Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Emanuel Geibel an seine Frau

Den 15. August 1853.

Heut früh bin ich mit dem Gedanken an Dich aufgewacht, und er hat mich seitdem keinen Augenblick verlassen. Was kann ich da Besseres tun, als wenigstens schriftlich mit Dir plaudern, da ich Dich nicht mit einem Kusse wecken durfte, wie ich so gerne getan hätte. Guten Morgen denn, liebster Schatz, und nochmals tausend Glück und Gottes reichsten Segen zu Deinem neuen Lebensjahre, das wir diesmal nicht mehr allein miteinander, sondern zu dreien betreten ...

Den gestrigen Abend brachte ich bei der Fürstin Wittgenstein zu, bei der mich Liszt, mit dem sie im vertrautesten Verhältnisse lebt, auf ihren Wunsch eingeführt hatte. Die Unterhaltung des kleinen Kreises, den ich dort fand, wurde bald äußerst lebhaft; von Aldriges »Othello«, den wir alle gesehen hatten, kamen wir auf Shakespeare überhaupt, erst auf den »Sommernachtstraum« und die Mendelssohnsche Musik; dann auf den » Sturm«. Auch hier, meinte ich, sei reicher Stoff zu musikalischer Ausführung. Liszt stimmte mir bei, wir ließen die Hauptmomente des zauberhaften Schauspiels an uns vorübergehn, und der große Dichter machte uns wärmer und wärmer, je mehr wir uns in seine Wunderwelt vertieften. Endlich sprang Liszt auf und setzte sich an den Flügel. Ich hab' ihn immer gern phantasieren hören, aber gestern spielte er hinreißender als je. Alles, was wir vorhin durchgesprochen hatten, klang nun in phantastischen Tongebilden wieder an unsere Seele, Meeressturm und Schiffbruch, Angst und Liebe, Calibans tierisches Fluchen und Stephanos lachende Trunkenheit, und dann wieder, wie aus hoher Luft hersäuselnd, Ariels silberne Elfenglöckchen und über allem endlich Prosperos ordnendes Walten, wie er mit goldenem Zauberstabe die brausenden Elemente und ihre Geister zur Ruhe bändigt und in milder Weisheit die Verwickelungen der menschlichen Leidenschaft schlichtet und löst. Ich kann Dir keine Vorstellung davon geben; Du müßtest es eben selbst mit angehört haben. Aber Liszt fühlte selbst, daß ihm mehr gelungen war als gewöhnlich; wir sprachen noch lange ernsthaft von einer Musik zum »Sturm«, bis er mir endlich geradezu auftrug, Dingelstedt zu fragen, ob er nicht in München das Stück auf die Bühne bringen wolle; er (Liszt) getraue sich, die musikalische Ausstattung in ein paar Monaten zustande zu bringen ...

*


 << zurück weiter >>