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Madame du Deffand an Horace Walpole

Mittwoch, 10 Uhr morgens [1767].

Gestern kündigte ich Ihnen eine Geschichte an. Ich glaubte, sie wäre nur abzuschreiben, indessen wurde mein Brief abgeschickt, und ich muß sie neu diktieren, was mir sehr lästig ist. Indessen ließ ich sie gestern von Herrn von Choiseul weitererzählen. Ich könnte sie Ihnen heute nachmittag schreiben, doch will ich lieber warten, bis der Bote fort ist, denn wenn er mir gerade einen Brief von Ihnen bringt, wird mich das in gute Laune versetzen, und Sie sollen meine Geschichte haben. Gibt es keinen Brief, so müssen Sie sie entbehren. Leben Sie wohl, beste Grüße.

4 Uhr.

Kein Brief, hier ist meine Geschichte. Sie ist ungefähr acht Tage alt. Der König besucht nach dem Abendessen Madame Victoire. Er ruft einen Kammerdiener, übergibt ihm einen Brief mit den Worten: »Jacques, tragen Sie diesen Brief zum Herzog von Choiseul. Er soll ihn sofort dem Bischof von Orleans übergeben.« Jacques begibt sich zum Herrn von Choiseul, man sagt ihm, daß er bei Herrn von Penthièvre sei. Er geht dorthin. Herr von Choiseul übernimmt den Brief, findet neben sich Cadet, den ersten Lakai der Frau von Choiseul, und befiehlt ihm, den Bischof überall zu suchen und ihm Bescheid zu bringen, wo er ist. Nach anderthalb Stunden kommt Cadet zurück, erzählt, daß er zuerst bei Monseigneur gewesen ist, daß er mit aller Kraft an die Türe geklopft hat, ohne eine Antwort zu erhalten; daß er nachher in der ganzen Stadt herumgelaufen ist, ohne Monseigneur zu finden oder von ihm zu erfahren. Der Herzog entschließt sich, selbst zu dem genannten Bischof zu gehen. Er steigt einhundertachtundzwanzig Stufen hoch und schlägt so wütend an die Türe, daß ein, zwei Diener erwachen und im Hemd öffnen kommen. »Wo ist der Bischof?« »Er liegt seit gestern zehn Uhr abends zu Bett.« »Öffnet mir!« Der Bischof wacht auf. »Wer ist da?« »Ich bin es. Ich habe einen Brief vom König.« »Einen Brief vom König? Großer Gott, wie spät ist es?« »Zwei Uhr.« Der Bischof nimmt den Brief. »Ich kann ihn ohne meine Brille nicht lesen. Wo ist die Brille? In meinen Hosen.« Der Minister geht die Hosen suchen, und inzwischen fragen sich beide: »Was kann in dem Briefe stehen? Ist der Erzbischof von Paris gestorben? Hat sich ein Bischof aufgehängt?« Beide sind etwas beunruhigt. Der Bischof nimmt den Brief nochmals, der Minister will ihn ihm vorlesen, aber der Bischof will ihn aus Vorsicht zuerst lesen. Er ist damit noch nicht zu Ende gekommen, als er ihn dem Minister reicht, der folgende Worte liest: »Monseigneur, Herr Bischof von Orleans! Meine Töchter hätten gern etwas von Ihrem Cotignac-Gebäck. Es sollen ganz kleine Schächtelchen sein. Wenn Sie keines haben, so bitte ich Sie« – an dieser Stelle des Briefes war eine Sänfte gezeichnet, und über der Sänfte stand weiter: – »es sofort aus Ihrer bischöflichen Residenz zu besorgen. Vergessen Sie jedoch nicht, daß es ganz kleine Schächtelchen sein müssen. Damit, Herr Bischof von Orleans, empfehle ich Sie in Gottes heiligen Schutz.

Gez. Ludwig.«

Und dann als Postskriptum: »Die Sänfte soll weiter nichts bedeuten, meine Töchter hatten sie auf dieses Blatt gezeichnet, das mir in die Hände fiel.«

Sie können sich die Verblüffung der beiden Minister vorstellen. Man schickte sofort einen Kurier ab, und das Cotignac kam am nächsten Tage, ohne daß sich jemand weiter darum kümmerte. Der König selbst hat dann die Geschichte erzählt, denn die Minister wollten davon nicht zuerst anfangen. Wenn unsere Geschichtschreiber immer so bei der Wahrheit verblieben wie meine Geschichte, würden sie allen Glauben verdienen.

*


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