Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Brausende Klärung

Karoline Flachsland an Herder

Darmstadt, den 25. Oktober 1771.

O, was machen Sie, holder, süßer Jüngling? Denken Sie noch an mich? Lieben Sie mich noch? O, verzeihen Sie, daß ich das frage! In Ihrem letzten göttlichen Brief bin ich ja Dein Mädchen, und doch muß ich fragen. Ich habe einige Zeit so viel im Traum mit Ihnen zu tun, und das ist schuld daran; aber es ist nur Traum, und Du bist mein, mein, ach! in meinem Herzen ewig mein! Hören Sie nichts um Sie herumwandern, Du süßer Mann, und jetzt beim Mondenschein, wo ich stundenlang allein und bei Ihnen bin – hören Sie nichts, nichts von meinen Gedanken? Rauscht unser Engel nicht um Sie, der Ihnen sagt, ich sei bei Ihnen? O Sympathie, Sympathie! kann sie uns unsere Liebesgedanken nicht ankündigen? aber wozu? Ihr letzter Brief ist mir ja Bürge für alles.

Ich habe gestern Rousseaus »Emil« ausgelesen. Sie können sich vorstellen, daß mir die Geschichte mit Sophie am besten gefiel. Allerliebstes Paar! O wie schön ist die Morgenröte der Liebe, wenn sie so aufgeht und so genossen wird! Ach, mein Emil, o mehr, mehr als alle Emil! Warum ist uns diese Zeit nicht so selig geworden? Alles ist uns zerrissen, gewaltsam genommen worden. Der Augenblick, wo wir uns kaum ansahen und kannten, riß uns auch voneinander. Ach, welch eine Welt für uns! und was für ein Wiedersehen war's? Ach leider! nur Trennung scheint uns glücklich zu machen. Ach, welch eine Welt für uns! ach, welch eine für mich! – Mein Einziger, Ewiggeliebtester, kann sie nicht noch kommen, die schöne Morgenröte ohne Wolken? und soll denn Rousseau und alle Welt wahr haben, daß es keine dauerhafte Glückseligkeit gäbe? O, ich fliehe in Deine Arme! Wenn es bei Dir, Du Engel Gottes, keine Glückseligkeit gibt, ach! so gibt's in der ganzen Welt keine ... Wenn ich nach Hirngespinsten und Phantasien für Glückseligkeit tappte, wenn ein Wind das eitle Luftgebäude wegwehen könnte, o, dann verdiente ich vielleicht, daß es verweht wird, aber – in Deinem Arm, göttlicher Jüngling, will ich meinen Himmel suchen; da ist er, da ist er gewiß, und überall sonst gibt's keinen für mich. –

*


 << zurück weiter >>