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Multatuli (Eduard Douwes Dekker) an seine Braut Eva

Purwakarta, Freitag, 24. Oktober 1845.

... Aber was ich über unsere »Zukunft« zu sagen hatte, ist noch nicht alles gesagt. Du weißt, was wir Zukunft nennen: unsere Kinder. Warum sollten wir darüber nicht sprechen dürfen! Darf ich es Dir nicht sagen, Dir, die Du die Mutter meiner Kinder sein wirst, daß ich darauf hoffe und danach verlange! Man vermeidet dies gewöhnlich, man spricht meist zu einem Mädchen nicht über dieses Kapitel und geht aus einer meines Erachtens verkehrten Scham über das Vornehmste, das Seligste als etwas Unpassendes hinweg. Wäre es auch bei andern Mädchen nicht gut, mein Mädchen wird es mir vergeben, wenn ich zu ihr als Frau, nicht als Kind rede. Nicht wahr, meine Everdine? Dürfen wir nicht vertraulich miteinander sein, wir, die wir ein Ziel, ein Interesse, eine Zukunft haben? Im allgemeinen werden einzelne Dinge nach meinem Gefühl zu sehr umschleiert. Man tut recht, die Phantasie der Kinder reinzuhalten, aber diese Reinheit wird nicht bewahrt durch Unwissenheit. Ich glaube eher, daß das Verdecken von etwas den Knaben und das Mädchen um so mehr die Wahrheit argwöhnen läßt. Man spürt aus Neugier Dingen nach, die uns, wenn sie uns ohne viel Umstände mitgeteilt würden, wenig oder kein Interesse einflößen würden. Wäre diese Unwissenheit noch zu bewahren, so könnte ich mich damit versöhnen, aber das ist nicht möglich; das Kind kommt in Berührung mit andern Kindern, es bekommt Bücher in die Hände, die es zum Nachdenken bringen; gerade die Geheimtuerei, womit das dennoch Begriffene von den Eltern behandelt wird, erhöht das Verlangen, mehr zu wissen; dieses Verlangen, nur zum Teil, nur heimlich befriedigt, erhitzt das Herz und verdirbt die Phantasie, das Kind sündigt bereits, und die Eltern meinen noch, daß es nicht weiß, was Sünde ist!

Siehst Du wohl, daß ich Deinen Charakter hoch einschätze, wenn ich Dich als Frau behandle? Würde ich mich nicht hüten, solche Dinge bei einem anderen Mädchen zu berühren? Ich weiß, daß Du vor dem Gegenstand sozusagen erschrickst, und daß Du Dich über meine Vermessenheit verwunderst. Es muß nichts zwischen uns sein, keine Mode, kein Gesetz, keine Scham, wir müssen einander alles mitzuteilen wagen. Nicht bei jedem Verlöbnis würde ich es so gut finden, aber so Gott will, bist Du bald meine Frau, und ich will nicht zu der Erkenntnis kommen, daß meine Frau am Tage vor unserer Hochzeit ein Kind war. Das Verhältnis ist ernsthaft, erhaben und nicht unterworfen willkürlich eingesetzten Regeln der Schicklichkeit. Denke jedoch nicht, daß ich die Schicklichkeit selbst geringachte. Ich spreche nur von willkürlichen Regeln. Ich glaube nicht undelikat zu sein, und bin sogar peinlicher in manchen Punkten als andere. Magst Du es wohl glauben, daß ich nicht gern in Gesellschaft von andern einen Kuß gebe? Daß ich, wenn ich verheiratet wäre, es gern sehen würde, daß meine Frau ihr Schlafzimmer für sich hätte, daß ich nicht würde hineinkommen mögen, ohne vorher geklopft zu haben usw.? Das würde höfisch sein, denkst Du, und auch ich würde dieser Eingebung mißtrauen, wenn man mich gelehrt hätte, so zu sein. Das ist jedoch nicht der Fall, es ist mein Gefühl von Schicklichkeit, das mir dies sagt, und darum lege ich Wert darauf. Ich bin gerade nicht ganz » du monde«, aber was ich noch von Lebensart weiß, habe ich, glaube ich, niemals gelernt, alles ist, finde ich, selbstverständlich. Schreib mir aufrichtig, Beste, was Du dachtest, als Du die vorige Seite lasest. Ich habe mit all meinem Schreiben das große Ziel im Auge, daß wir einander gut kennen lernen; hilf daran mit, indem Du Dich nicht hinter Deinem Mädchenfächer verkriechst, wenn ich zu Dir über Dinge spreche, worüber niemals jemand, wenigstens kein junger Mensch zu Dir sprach. Bedenke, daß auch niemand Dir so nahe steht wie ich. Ich betrachte mich als Deinen Nächsten, Du bist mir näher als Bruder oder Schwester, näher als meine Mutter. Daß wir noch nicht verheiratet sind, das ist gesellschaftlich, bürgerlich, unser Verhältnis ist jetzt schon dasselbe. Ich weiß sehr gut, ein Mädchen muß reserviert sein – es ist so – eine allzu große Vertraulichkeit in Deinen Äußerungen würde Dich kompromittieren können, wenn vielleicht die Sache nicht weiterginge, wenn die Umstände uns hinderten, Mann und Frau zu werden, oder wenn ich vielleicht falsch genug wäre, Deine Liebe und Vertraulichkeit mit Undank zu belohnen, und Dich nicht mehr lieb hätte. Denke mal, wenn ich, der ich jung bin und geneigt, Liebschaften anzuknüpfen, Dich nicht liebte, sondern nur einige Monate in Deiner Liebe Vergnügen suchte. So was kommt wohl vor. Dann würdest Du unglücklich sein, wenn Du mir allzuviel vertraut hättest.

Und darum gerade vertrau' mir ganz und gar. Setz' Deine Ruhe, Deine Zukunft aufs Spiel und sprich bei Dir selber: »Ich würde niemand mehr vertrauen, wenn er mich betrog!«

O, Deine Briefe zeigen es, daß Du mich liebhast; ich möchte die tote Schrift küssen, worin Du Dein lebendiges Herz ausgießest. Weißt Du auch, daß Du unberaten handelst, Deine Liebe so ganz und gar jemand preiszugeben, von dem Du nichts weißt, als was er selbst Dir zu sagen beliebte? Hast Du so viel Menschenkenntnis, mein Evchen, daß Du sofort Aufrichtigkeit von Falschheit unterscheiden könntest? Wagst Du nicht etwas viel? ... Darum just habe ich Dich so lieb ...

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