Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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6. Die Marei reißt aus

Wer läuft von der Zugbrücke weg ins taufrische Land hinaus, hoch hinter sich Wall und Graben? Wem schießt die aufgehende Sonne von fernem Bergrücken her goldrote Pfeile an die nackten Beine, die unter dem kurzen Rock stark und mutig davonschreiten?

Die Magd Marei ist's, die noch den Schnurrbart des Torwarts 262 auf ihren Lippen fühlt, weil sie sich nicht anders als mit einem Kuß sowohl Durchpaß als Verschwiegenheit erkaufen konnte.

Sie lacht den blaßblauen Morgenhimmel an, in welchem irgendwo Gott sein muß, und zeigt ihm zum Danke dafür, daß die Sonne scheint, ihre schelmischen Wangengrübchen. Sie singt ein Lied und spürt die Kühle der Luft an ihrer straffen Kehle, so daß sie nicht nur die Töne, die sie von sich gibt, sondern auch sich selber in der Wonne des Tages badet. Sie gebärdet sich wie ein junger Vogel, der seinem Käfig entschlüpft ist und nun eben so eifrig als ungeschickt das Fliegen versucht . . .

Wer trägt bescheiden sein Bündelchen am Arm, neigt das von der Sonne gerötete Gesicht demütig über die beiden Hände, die den Rosenkranz halten, so daß das weiße Kreuz vorn auf der Brust in der Mitte eine tiefe Einknickung zeigt?

Die Marei ist's, die Hunger und Durst hat von der stundenlangen Wanderung und hofft, daß man sie auf dem Bauernhof, welcher ihr aus dem aufblühenden Baumgarten entgegenschaut, zum Mittagstisch einladen wird. Sie murmelt ihr Gebetlein und läßt derweilen aus dem Schatten ihres Kopftuches die hellen Blicke umherschweifen, damit sie es rechtzeitig merkt, wenn ein Fenster oder gar die Türe aufgeht.

»Schau, Mann, da zieht schon wieder so eine fromme Magd vorbei! – Komm, du armer Teufel! Bis nach Jerusalem ist's noch weit; und du wirst zugreifen mögen. – Was, du schüttelst den Kopf und denkst nur ans Beten? Aber die Suppe mit uns auslöffeln, das wird doch nichts Unheiliges sein . . .«

Wer liegt dort auf der Schattenseite des Hügels im weichen, kühlen, grünen Gras, das Haupt ruheselig in die verschlungen untergeschobenen Hände gebettet, das eine Bein angezogen und das andere behaglich daraufgelegt, so daß die Blicke über Knie 263 und große Zehe hinweg in den Nachmittagshimmel hineinzielen, als suchten sie den ersten Stern, der nicht mehr lange wird auf sich warten lassen?

Die Marei ist's, die ihre brennenden Füße ausruht und den schmerzenden Schenkeln Zeit gibt, sich etwas zu erholen; und die doch lacht in ihrem Herzen über all diese kleinen Qualen, weil der erste Tag Freiheit in ihrem Leben sie wie in einen Rausch des Leichtsinns geworfen hat. Und wenn jetzt einer des Weges käme und sie fragte: Du Donnersmaitli, wo meinst du, daß du heute Nacht deine blonden Zöpfe zum sichern Schlafe niederlegst? – sie würde nur mit dem staubigen Fuß wippen und nach dem Städtchen drüben deuten, das seine Türme über die Umrißlinie der mildbesonnten Berglehne in die klare Abendluft hinaufhebt.

Aber dorthin langt's noch lange mit der Zeit. Zuerst reckt und streckt sie sich ein dutzendmal in dem feuchten, von weißen Blümchen gesprenkelten Gras und bohrt sich verliebt mit den Schultern in die Erde hinein. So daliegen und des Kommenden in Gelassenheit gewärtig sein, abseits von allen scheltenden Befehlen, das ist doch das Allerschönste, das ihr hat widerfahren können! Und weder Tier noch Mensch ist ihr bisher über den Weg gelaufen, vor denen sie sich hätte fürchten müssen . . .

Wer keucht den eindämmernden Rain hinan, um noch vor Torschluß über die Brücke zu kommen? Gelt, du unberatenes Ding, es ist rascher getan, am Morgen ins Land hinunter, als am Abend in eine Stadt hinauf zu rennen!

Die Marei ist's, die noch nicht weiß, wieviel leichter die Blicke als die Beine reisen. Schon schaut sie sich für den Fall, daß sie zu spät käme, nach einem Unterschlupf um und gewahrt einen halbzerfallenen Turm am Wege, aus dessen einem Fenster ein Lichtschein dringt. Die Neugier gibt es ihr nicht zu, daß sie 264 vorübergeht: sie stellt sich auf die Zehen, äugt hinein und sieht einen häßlichen Alten in einem großen Folianten lesen, umgeben von allerlei grausigem Tiergezeug.

»Kreuzfahrerdirn, das ist nichts für dich!« lacht eine Männerstimme durch die sinkende Dunkelheit; und eine andere, hellere stimmt ein: »Hier wohnt der alte Cyprian, der den Menschen mit Teufelshilfe in einer Glaskugel, nicht mehr aus eigener Kraft in einem schönen Weiberleibe schaffen will!« Hui, wie sie da weiterrennt und schon glaubt, ein Unerwünschter könnte sie der Glaskugel vorziehen, wenn sie ihm lange die Wahl läßt! Sie kommt, den beiden Burschen vorauseilend, noch mehr als zeitig über die Brücke und durchs Tor in die Stadt hinein . . .

Wer klopft mit wirklicher Angst und Demut an die erste, beste Türe und erbittet, um Christi willen, unter Tränen Einlaß und Herberge?

Die Marei ist's. Und eine brave Bürgersfrau hält ihr die Laterne vors treuherzige Gesicht und sagt: »So tritt ein und bring Segen herein! – Schon viele sind vorbeigekommen, und morgen wirst du schon ein Trüpplein finden, damit du nicht mehr so sündhaft allein in der Welt herumstolpern mußt!« Und siehe: das Lager, das sie ihr anweist, ist besser, als sie jemals auf einem sich niedergelassen hat.

Da muß die Marei doch wieder über den lieben Gott lachen, daß er es trotz allem so gut mit ihr meint. Und Gott allein mag auch im Dunkeln das vergnügte Grübchen sehen, das ihr noch in der Wange eingedrückt bleibt, wie sie schon lange auf ihrem untergelegten rechten Oberarm liegt und als letztes und schönstes Geschenk dieses ersten Wandertages in tiefen, starken Atemzügen einen gesunden Schlaf schlürft, aus seinem verborgenen, von Traumbildern umgaukelten Bronnen süße Erquickung schöpfend . . . 265

 


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