlummer hat mir über meine Leiden hinweggeholfen. Wenn man schläft, hat man nicht die Empfindung, gefangen zu sein, man ist frei. Der Himmel hatte mit mir Erbarmen. Noch vor einem Augenblick sah ich Dich in meinem Traum, ich umarmte euch nacheinander, Dich, Horaz, und Dich, Daronne, die Du zu Hause warst. Unser Kleiner hatte ein Auge verloren, und ich sah darüber eine Binde. Und vor Schmerz darüber erwachte ich. Ich fand mich in meinem Kerker. Der Tag dämmerte. Ich sah Dich nicht mehr, meine Lolotte, und konnte Dich nicht hören, denn Du und Deine Mutter, Ihr sprachet zu mir, und Horaz, ohne Gefühl für sein Leid, sagte: »Papa, Papa!« O, die Grausamen, die mich der Freude berauben, diese Worte zu vernehmen, Dich zu sehen und glücklich zu machen. Denn das war mein einziger Ehrgeiz und meine einzige Verschwörung. Darauf erhob ich mich, um mit Dir wenigstens in einem Briefe zu sprechen. Ich öffnete mein Fenster, doch der Gedanke an meine Einsamkeit, die schrecklichen Stäbe, die Riegel, die mich von Dir trennen, brachen all meine Seelenkraft. Ich vergoß heiße Tränen, vielmehr ich schluchzte und rief aus meinem Grabe: »Lucile, Lucile, meine teuere Lucile, wo bist Du? Wo ist Dein Kopf, der sich an Deinen armen Lou schmiegte und preßte, wo sind Deine Arme, die mich an Dich drückten, und Dein Hals und Deine Füße und Dein Mund?« Gestern, gestern, welch ein Abschied! In jenem Augenblick unserer Trennung fühlte ich, wie meine Seele mich verließ und in Dich überging. Der tödliche Streich kann sie nicht mehr von ihrem Leibe scheiden. Gestern hatte ich einen Augenblick heftigsten Schmerzes, und ich fühlte, wie mein Herz brach, als ich Deine Mutter im Garten sah. Eine unwillkürliche Bewegung warf mich gegen die Stäbe auf die Knie. Ich faltete die Hände, als ob ein Mitleid von ihr, die, wie ich weiß, unaufhörlich an Deinem Busen seufzt, noch zu erflehen wäre. Gestern erkannte ich ihren Schmerz an ihrem Taschentuch und an dem Schleier, den sie herabließ, weil sie den Schmerz, mich gefangen zu sehen, nicht ertragen konnte. Wenn Ihr wiederkommt, laß sie ein wenig näher bei Dir sitzen, daß ich Euch besser sehe, ich glaube, das hat keine Gefahr ...

Ich habe eine Spalte in meiner Zelle entdeckt. Ich hielt mein Ohr dagegen und vernahm ein Seufzen. Ich wagte einige Worte und vernahm die Stimme eines leidenden Kranken. Er befragte mich um meinen Namen, den ich ihm mitteilte. »Mein Gott!« rief er und sank auf sein Lager zurück. »Ich bin Fabre d'Eglantine. Aber Du bist hier? Ist denn die Gegenrevolution vollendet?« Wir wagten nicht, mehr miteinander zu reden, damit der Haß uns nicht des schwachen Trostes beraube, und damit man uns nicht höre und voneinander trenne, um uns noch enger einzuschließen. Geliebte, Du kannst Dir nicht vorstellen, was es heißt, im Dunkel zu sein, ohne den Grund zu kennen, ohne befragt zu sein, ohne eine einzige Zeitung. Das heißt zugleich leben und tot sein. Oder leben und sich eingesargt fühlen. Man sagt, die Unschuld ist ruhig und voller Mut. O, meine teuere Lucile, es wäre wahr, wenn man Gott wäre.

In diesem Augenblick kamen die Kommissäre des Revolutionstribunals, mich zu befragen, ob ich gegen die Republik verschworen war. Wie lächerlich! Wie kann man so den reinsten Republikanismus beschimpfen. Ich sehe, welches Los mich erwartet. Lebe wohl, meine teuere Lucile, meine Lolotte, meine gute Lou, sage meinem Vater Lebewohl! Schreibe ihm. Du siehst in mir ein Beispiel für die Barbarei und Undankbarkeit der Menschen. Wie Du siehst, war meine Furcht begründet, meine Ahnung jedesmal richtig. Doch meine letzten Augenblicke sollen Dich nicht entehren. Ich war der Gatte einer Frau von himmlischer Tugend, ich war ein guter Gatte, ein guter Sohn, ich wäre auch ein guter Vater geworden. Ich folge meinen Brüdern, die für die Republik gestorben sind. Ich bin sicher, die Achtung und das Mitleid aller Freunde der Tugend, der Freiheit und Wahrheit mit mir zu nehmen. Ich sterbe mit vierunddreißig Jahren, doch ist es ein Wunder, daß ich seit fünf Jahren durch so viele Abgründe der Revolution hindurchgekommen bin, und daß ich überhaupt noch lebe. Ich lehne mein Haupt ruhig auf den Pfühl meiner allzu zahlreichen Schriften, doch atmen sie alle dieselbe Menschenliebe, denselben Wunsch, meine Mitbürger frei und glücklich zu machen, den das Beil von St.-Juste nicht treffen wird. Ich sehe, daß die Macht fast alle Menschen berauscht, und daß alle mit Dionys von Syrakus sagen: »Die Tyrannei ist eine schöne Gabe.« Allein, tröste Dich, untröstliche Witwe, Hektors Witwe, denn die Grabschrift Deines unglücklichen Camille ist rühmlicher, sie ist die des Cato und Brutus, der Tyrannenmörder. Meine geliebte Lucile, ich war geboren, Verse zu machen und die Unglücklichen zu verteidigen. In diesem Saale, wo ich jetzt um mein Leben kämpfe, verteidigte ich vor vier Jahren nächtelang eine Mutter von zehn Kindern, die keinen Anwalt fand. Vor derselben Bank der Geschworenen, die mich jetzt ermorden, erschien ich einst, als mein Vater schon einen großen Prozeß verloren hatte, plötzlich wie ein Wunder inmitten der Richter. Damals wenigstens war Weinen kein Verbrechen. Meine gefühlvolle Rede wußte sie zu rühren, und ich gewann den Rechtsstreit, den mein Vater schon verloren hatte. Ein solcher Verschwörer bin ich. Ich war niemals ein anderer. Ich war geboren, um Dich glücklich zu machen, um uns beiden, mit Deiner Mutter und meinem Vater und einigen Herzensfreunden ein Tahiti zu schaffen. Ich träumte die Träume des Abbé Saint-Pierre. Ich träumte von einer Republik, dem Idol aller Menschen, ich konnte nicht denken, daß die Menschen so ungerecht und so grausam sind. Wie konnte ich mir vorstellen, daß einige scherzhafte Wendungen gegen Kollegen in meinen Schriften die Erinnerung an so viele Dienste auslöschen würden. Ich verhehle mir nicht, daß ich als ein Opfer dieser Scherze und meiner Freundschaft für den unglücklichen Danton falle. Ich danke meinen Mördern für diesen Tod mit ihm und Phélipeaux. Meine Kollegen, meine Freunde, der ganze »Berg«, der mich, von wenigen abgesehen, ermutigt, beglückwünscht, geküßt, zum Dank meine Hand ergriffen hat, ist so feig gewesen, uns im Stiche zu lassen. Sie, die mir so viel gesagt haben, und selbst die, die meine Zeitung verurteilt haben, keiner kann mich im Ernst für einen Verschwörer halten. Die Freiheit der Presse und der Meinung hat keine Verteidiger mehr, wir wollen als die letzten Republikaner sterben, wir müßten uns wie Cato mit dem eigenen Schwert durchbohren, wenn es keine Guillotine gäbe.

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