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Julie von Lespinasse an Hippolyte von Guibert

Freitag abends, den 14. Oktober 1774.

Lieber Freund! Ich komme aus dem »Orpheus«. Er hat mir die Seele weich und ruhig gemacht. Ich habe Tränen vergossen, aber keine bitteren. Mein Schmerz war sanft, meine Trauer verlor sich in der Erinnerung an Sie, meine Gedanken verweilten bei Ihnen ohne Reue. Ich weinte um den Verlorenen, aber meine Liebe galt Ihnen. Mein Herz hatte Raum für beide.

Welch wunderbare Kunst! Ein Göttergeschenk! Die Musik muß ein feinsinniger Mensch erfunden haben, um Unglückliche zu trösten.

Lieber Freund, gegen unheilbare Leiden kann man nichts tun, als Linderungsmittel suchen, und in der ganzen Welt gibt es da dreierlei für mein Herz. Der allerwirksamste Balsam sind Sie, mein Lieber. Sie vermögen mich meines Leids zu entheben, Sie erfüllen mein Herz mit einer Art Rausch, der mich Vergangenheit und Zukunft vergessen läßt. Nach diesem besten aller Mittel kommt das Opium, das mir als Hilfe und Schutz gegen die Verzweiflung wertvoll ist. Es wirkt mehr physisch, aber es ist mir unentbehrlich. Und drittens: die Musik, – sie verzaubert mein Leid, sie gießt in mein Blut, in mein ganzes Wesen eine Wonne, eine so köstliche Stimmung, daß ich fast sagen könnte, ich genieße meine Trauer und mein Unglück. Wahrlich, in den glücklichsten Tagen meines Lebens war mir die Musik nicht so wertvoll wie jetzt.

Lieber Freund, vor Ihrer Abreise bin ich keinmal im »Orpheus« gewesen. Ich hatte kein Bedürfnis danach. Sie waren bei mir, oder Sie waren eben bei mir gewesen, oder ich harrte Ihrer, – das war mir genug Lebensinhalt. Aber in der Öde, in der ich jetzt schmachte, unter dem ewigen Anstürmen der Verzweiflung und der Seelenqualen, muß ich alle Mittel zu Hilfe rufen. Wie schwach sind sie, wie machtlos gegen das Gift, das mein Leben verzehrt!

Lieber Freund, eine innerliche Stimme flüstert mir zu: »Wenn du ihn siehst, dann wird das Leben dir wieder wert und dein Leid erträglich!« Und wäre das auch nur ein Wahn, eine Illusion, gut, dann soll es die letzte sein.

Graf Crillon war in der Oper und in der Loge des Königs, er und tausend andre Crillons. Ich saß wie immer in meiner Loge. Ich habe mir seine Frau ordentlich angesehen. Sie ist mir gewöhnlich vorgekommen, nicht gerade häßlich. Er hat mich in meiner Loge besucht, wir haben von seinen Angelegenheiten geplaudert, von seiner Frau wenig. Ein großes Vermögen ist eine große Last. Er hat Prozesse und Geschäfte in Amerika. Er hat immer zu tun. Es mag Gewinn dabei herauskommen, aber kein ideeller. Das Glück steckt also nicht im großen Reichtum. Wo ist es denn? Eher ist es im Arbeitsgemach eines einsamen linkischen Gelehrten. Oder in den Werkstätten trefflicher Handwerker, die zu arbeiten haben, ohne sich dabei zu überanstrengen. Oder bei biederen Landpächtern, die eine Menge Kinder und ihr anständiges Auskommen haben. Der Rest der Erde wimmelt von Toren, Narren und Schelmen.

Ich lese an einem schlechten Buche über das Theater; ein paar treffliche Dinge stehen doch drinnen. Ich hebe es Ihnen auf.

Alle Welt ist in Fontainebleau. Ich bin sehr froh darüber. Oft möchte ich an meine Türe schreiben wie jener Weise: »Wer eintritt, ehrt mich, wer nicht eintritt, erfreut mich!«

Herr von Marmontel bot mir an, bei mir einen neuen komischen Operntext vorzulesen. Er kam, und wir waren ihrer zwölf Zuhörer, alle im Kreise, ich mit, willens, den »Alten Junggesellen« anzuhören. So ist der Titel des Werkes. Der Anfang der ersten Szene kam mir konfus und schwerfällig vor. Wissen Sie, was ich gemacht habe, ohne daß es im geringsten meine Absicht war? Ich habe nicht ein Wort gehört. Das ist so buchstäblich zu nehmen, daß ich von keiner der handelnden Personen noch vom Stoffe des Stückes etwas sagen könnte, und wenn ich gehängt werden sollte. Ich zog mich hinterher aus der Affäre, indem ich die Wahrheit sagte und meinte, die Zeit wäre mir gar nicht lang geworden. In der Tat war ich wirklich erstaunt, als ich die Gesellschaft um mich mit einem Male wieder laut plaudern hörte.

Seit es mir unmöglich ist, meine Aufmerksamkeit auf irgend etwas zu konzentrieren, liebe ich toll das Vorlesen. Es läßt mir meine Freiheit. Bei Gesprächen, selbst wenn man sich gar nicht beteiligt, rufen einen die andern allzuoft an, besonders die Leute, die einen auszeichnen wollen. Das sind die Unerträglichsten. Glauben Sie mir, am liebsten plaudre ich mit Ihnen oder mit dem Chevalier von Chastellux.

Gute Nacht! Es ist höchste Zeit, Sie aufatmen zu lassen. Ich habe in einem Zuge geschrieben. Die Operntage sind meine Erholungstage. Ich bin da allein, und hinterher zu Hause schließe ich die Türe. D'Alembert hat sich den »Harlekin« angesehen. Der macht ihm mehr Spaß als der »Orpheus«. Jeder hat recht, und es fällt mir nicht ein, über den verschiedenen Geschmack zu streiten. Jeder ist gut. Aber adieu nun! Auf morgen!

Dienstag, vier Uhr [Mai 1776].

Mein lieber Freund, ich liebe Sie. Das ist die einzige Arznei für meine Leiden. Nur Sie könnten das in Gift verwandeln, und von allen Giften wäre es das rascheste und stärkste.

Ach, es fällt mir so schwer, zu leben, daß ich Sie beinahe flehentlich bitten möchte, mir diese Arznei mitleidig und großmütig zu reichen. Es wurde meinem qualvollen Todeskampf, der Ihnen bald zur Seelenpein werden wird, ein Ende setzen.

Ach, mein lieber Freund, machen Sie es, daß ich Ihnen meinen letzten Frieden zu danken habe. Aus Edelmut! Seien Sie einmal grausam!

Ich vergehe.

Leben Sie wohl!

Sonnabends, vier Uhr [Mai 1776].

(Kurz vor dem Tode geschrieben.)

Mein lieber Freund, Sie sind zu gut, zu liebreich. Sie möchten ein Herz, das endlich unter der harten Last seines Leids zusammenbricht, wiederaufleben lassen. Ich fühle den ganzen Wert Ihres Wollens, aber ich verdiene es nicht mehr.

Es hat eine Zeit gegeben, wo mir, von Ihnen geliebt zu werden, keinen andern Wunsch übriggelassen hätte. Ja, in dieser Liebe wäre vielleicht meine Reue erloschen. Mindestens hätte sich ihre Bitternis in Wonne gewandelt. Da hätte ich leben mögen. Jetzt will ich nur noch sterben. Ich habe keinen Ersatz, keinen süßen Trost für das gefunden, was ich verloren hatte ...

Mein Lieber, das ist das einzige herbe Gefühl, das ich in meiner Seele gegen Sie finde. Es war ein unseliges Geschick, das Sie einst zu mir geführt hat. Es hat mich Tränen und Schmerzen gekostet, und schließlich bin ich daran zugrunde gegangen.

Ich möchte ihr ferneres Schicksal gern kennen. Ich möchte, daß Sie – Ihrer Beanlagung gemäß – glücklich würden. Ihr Charakter und Ihre Gefühlsart werden Sie niemals tief unglücklich werden lassen.

Ihren Brief habe ich um ein Uhr erhalten. Ich lag gerade in glühendem Fieber. Wieviel Mühe und Zeit ich dazu brauchte, ihn zu lesen, das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich wollte ihn nicht liegen lassen. Dies mühselige Lesen hat mich fast in Delirium gebracht.

Ich erhoffe Nachrichten von Ihnen heute abend.

Leben Sie wohl, mein lieber Freund. Sollte mir das Leben noch einmal geschenkt werden, so möchte ich es von neuem dazu weihen, Sie zu lieben. Aber es ist vorbei.

*


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