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Moltke an seine Braut

Berlin, den 1. Dezember 1841.

Es ist schon elf Uhr, aber ich will Dir doch noch etwas vorplaudern. Ich komme eben aus einem Konzert im Opernhause und bin noch ganz voll davon. Ein gewisser Sivori, Schüler Paganinis und Erbe seiner Geige, spielte. So was habe ich nie gehört. Aber mit der Geige hat es auch eine eigne, geheimnisvolle Bewandtnis.

In Italien lebte vor sechzig Jahren ein Mann, der schon als Jüngling von auffallender Häßlichkeit war. Das lange rabenschwarze Haar hing wild und starr um sein gelblich bleiches Gesicht. Sein Antlitz glich dem ausgebrannten Krater eines Vulkans, und die Züge waren regungslos, bis die Leidenschaft sie bewegte. Dann verzerrten sie sich bis zur Wildheit, und das Sprühen der dunkeln Augen verriet die Glut seines Innern, wie das Feuer des Ätna unter der Decke von Schnee lodert. Ein solches Gemüt war nicht gemacht, um der Welt zu gefallen. Die Männer haßten, die Frauen verschmähten ihn, und er war allein – ganz allein in der Welt.

Wie jeder Mensch irgendeine Fähigkeit besitzt, die ihn für die Abwesenheit der übrigen entschädigt, so hatte Pietro die Gabe der Musik. In seinem Häuschen zu Ravenna wanderte er Nächte auf und ab und geigte schmerzliche Melodien. Einst öffnete er um Mitternacht die mit Ölpapier verklebten Fenster und schaute hinaus in den klaren Himmel voll Sterne, von denen, soviel ihrer waren, noch nicht einer ihm gelächelt hatte. Da hörte er ganz nahe Beifallklatschen von zarten Händen. Es war die schöne Ancella, seine Nachbarin. Dasselbe wiederholte sich in den folgenden Nächten, und bald entflammte Pietro in heißer Liebe für das junge, reiche, schöne Mädchen, und nicht bloß seine Geige, sondern seine melodische Stimme wurde der Dolmetscher seiner Gefühle. Es entwickelte sich bald ein Verhältnis zwischen beiden, aber Ancella hatte ihn nur gehört, und er zitterte vor dem Augenblick, wo sie ihn sehen würde.

Jemand hat sehr richtig bemerkt, daß die Männer das Herz durch die Augen, die Frauen durch die Ohren verlieren. Ancella liebte ihn und hätte ihn doch geliebt, wäre er noch zehnmal garstiger gewesen. Aber der Italiener konnte das nicht glauben, und mit einer stürmischen Neigung wuchs eine wütende Leidenschaft in seinem Herzen auf. Er mißtraute allem, sich selbst und seiner Geliebten, und quälte sie in dem Maße, wie er sie vergötterte. Ihre Tränen, ihre Beteuerungen, ihre Klagen und Vorwürfe waren ihm nur Beweise ihrer Schuld, und wenn er ihre Untreue für erwiesen hielt, fühlte er sich so grenzenlos unglücklich, daß er sich zwang, ihren Beteuerungen zu glauben, um nicht zu verzweifeln. Ich weiß nicht, welcher hämische Zufall in einer unglücklichen Stunde den Schein wirklicher Untreue auf sie warf. Nur so viel ist bekannt geworden, daß Ancella von einem Stilett durchbohrt gefunden wurde und Pietro sich den Gerichten übergab, um ein Leben zu enden, das er nicht mehr ertragen konnte.

Aber so gut sollte es ihm nicht werden. Man schickte ihn auf die Galeere; da er aber zu schwach für die schweren Arbeiten war, so sperrte man ihn in einen einsamen Kerker. Die Nacht sank herab, und schreckliche Gestalten senkten sich von dem Gewölbe nieder, sie drängten sich drohend um sein Strohlager, sie streckten blutige Krallen nach ihm aus; er tat einen Schrei, niemand hörte ihn. Die Gesellschaft des elendesten Verbrechers, die eines Hundes wäre Wohltat für ihn gewesen, aber er war allein – ganz allein. Doch nein! Seine Geige war ihm geblieben, er ergreift sie krampfhaft, und kaum berührt er mit dem Bogen die Saiten, so erklingen sie wunderbar lieblich, klagend, vorwurfsvoll, begütigend, verzeihend. Es war die Stimme Ancellas, ganz wie sie ihn so oft beruhigt und ermahnt, wie sie ihm geschmeichelt und wie sie geweint hatte. Es war ihm klar, daß Ancellas Seele in seine Geige gefahren war. Es schien ihm, daß ein Teil seiner Schuld schon durch sein maßloses Elend gesühnt sei, daß die Hingeschiedene, welche jetzt bei ihm war, die zu ihm sprach, und die er, verkörpert in seinem Instrument, umfaßte, ihm Vergebung verheiße. Da riß eine Saite, eine zweite, eine dritte, ein Jammerton hallte von dem kalten Gewölbe nieder, es war der Todesseufzer der Gemordeten. – Erschöpft sinkt der Unglückliche auf seine Streu zurück, Betäubung, nicht Schlaf, umfängt seine Sinne und hält ihn in Bewußtlosigkeit, dem letzten Trost des tiefsten Leides.

Am folgenden Tag fleht der Gefangene mit seltsamem Ungestüm den Schließer an, ihm drei Violinsaiten zu verschaffen. Sein ganzes Wohl und Wehe hängt an ihrem Besitz, aber er hat kein Geld, um das Mitgefühl des harten Mannes zu erkaufen, keine Worte, um ihn zu gewinnen. Trauernd betrachtet er sein liebes Instrument. Nur die G-Saite ist ihm geblieben. Aber gerade diese zaubert ihm die tiefe Altstimme seiner Geliebten hervor. Die ganzen Tage sitzt er, regungslos vor sich hinstarrend, da, aber wenn die Nacht ihre Schatten herabsenkt, dann greift er zu der einzigen Trösterin seines Elends und geigt, von niemand gehört, die wundervollsten Melodien. Damals komponierte er die schauerliche Melodie des Liedes:

Das Glück, das einst mich hegte,
Ist meiner Brust ein Dorn,
Die Liebe, die mich pflegte,
Ist meinem Schmerz ein Sporn.
O, wende deinen Spiegel,
Erinnrung jener Zeit,
Und drücke, Nacht, dein Siegel
Auf die Vergangenheit.
Die heiße Träne zittert
Auf meine Brust herab,
Mein Leben ist verbittert,
Ich wünsche mir das Grab.

So geigte er viele lange Nächte. Durch lange Übung besiegte er jede Schwierigkeit seines unvollkommenen Instrumentes. Was andere auf vier Saiten nie geleistet, das brachte er mit Leichtigkeit auf einer hervor. Er geigte zehn Jahre lang, ohne daß ein Mensch ihn gehört, und als vollendeter Meister trat er aus der dumpfen Gefängniszelle in die weite, sonnige Welt zurück.

Dort nahm er einen fremden Namen an und reiste in ferne Länder; eine tiefe Scheu hielt ihn lange ab, den Menschen seine Gefühle zu offenbaren, denn die Töne seiner Geige sprachen deutlicher als Worte von dem Zustande seiner Seele. Aber die Not zwang ihn, sein Talent in die Münze zu schlagen. Bald erfüllte der Name Paganini die Welt. Tausende strömten in die goldenen Opernsäle, um den wunderbaren Fremdling zu hören. – Da stand er, leichenblaß, abgespannt, bis der erste Bogenstrich ihn und die Menge beseelte. – Ihr stürmischer Beifall ließ ihn kalt. Zerstreut nur blickte er auf die tausendköpfige Hydra des Publikums, seine Seele war anderswo und versenkte sich in ihn selbst, sobald der letzte Klang seiner Saiten verhallt war. Der von allen gefeiert war, eilte schüchtern und menschenfeindlich in seine Einsamkeit zurück. Dort überzählte er die Goldhaufen, die seine Schatulle füllten, aber sie gewährten ihm keine Genugtuung. – Vielleicht war es ihm noch zu wenig. Er eilt an die Spielbank, setzt alles auf eine Karte und gewinnt und verliert das Zehnfache, ohne daß selbst die Leidenschaft des Spieles die schreckliche Leere seines Gemütes zu erfüllen vermag. Nur seine Geige bleibt sein Trost.

Jetzt sind seine Melodien verklungen. Seine Brust hat ausgeseufzt, und seine Gebeine ruhen in einem unbekannten Winkel. Denn als der müde Pilger, der die Qual eines hohen Alters erdulden mußte, aus den Ländern, deren rauhe Sprache ihm fremd war, zu den Zitronenhainen seines Heimatlandes zurückwanderte, verweigerte man ihm zu Rom die letzte Wohltat einer geweihten Ruhestätte. Nur seine Geige ist übriggeblieben, und in derselben wohnt noch heute die Seele der armen Ancella gebannt.

Kurz, wenn die Geschichte nicht wahr ist, so könnte sie doch wahr sein, und wenn man die Geige hört, so muß man es glauben, und ich wenigstens denke mir die Geschichte so, wie ich sie Dir erzählt, und weil es schon weit nach Mitternacht, so will ich Dir nur noch gute Nacht sagen und diese Töne vergessen, von welchen ein nervous gentleman in meiner Nähe ohnmächtig wurde. Aber wenn einer auch Nerven wie Bindfaden hat, so muß ihn doch so was ergreifen.

Den 5. Dezember. Die Geschichte von Paganini bitte ich aber doch nicht als von mir verbürgt mitzuteilen, seine Erben könnten mich wegen Verbalinjurie, wegen angeschuldigten Mordes belangen.

Ich habe gar nicht geglaubt, daß Du für Musik besonderen Sinn hast. Wenn das der Fall ist, so bitte ich Dich, den Unterricht ja wieder aufzunehmen. Du brauchst ja keine Virtuosin zu werden, die Hauptsache ist, daß es Dir Vergnügen macht, und ich höre auch gar zu gerne etwas Musik. Adieu für heute, süße Marie, herzlich der Deinige.

Helmut.

Berlin, Sonntag abends, den 13. Februar [1842].

Mein Mariechen! Dein lieber Brief vom 10. kam gestern an und erfreute mich sehr, denn Du scheinst heiter und zufrieden und hast wohl vollauf zu tun mit Deiner Einrichtung. Nun sind es nur noch zehn Wochen, dann bist Du ganz mein eignes, liebes, kleines Frauchen. – Gestern abend besuchte ich einen meiner Kameraden, den Rittmeister Oelrichs vom Generalstabe, welcher auch ganz kürzlich geheiratet hat. Er ist nicht jünger als ich, und seine Frau nur zwei Jahre älter als Du und auch sehr hübsch. Diese Leute werden Dir gewiß sehr gefallen, sie empfehlen sich Dir unbekannterweise und bieten Rat und Beistand, wenn Du es brauchst. Ich wünsche mir recht die Zeit herbei, wenn wir auch so gemütlich beisammen wohnen werden. Gott gebe seinen Segen dazu. Laß uns nur immer recht aufrichtig miteinander sein und ja niemals schmollen. Lieber wollen wir uns zanken, und noch lieber ganz einig sein. – Du hast wohl gemerkt, daß ich manchmal launisch bin, dann laß mich nur laufen, ich komme Dir doch zurück. Ich will aber sehen, daß ich mich bessere. – Von Dir wünsche ich freundliches und gleichmäßiges, womöglich heiteres temper, Nachgiebigkeit in Kleinigkeiten, Ordnung in der Haushaltung, Sauberkeit im Anzuge und vor allen Dingen, daß Du mich lieb behaltest. – Zwar trittst Du sehr jung in einen ganz neuen Kreis von Umgebungen, aber Dein guter Verstand und vorzüglich die Trefflichkeit Deines Gemüts wird Dich sehr bald den richtigen Takt im Verkehr mit andern Menschen lehren. Laß Dir's gesagt sein, gute Marie, daß Freundlichkeit gegen jedermann die erste Lebensregel ist, die uns manchen Kummer sparen kann, und daß Du selbst gegen die, welche Dir nicht gefallen, verbindlich sein kannst, ohne falsch und unwahr zu werden. Die wahre Höflichkeit und der feinste Weltton ist die angeborene Freundlichkeit eines wohlwollenden Herzens. Bei mir hat eine schlechte Erziehung und eine Jugend voller Entbehrungen dies Gefühl oft erstickt, öfter auch die Äußerung desselben zurückgedrängt, und so stehe ich da mit der angelernten, kalten, hochmütigen Höflichkeit, die selten jemand für sich gewinnt. Du hingegen bist jung und hübsch, wirst, so Gott will, keine Entbehrung kennen lernen, jeder tritt Dir freundlich entgegen; so versäume denn auch nicht, den Menschen wieder freundlich zu begegnen und sie zu gewinnen. – Dazu gehört allerdings, daß Du sprichst. – Es kommt gar nicht darauf an, etwas Geistreiches zu sagen, sondern womöglich etwas Verbindliches, und geht das nicht, wenigstens fühlen zu machen, daß man etwas Verbindliches sagen möchte. – Das Gezierte und Unwahre liegt Dir fern, es macht augenblicklich langweilig, denn nichts als die Wahrheit kann Teilnahme erwecken. Wirkliche Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit sind der wahre Schutz gegen die Kränkungen und Zurücksetzungen in der großen Welt; ja, ich möchte behaupten, daß bei diesen Eigenschaften eine große Blödigkeit und Befangenheit nicht möglich ist. Wenn wir nicht anders scheinen wollen, als wir sind, keine höhere Stellung usurpieren wollen, als die uns zusteht, so kann weder Rang noch Geburt noch Menge und Glanz uns wesentlich außer Fassung bringen. Wer aber in sich selbst nicht das Gefühl seiner Würde findet, sondern sie in der Meinung andrer suchen muß, der liest stets in den Augen andrer Menschen, wie jemand, der falsche Haare trägt, in jeden Spiegel sieht, ob sich auch nicht etwas verschoben hat. – Gesteh' ich's doch, gute Marie, daß ich diese schönen Lehren von mir selbst abstrahiere. Mein ganzes Auftreten ist nur eine mit Zuversichtlichkeit und usage du monde übertünchte Blödigkeit. Die langjährige Unterdrückung, in welcher ich ausgewachsen, hat meinem Charakter unheilbare Wunden geschlagen, mein Gemüt niedergedrückt und den guten, edeln Stolz geknickt. Spät erst habe ich angefangen, aus mir selbst wiederaufzubauen, was umgerissen war, hilf Du mir fortan, mich zu bessern. – Dich selbst aber möchte ich edler und besser, und das ist gleichbedeutend mit glücklicher und zufriedener, sehen, als ich es werden kann. – Sei daher bescheiden und anspruchslos, so wirst Du ruhig und unbefangen sein.

Gerne werde ich es sehen, wenn man Dir recht den Hof macht; ich habe auch nichts gegen ein bißchen Kokettieren. Je mehr Du gegen alle verbindlich bist, je weniger wird man Dir nachsagen können, daß Du einzelne auszeichnest. – Dafür mußt Du Dich in acht nehmen, denn die Männer suchen zu gefallen, erst um zu gefallen, dann um sich dessen rühmen zu können, und Du wirst in der Gesellschaft weit mehr Witz als Güte finden. Es kann gar nicht ausbleiben, daß ich im Vergleich mit andern Männern, die Du hier sehen wirst, sehr oft zurückstehen werde. Auf jedem Ball findest Du welche, die besser tanzen, die elegantere Toilette machen, in jeder Gesellschaft, die lebhafter sprechen, die besserer Laune sind als ich. Aber daß Du das findest, hindert gar nicht, daß Du mich nicht doch lieber haben könntest als sie alle, sofern Du nur glaubst, daß ich es besser mit Dir meine als alle diese. Nur dann erst, wenn Du etwas hast, was Du mir nicht erzählen könntest, dann sei dadurch von Dir selbst und durch Dich selbst gewarnt. Und nun gib mir einen Kuß, so will ich das Schulmeistern sein lassen. Ich freue mich, daß Ernestinchen schon wieder wohl, und daß der kleine Henry gedeiht. – Herzliche Grüße an Mama und Papa!

Noch eins, liebe Marie, wenn Du schreibst, so lies doch immer den Brief, den Du beantwortest, noch einmal durch. Es sind nicht bloß die Fragen, die beantwortet sein wollen, sondern es ist gut, alle die Gegenstände zu berühren, welche darin enthalten sind. Sonst wird der Briefwechsel immer magerer, die gegenseitigen Beziehungen schwinden, und man kommt bald dahin, sich nur Wichtiges mitteilen zu wollen. Nun besteht aber das Leben überhaupt nur aus wenig und selten Wichtigem. Die kleinen Beziehungen des Tages hingegen reihen sich zu Stunden, Wochen und Monaten und machen am Ende das Leben mit seinem Glück und Unglück aus. Darum ist die mündliche Unterhaltung so viel besser als die schriftliche, weil man sich das Unbedeutendste sagt und wenig findet, was zu schreiben der Mühe wert wäre.

Nun ist es bald Mitternacht, Du schläfst wohl schon, wenn Du nicht noch mit Jeanette plauderst, die ich herzlichst grüße. Gute Nacht, liebe, süße Seele!

Herzlich Dein
Helmut.

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