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Herder an seine Frau Karoline

Terni, den 17. September [1788].

Tausend Jahre scheinen mir, mein liebstes Leben, seit ich nicht an Dich geschrieben habe, und zehntausend, seit ich keinen Brief von Dir empfangen habe; aber siehe auf die Karte, wie weit wir fortgerückt sind; so daß wir morgen bequem in Rom sein könnten, wenn wir nicht erst den berühmten Wasserfall bei Terni sehen wollten, der einige Miglien von hier ist, und wohin wir morgen unsre Reise steuern, und dann übermorgen nach Rom unsre Straße fortsetzen wollen, so daß wir Ende dieser Woche, etwa Sonnabend, wenn uns der Himmel hilft, daselbst glücklich anzukommen gedenken. Bisher sind die Wirtshäuser so schlecht gewesen, daß ich nirgend gleichsam ein reines Winkelchen fand, wo ich Dir hätte schreiben können, so sehr es jeden Tag mein Herz begehrte. Nimm also mit diesem Brief den Zoll der Liebe und des Andenkens von acht Tagen an und lies unsern Fanciulli die weitern Abenteuer unsrer Reise vor, indem ihr eine Karte zur Hand nehmet.

Ich fange an, wo ich aufhörte, bei Ancona. Am ersten Tage passierte nichts so gar Merkwürdiges. Ich ging nachmittag einen berühmten Missionar zu hören, den der Papst aus Rom nach Ancona geschickt hatte, die Ketzer zu bekehren. Er predigte auf einem großen Platz vor viel tausend Männern und Weibern; der abgefeimteste Pfaffe, in der schönsten italienisch-römischen Mundart, so infam, daß ich Dir den Greuel nicht sagen mag; weil er mit den religiösesten Gebärden lauter Geschichtchen und Gespräche der Donne aus dem Beichtstuhl erzählte. Hinter jeder derselben lachte das ganze andächtige Auditorium laut auf und blieb immer andächtig. Wir haben keinen Begriff von solchen Istruzzione, wie sie es nennen, in unsrer Gegend. Wie seine Stunde aus war, trat er ab; es wurde wieder gesungen, und ein Dominikaner trat auf das Gerüste zu einer ernsthaften Predigt. So verbringt man die Zeit, wenn keine Oper oder Komödie da ist, und das Damen wie Herren und das Volk. Man hat keinen Begriff von dem In-den-Tag-hinein-Leben unter freiem Himmel.

Ich ging nach Hause und rauchte meine Pfeife vor einem schönen Monde. Den Tag drauf wanderte ich allein durch die Stadt, weil Dalberg zeichnete und die Seckendorf nicht wohl war. Gegen Mittag kam ich auf die schönste Höhe der Welt, die über den Hafen von Ancona aufs Adriatische Meer hinausblickt. Hier hat einst ein Tempel der Diana an einem würdigen Platz gestanden; jetzt ist der Dom da. Ich konnte mich von der schönen Höhe des blaugrünen Meeres nicht trennen, ging endlich aber doch hinunter und suchte die Börse, wo vom Balkon eine ruhige, unendlich schöne Aussicht aufs Meer ist. Nachmittag fuhren wir in einige der Kirchen, die ich vormittag schon gesehen hatte, auch auf eine schöne Höhe, und beschlossen, da es schon dunkel wurde, mit der Börse und der Porta nuova. Die Aussicht aufs Meer machte mich jetzt unter dem schönen Monde so süß-traurig, daß ich im Andenken an euch, meine teuern einzigen Lieben, ein Stückchen Siegelwachs, daß ich in der Tasche hatte, still und andächtig ins schöne Meer hinab vom Balkon fallen ließ und mit einer Zähre in den Augen die Nymphen für euch und mich anflehte. Morgens drauf, am Sonnabende, ging's aus Ancona nach Loretto, wo wir mittags ankamen, sehr unrein, garstig und schlecht logierten und gleich den Nachmittag die Santa casa der Maria, die im Altar ist, mit allen goldnen Kindern, allen unnennbaren Juwelen, Diamanten, Schmuck, Perlen, Gold, silbernen Statuen etc. sahen. Es ist nicht zu beschreiben und verdient auch keine Beschreibung; ich will Euch davon erzählen. Das Beste für mich war, außer vortrefflichen Basreliefs rings um den Altar, eine Madonna von Raffael in der Schatzkammer und eine kleinere, nebst einem kleinen Johannes in den Zimmern des Papstes, wenn er herkommt. Den Sonntag drauf knieten Dalberg und ich vor dem Altar, sahen und hörten alles noch einmal und fuhren mittags ab. Wir kamen über Recanati, wo erst die Santa casa gestanden, bis Macerata, logierten schlecht und teuer; es regnete die Nacht durch, und wir fuhren morgens mit Tagesanbruch unter Regen in die Gebirge: es heiterte sich aber bald auf, und wir kamen abends unter der schönsten Mondbeleuchtung durch Täler und Gegenden, von denen wir keinen Begriff haben, in Fuligno an. Morgens sahen wir einen Raffael, viel schöner als der in Loretto, eine Maria mit dem Kinde auf den Wolken. Das Kind steigt aus ihrem Schoß und tritt mit dem einen Füßchen auf die Wolken; unten ein vortrefflicher Johannes der Täufer, ein Mensch, der eine Welt in sich hat und auf das Kind zeigt, und zwei kniende Heilige; der eine ist das Porträt dessen, für den Raffael das Bild malte, ein Sekretär des Papstes, sein Freund, und hieß a Comitibus. Es ist ein herrliches Stück, nur leider beschädigt; die Nonnen lassen es verderben. Wir sahen noch einiges andre und hätten von Fuligno in der schönsten Ebene von ganz Italien nach Perugia fahren können; die Seckendorf aber wollte nicht; wir reiseten also nachmittags fort nach Spoleto, gleichfalls in einem vortrefflichen, entzückenden Tal zwischen den Apenninen. Von der Schönheit der Apenninen ist nicht genug zu sagen; es gibt, glaub' ich, keine schönere Gegend des Gebirges, ob die Tiroler Berge gleich viel höher, wilder, kühner, größer sind. Dalberg zeichnete hie und da; ein schöner Fund, den wir antrafen, war ein ganz erhaltener Dianentempel, nicht weit von Rene, einer Station von Spoleto. Da es der erste Tempel ist, den ich sah, lief ich voll Freude hinab, umfaßte die eine schöne Säule, ganz mit Lorbeerblättern geziert, und sah mit entzücktem Blick auf die schönen Flüsse und Gegenden im Tal, mit ihren Nymphen hinab. Das innere Tempelchen hat ein Papst zur Kirche weihen lassen, damit es verschont bliebe; ich stieg wie toll auf den Altar, zur Nische, wo die heilige Göttin gestanden hatte; sie war aber nicht da, ein schlechtes Bild des Gekreuzigten stand auf dem Altar. Hier hast Du zwei Zweiglein aus den Mauern des Tempels, die ich für Dich gepflückt habe. Dalberg hat ihn in der Eile gezeichnet und will mir ihn zum Andenken der schönen Stunden geben, die wir da genossen. Die Gegend wird in meiner Erinnerung bleiben.

Zu guter Zeit waren wir in Spoleto, besehen noch die Porta fugae, wo Hannibal floh, da er beim Trasimenischen See geschlagen war, ein Gemälde mit Wasserfarben von Raffael in seiner ersten Manier, und die ungeheure Brücke zwischen zwei Bergen zur Wasserleitung. Dalberg zeichnete diese den Morgen drauf, während dessen ich die Brücke beging und das Schloß bestieg. Ein sonderbarer Morgen. Um 10 Uhr fuhren wir weg, kamen mittags auf die Somma, die höchste Höhe der Apenninen, nachmittags durch den ersten Olivenwald, von dem ich Dir ein Zweiglein von einem Ast beilege, der hier vor mir voll Früchte liegt, und den ich durch Werner pflücken ließ, damit ich euch, wie die Taube Noah, ein Friedens- und Weisheitszeichen übersende. Und nun sind wir hier in Terni; ich sitze und schreibe; morgen geht's zur Kaskade.

Lebt wohl, ihr Lieben. Lebe wohl, Du holde Maria, an die ich bei jedem Bilde von Raffael andächtig und glücklich denke; lebt wohl, ihr Kinder. Bald bin ich in Rom und finde von euch eine Menge Briefe. Gebe Gott, sie seien glücklich; gebe Gott, daß ihr alle wohl seid und mir lauter frohe Nachrichten meldet. O mein liebes Herz und Leben, erhalte Dich und sorge für Deine Gesundheit, habe die Kinder lieb und mache, daß ich sie wie Palmen wiederfinde. Was fehlet uns, wenn wir froh sind und uns liebhaben? Nichts auf der Welt kann und darf uns fehlen. Ich umarme Dich, du Engel Gottes, Du, der ich ganz bin und es immer sein werde. – Die Cena ist aufgetragen; nachher noch einige Worte.

Den 18. September.

Wir sind beim Wasserfall gewesen und eilen fort; ein großer Anblick, doch nicht größer, als meine Erwartung ihn dachte. Der Strom Vellino, ehe er fällt und in der Enge zwischen Felsen rauscht, füllte mich mehr, als da er in seine Kluft stürzt und allgemach sein Bette findet. Wir kamen im Regen von den Höhen hinab und eilen fort. Heute nacht in Citta Castellana, dann geht der neue Weg an, und morgen mittag oder nachmittag in Rom. Lebt wohl, ihr Lieben, und gedenkt meiner und wünscht mir alles Gute, wo nicht um mein-, so um euretwillen. Lebe wohl, Liebe; ich nehme diesen Brief nach Rom mit.

Neapel, den 19. Januar [17]89.

Ich bin gesund im schönen Neapel, Liebe, Liebe, das wird Dir genug sein. Wir kommen eben aus Pompeji und haben zugleich nebst einer Makkaronifabrik die herkulanischen Gemälde durchsehen, an einem sehr schönen, reizenden Tage. Luft, Himmel, Berge, Meer und Erde sind ein Zauberanblick, in den man wie versunken ist, so daß man darüber kein Wort hat. O, eine Gegend! Man fährt mitten im Winter durch Gärten Adonis' und wird von dem holden Traum trunken. Lange indessen könnte ich's hier nicht aushalten in dem Zustande, worin ich bin; meine einsame Seele wiegt sich zuletzt in den Wellen des Meers zum Abgrunde oder in die Ferne traurig, traurig. Ehegestern fuhr ich allein um den Posilipp herum, wie hinein in die Abendröte, und kam so sanfttraurig wieder, daß ich drei Stunden hernach wie stumm war. Verzeihe mir also, daß ich aus Neapel überhaupt und auch jetzt Dir so wenig schreibe. Wenn wir durch sind, will ich's an die Kinder tun ...

Grüße Goethe und Knebel, und sage dem letzten, daß ich ihn oft herwünsche, mit ihm am Ufer des Meers spazierenzugehen, den Vulkan mit ihm zu besteigen, am Grabe Sannazars auf Capo di Monte oder sonst mit ihm in Magna Graecia zu philosophieren. O, wie ist die Natur hier groß und schön! Ich glaube, meine Seele ist von hier nach den Nordländern herübergeflogen; hier, wenn ich hier meine Heimat hätte, wiegte sie sich wie ein Vogel auf den Zweigen. Jetzt aber fliegt sie höchstens wie eine Seemöwe, sich ein paar Fische zu holen. Lebe wohl, Liebe, küsse von mir die Kinder, und wenn es anginge, küsse Dich selbst von mir, holde Seele, mein einziges, inniges Leben. Ich könnte hier wiedergeboren werden, wenn ich nicht so alt wäre und jemand um mich hätte, mit dem ich von Herz und Seele lebte. Indessen bin ich gesund und sehe die See und den Mond drüber und die Lichter auf ihr, die da fischen, und höre in der Nacht die hohen Wellen brausen. Lebe wohl, Engel, und denke an Deinen einsamen Ulysses am Ufer des Meers freundlich. Alle guten Geister seien mit Dir; meine Sehnsucht sendet sie Dir über Meer und Berge zu und ziehet Dich oft her in meinen Gedanken. Lebe wohl, meine Liebe. Grüße die Kalbin, Steinin, Schardtin. Empfiehl mich der Herzogin, ihr dankend für ihren guten, gnädigen Brief. Addio, cara, carissima mia, addio! addio!

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