Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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36. Sonntags in der Mühle

In der Mühle ist Tanz. Wie jauchzen schon von weitem die Fiedeln durch den sommerlichen Sonntagnachmittag und laden die wackern Bürgersleute, die mit Kind und Kegel einen ehrsamen 436 Gang vors Tor hinaus wagen, in den schattigen Talwinkel, wo auf der glatten Bretterbühne die Beine wirbeln und die Schuhe schleifen und stampfen! Dort tobt die Jugend, welche unter dem kleinen Reigen der Lust, die ihnen im Herzen brennt, völlig den großen Reigen der Vernichtung vergißt, der lautlos die Welt durchkreist und dereinst auch sie eins nach dem andern abrufen wird.

Bedächtig die Sonntagsruhe genießend, wandert Stephan von der Seite her dem Waldrand entlang. Ihm ist der Feiertag, wo Hände und Arme rasten dürfen, Bedürfnis und Wohltat zugleich geworden; und in dem zufriedenen Bewußtsein getaner Arbeit mag er diesen Tag auch jenen gönnen, die an ihm noch nicht darauf denken müssen, die erschöpften Kräfte zu ersetzen, sondern vielmehr kaum wissen, wie sie die stets vorhandene Überfülle auf möglichst angenehme Weise loswerden. Ei, bald sind es schon wieder zehn Jährchen her, daß er, aus dem heidnischen Norden zurückgekehrt, jenes bescheidene Leben begann, das ihn auch heute noch das am meisten christliche dünkt: wohin immer ihn der Zufall verschlug, da war und blieb er seinem Herrn ein getreuer Knecht, der in Haus und Hof werkte und wachte; und er verlangt längst nichts anderes mehr von der Welt, als daß sie ihm dieses stille Glück des Dienens läßt. Auch jetzt nimmt er, bei der Lustbarkeit in der Mühle angelangt, als derselbe stille Gast, der er auf dieser Erde geworden ist, mit freundlichem Gruß am Ende eines noch leeren Tisches Platz; weniger um des Trankes willen, der vor ihn hingestellt wird, als um wieder etwas unter Menschen zu sein.

Auf der Straße, die von der Stadt herführt, schreitet, von allen ehrerbietig begrüßt, der leicht ergraute Meister Albrecht an der Seite seiner Ehefrau Gertrud, während ihm zur Linken 437 die lieblich-junge, rotwangige Sohnsfrau und der männlich-straffe Sohn ehrsam dahinwandern. Meister Albrecht ist längst nicht mehr der jüngste im Rat; und er gibt sich auch keine besondere Mühe, das Bewußtsein seiner Jahre und das Gefühl seiner Würde in Miene und Gehaben zurückzudrängen: im Gegenteil: so ein Sonntagnachmittagspaziergang scheint ihm recht eigentlich dazu angetan zu sein, den Segen Gottes, der auf seiner Familie liegt, in bescheidener Selbstverständlichkeit zu entfalten und an demjenigen anderer Bürger mit stillem Wohlgefallen zu messen! Hinter ihm und der Mutter Gertrud, welche der Erweiterung ihrer Leiblichkeit ebenfalls keinen seelischen Widerstand mehr entgegensetzt, sondern mit freundlichem Gleichmut die Welt betrachtet und sich von ihr betrachten läßt, folgen in zweiter Reihe, voll Respekt und Langeweile, ihre vier übrigen Kinder, zwei Buben und zwei Mädchen, welche, wenn andere Jugend des Weges kommt, wie lose Vögel ihre Blicke forschend nach beiden Seiten und gelegentlich selbst nach rückwärts ausschweifen lassen, um rechtzeitig den Garten zu erkunden, in welchem auch für sie dereinst die süßen Beeren wachsen . . .

»Da ist noch ein leerer Tisch!« ruft vorlaut das eine der Mädchen, wie sie jetzt in der Mühle angelangt sind, verstummt aber sogleich unter dem strengen Blicke des Vaters. Nichtsdestoweniger läßt sich die achtköpfige Familie umständlich auf den beiden langen Bänken nieder, auf deren einer am äußersten Ende der Knecht Stephan sitzt und vergebens dem Gruß der neu angekommenen Bürgersleute entgegensieht, um ihn erwidern zu können: er gewahrt nur, während ihn immerfort das Stimmengewirr der Zechenden und das Gefiedel und die Jauchzer der Tanzenden umtönen, daß diese Städter mit ganz 438 besonderer Feierlichkeit bedient werden. Da geht auf einmal eine seltsame Bewegung durch die Gäste, zusammengesteckte Köpfe flüstern da und dort einander etwas zu, ja, zuletzt verstummt sogar die Musik – Was ist geschehen?

Wie der Wirt bemerkt, daß Meister Albrecht an seinem nebenausstehenden Tisch wohl die heimliche Aufregung sieht, nicht aber ihre Ursache begreift und doch vermeiden möchte, eine mit seiner Würde unvereinbare Neugierde an den Tag zu legen, tritt er mit einer untertänigen Verbeugung herzu. »Mag der gestrenge Herr Rat wissen, daß in der Stadt eben ein durchreisender Deutschritter die Nachricht hinterlassen hat, Jerusalem sei wieder den Heiden in die Hände gefallen und einer gläubigen Christenheit wohl für immer verloren!« Das fällt wie Blitz und Donner in die Sonntagsgesellschaft, so daß alle Maul und Augen aufsperren.

Und wie im Echo wispert es unter den breit ausgreifenden Baumkronen von Tisch zu Tisch: »Jerusalem wieder in der Gewalt der Heiden!« Aber es ist nicht ein innerstes Entsetzen, so wie es einst vor Zeiten eine tiefste Entrüstung war; sondern mehr nur ein stumpfes, fast gleichgültiges Staunen – »Mögen's andere wieder zurückerobern! Wir wollen erst noch eins tanzen! Juchhui!« johlt ein Bursche von der Bühne herab, indem er sein Mädel herumreißt. Und das Gefiedel und Gejauchze und Gestampfe setzt von neuem ein und übertönt alsbald den Meinungsaustausch der bei ihrem Trunke angesiedelten älteren Sonntagsspaziergänger.

Jerusalem wieder in den Händen der Heiden! . . . »Bei denen mag's ebensogut aufgehoben sein!« murmelt Stephan vor sich hin. Und die steinige, in der Sonnenglut flimmernde, von Glaubenshaß und Glaubenseifersucht durchschrillte Bergstadt 439 steht abermals vor ihm. Dort hat er Menschen und Menschenwerk kennen gelernt und für alle Zeiten den Zorn des Herrn begriffen, der sich diese Stätte zwar für seinen Martertod auserwählte, vorher aber mit der Peitsche in der Hand den Tempel säuberte . . .

»Was hast du, Mann?« fragt ihn da einer der beiden Knaben. »Du schaust ja drein, als ob du selber einmal in Jerusalem gewesen wärst –«

»Ich – war nie in Jerusalem . . .«

»Vielleicht im Traum!« lacht das ältere Mädchen.

»Laß den Bauer in Ruhe, Küngold!« verweist Meister Albrecht die mutwillige Jugend, wendet sich aber zugleich von Stephan ab, um sich nichts in seiner Würde zu vergeben.

Da steht Stephan auf. Was drang ihm aus des vornehmen Ratsherrn Stimme für ein verwandter Klang ans Ohr? Ist er etwa auch einer von denen, die eine Erinnerung zum Schweigen bringen müssen?

»Seid Ihr, gestrenger Herr, vielleicht im heiligen Lande gewesen?« wagt er die Frage.

Erwartungsvoll schaut Mutter Gertrud ihrem Eheherrn ins Gesicht. Auch sie ist begierig – soweit sie noch auf etwas begierig sein kann –, was er antworten wird. Und selber überfliegt sie in Gedanken ihr Jugendabenteuer mit dem angenehmen Gefühl, daß alles eine so vortreffliche Entwicklung genommen hat.

»Bis dorthin hat's bei mir nicht gelangt!« lacht Meister Albrecht: halb gutmütig, wie er es sein möchte; und halb gereizt, wie er es ist. »Aber hier mein Bub, der hat's besser angefangen! Der ist mit dem Kaiser nach Jerusalem gezogen und war dabei, als er sich die Krone aufsetzte! Der kann dir sagen, wie's dort aussieht!«

»So! So! War dabei, als er sich die Krone aufsetzte!« 440 wiederholt Stephan andächtig, als ob er sich so etwas nicht vorstellen könnte. Und sieht doch Miene und Gebärde des Kaisers, wie er mit der Krone dastand, so deutlich vor sich, als wäre es erst gestern gewesen.

Gertrud aber lächelt unter ihrem grauen Haar hervor, daß die roten Wangen sich wölben. Natürlich, von ihrem Erlebnis schweigt er, der Mann! Und sie sind ja in der Tat nicht bis ins heilige Land gekommen! Aber war's etwa nicht genug, daß sie bis zu jener Insel –

»Ja, und du hast ihm selber dein bestes Schwert in die Hand gedrückt! Gelt, Vater? – Und deine Aufmunterung und dein Segen sind schuld, daß er bei diesem Unternehmen mit dabei war und wohlbehalten von ihm heimkehrte . . . So red doch, Heinz, und erzähl wieder einmal, wie's war! Wir hören es auch gern; nicht nur der Bauer hier.«

Aber der Sohn leert bedächtig sein Glas und schweigt. Alles hat seine Zeit! Damals lebte Jerusalem mit allen Zaubern der Ferne in seinem Herzen; jetzt seine junge Frau, die ihm bald ein eigenes Jesuskind schenken wird. Und er schaut gleichgültig dem alten Bauer nach, der sich mit einem bescheidenen Gruß verabschiedet hat und langsam, immer wieder stille stehend, wie ein Nachtwandler davongeht.

Plötzlich erwacht Stephan aus seinen Gedanken: es ist, als tauchte er aus einem früheren Leben empor. Er stapft wieder dem Waldrand entlang, wo er hergekommen ist, und atmet den Heugeruch der Wiesen in sich ein, die sich im goldenen Abendlicht vor ihm dehnen. Jerusalem in den Händen der Heiden! Was geht ihn das noch an? Im Stalle steht das Vieh an der Krippe, lauscht mit großen Augen seinem Tritt entgegen und wartet darauf, daß er es füttert.

441 Auf der breiten Straße nach der Stadt aber wandert inmitten seiner Angehörigen Meister Albrecht, der Ratsherr. Der Fall Jerusalems gibt ihm weniger zu denken als das eingefallene Gesicht des Herrn Bürgermeisters, den sie soeben mit ehrerbietigem Gruße und tiefen Bücklingen überholt haben und nun hinter sich wissen. Wie lange wird er noch an seinem Stocke durchs Leben humpeln, selber die Würde tragend und andern die Arbeit überlassend? Und wer wird, wer kann nur sein Nachfolger sein?

Am meisten quillt auf und sonnt sich in diesen Gedanken Mutter Gertrud, die doch einst mit dem künftigen Bürgermeister zusammen das grenzenlose Königreich der Jugendsehnsucht ihr eigen nannte: jetzt kennt sie für sich und die Ihrigen nichts Höheres mehr, als in ihrer festummauerten Stadt demnächst die erste Familie zu heißen . . .

 


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