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Thomas Carlyle an Jane Welsh

Mainhill, den 19. Mai 1824.

Teuerste Freundin, denkst Du, daß ich Dich vergessen habe? Dann warst Du in Deinem Leben nicht mehr im Unrecht. In verschiedenen, ernsten und heiteren Stimmungen habe ich gebührend häufig und, wie ich glaube, sehr rechtgläubig an Dich gedacht. Zum Beweise solltest Du noch vorher einen langen Brief haben, allein das Schicksal und Oliver & Boyd sind stärker als meine Entschlüsse; so muß ich mich mit einem kurzen und eiligen Gekritzel behelfen, das ich nur deshalb schreibe, weil ich es besser als nichts halte, sonst denke ich nichts darüber.

Vor ungefähr zehn Tagen, drei Tage nach Empfang Deines »guten kleinen« Schreibens, beendete ich die Übersetzung des unsterblichen »Meister«. Die nächste Woche beabsichtigte ich auf den Besuch der wenigen Freunde zu verwenden, die ich in dieser Gegend habe. Ich wollte mich in ihrer Gesellschaft ein, zwei Tage sorglos erfreuen. Doch hatte ich kaum den vierten Teil dieser sehr gemächlichen Absicht ausgeführt, als der Wind sich's einfallen ließ, in Nordost umzuschlagen und mir ein niederträchtiges Halsweh zu bringen, das mich bis vorgestern müßig gurgelnd ans Haus fesselte. Und jetzt sind meine Ferien so angenehm zu Ende, und ich muß die Vorrede zu meinem unglückseligen Roman schreiben, muß Anstalten zur Abreise treffen, reiten und rennen und schreiben, so daß ich zwanzig Hände und Köpfe brauchte. Schade, daß man seine Angelegenheiten niemals besser besorgen kann. Die meisten, die Gleichmütigen ausgenommen, sind immer in Eile. Aber trotzdem ich durch all dies hindurch muß, werde ich Dienstag nachmittag in Edinburg sein. Wenn Du so gut sein willst, mir eine Zeile nach Moray-Street zu schicken, wird sie mich dort erreichen. Ich will jedoch nur ganz, ganz kurze Zeit in Edinburg bleiben. »Wilhelm Meister« ist ganz gedruckt, bis aus fünf Bogen, und mein athenisches Geschäft dürfte bald beendet sein. Soll ich nach Haddington kommen oder nicht? Ich hoffe einen Tag in Frieden zu verbringen. Ich würde alle meine Tage am liebsten bei dir verbringen, wenn es möglich wäre. Schreibe mir darüber, wann und wie, ob es der Mutter zusagt, und ob sie weiter gut zu mir ist. Ach Gott, ich bin betrübt, wenn ich daran denke, daß ich Dich verlassen muß. Schottland enthält zwei Millionen Herzen, von denen Deines das einzige ist, worin ich wohnen kann. Willst Du mich am Ende verbannen, einen Ausweisungsbefehl gegen mich erwirken? Ich beschwöre Dich, es nicht zu tun, es soll nimmer sein ...

Armer Byron! Ach, armer Byron! Die Nachricht seines Todes bedrückt mein Herz wie Blei. Und der Gedanke daran geht wie eine schmerzliche Zange durch mein ganzes Sein, als ob ich einen Bruder verloren hätte. O Gott, daß so manche Erd- und Staubgeborene ihr niedriges Dasein bis zum äußersten Rande anfüllen! Und er, der edelste Geist Europas, versinkt, bevor seine halbe Laufbahn beendigt ist. Noch ebenso voll von feuriger großer Leidenschaft und stolzen Plänen, und nun auf ewig stumm und kalt! Armer Byron! Und noch ein junger Mann! Er kämpfte noch zwischen den Verwirrungen und Sorgen und Abirrungen eines Geistes, der noch nicht zu seiner Reife gelangt, noch nicht seine eigene Stelle in der Welt gefunden hat. Hätte er siebzig Jahre erreicht, was hätte er noch alles getan! Was hätte er noch alles getan! Doch wir werden seine Stimme nicht mehr hören. Ich träumte davon, ihn zu sehen, aber der Vorhang ewiger Nacht hat ihn von unseren Augen geschieden. Wir werden zu ihm kommen, er wird zu uns nie zurückkehren. Lebe wohl, teuere Jane, in Deinem Herzen ist eine Lücke, wie in dem meinem, seitdem dieser Mann von uns gegangen ist. Laß uns um so näher beieinander stehen. Ich bin immer der Deine.

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