Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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16. Gerold und Isa

Die kühlwehende Luft des nahenden Frühlingsabends trocknet ihr allmählich die Schweißperlen auf der Stirne und spielt mit ihrem krausen roten Haar.

Wie doch vier, fünf Stunden Wanderns die Empörung eines Mädchenherzens zu dämpfen vermögen! Wo ist die flatternde Wäsche geblieben? Wo steht der Tisch, auf dem jetzt ein warmes Mus aufgetragen wird? In ihrem Bündelchen trägt sie nur ein Hemd, Schuhe und Strümpfe mit sich.

Umkehren? Niemals. An den paar Bauernhöfen, die sie kennt und wo man auch sie hätte kennen können, ist sie hastig, mit abgewandtem Gesicht, vorbeigeschritten; und jetzt ist weit und breit kein Mensch, kein Haus mehr zu sehen. Lautlos über sumpfigen Wiesen schweben weiße Nebel in der goldig verglimmenden Abendluft. Die Straße steigt einem waldigen Bergrücken entgegen.

Das Grauen der sinkenden Nacht weckt in Isa immer mehr das Entsetzen vor der unbekannten Welt. Aber sie beißt die Zähne zusammen und setzt unermüdlich ihre nackten Füße voreinander: solange ihr niemand in die Quere kommt, wird sie das Wandern schon aushalten! Und eingekeilt in die gespenstische Drohung der noch kaum belaubten Büsche und Bäume, die sie allmählich zu beiden Seiten umgeben, schaut sie erst recht mit krampfhaftem Mute auf den hellen Streifen der Straße – und steht plötzlich, kaum hat sie das Hufegetrappel vernommen, vor einem reisigen Jüngling, welcher aus einem Nebenweg 65 angeritten kam und sie, von ihrer Erscheinung nicht minder überrascht, vom hohen Sattel herab betrachtet.

»Wohin willst du noch so spät?« fragt Gerold, indem er das Bild der geliebten Herrin, das ihm fortwährend vor den Augen schwebte, an die Wirklichkeit vertauscht.

»Nach dem heiligen Land! – Zu den Kindern, die nach Jerusalem ziehen . . .«

»Dann haben wir den gleichen Weg. – Fürchte dich nicht vor mir! Ich will dein Ritter sein.«

Die Straße steigt immer schärfer. Isa hat Mühe, mit dem Pferd Schritt zu halten. Wohin pilgern sie miteinander? In den flimmernden Sternenhimmel hinein?

Gerold zügelt sein Tier, so sehr er kann, um der jungen Kreuzfahrerin das Folgen zu erleichtern. Aber immer wieder will ihm ihr roter Haarschopf nach rückwärts in die Dunkelheit entschwinden! Dann läuft sie ihm eilends nach; und er sieht aufs neue ihr helles Gesicht, das wie von innen heraus leuchtet.

»Du bist müde. – Halte dich am Steigbügel fest!«

Isa faßt mit der rechten Hand hinter seinem linken Fuß den Riemen. Wer ist der Jüngling, der so ruhig und mild zu ihr spricht? So ganz anders als der junge Graf, der meinte, jede Blume sei nur für ihn gewachsen! Und sie schaut dann und wann heimlich zu ihm auf, ob sie nicht in seinem Antlitz lesen könne.

Wer ist dieses Mädchen? fragt sich Gerold. Und wovor ist das arme Ding geflohen, das ihn aus dunklen Augen so forschend anblickt? Gleichviel! Was er an diesem Kinde tut, das tut er an ihr, die ihm ihre Liebe schenkte und nun allein auf ihrem traurigen Lager seiner gedenkt. Schon die dritte Nacht . . .

»Du stolperst ja. Du tust dir an den Steinen weh. – Komm 66 zu mir herauf! – Da! Tritt mit dem Fuß auf meine Fußspitze und reich mir die Hand – so – hup!«

Sie schwingt sich mit geschickter Drehung vor ihn hin, hält sich mit der einen Hand an der wallenden Pferdemähne fest und legt zitternd den andern Arm um seinen Hals. Hat sie keine Furcht vor ihm, den sie nicht kennt? Nein, sie hat keine Furcht. Und sie staunt selber darüber.

Gerold fühlt sich durchschauert und durchstrafft in einem. Wie kühl ist der Arm, der sich um seinen Nacken schlingt! Wie jugendlich hart der Leib, den er selber umfängt! Wahrlich, schön ist es, ein angehender Ritter zu sein und die Welt zu durchfahren . . .

Über ihre Knie hinweg ergreift er die Zügel; und weiter geht es, den Bergrücken hinauf, wo sie an einigen kahlgeschlagenen Stellen noch einmal den fliehenden Tag einzuholen scheinen. Da sieht er denn, daß ihre Haut weißer leuchtet als jede andere Haut; und daß ihre Kehle allenthalben von roten Pünktchen wie von Goldstaub übersät ist, welcher in der Höhlung zwischen ihren Brüsten, in die ihn das aufgebauschte Wams blicken läßt, lautlos als in einer verschwiegenen Schatzgrube zusammenrieselt. Aber weil er das Weib kennt, so schweigt die Neugier seiner jungen Sinne und hält er das aufgelesene Mädchen wie eine nachgeborene unglückliche Schwester der geliebten Frau im Arm.

». . . Hast du noch nie auf einem Roß gesessen?«

Sie schüttelt verneinend das Haupt, das sie an seine rechte Brust und Schulter gelehnt hat. Dann liegt sie ihm wieder voll kindlichen Vertrauens regungslos im umfangenden Arm; und nach einer Weile zeigen ihm ihre regelmäßigen Atemzüge, daß sie, erschöpft von der schweren Tagesarbeit und dem langen 67 Marsche, sanft eingeschlafen ist. Er aber hält sie wie ein wunderbares Abenteuer fest, trinkt mit dem Hauch der feuchten Walderde den kräftigen, säuerlich-frischen Duft ihres Körpers in sich ein und sendet über sie hinweg den erstaunten Blick zu den immer zahlreicher funkelnden Sternen des Himmels hinauf und in das jenseitige Tal hinab.

Wie Isa sich ihm, so überläßt er sie beide dem Pferde seiner gütigen Herrin. Ihm ist, als habe sie ihm das schlummernde Mädchen an die Brust gelegt: nicht nur als ihre, sondern immer mehr auch als seine Schwester! Er staunt über sich selbst, daß er für dieses junge, süße Blut wie ein zärtlicher Bruder fühlt, und ahnt dunkel, daß sie beide diesen Frieden ihrer Seelen ihr verdanken, die jetzt in ihre Kissen weint und ihm mit ihrem Gebet und ihrer Sehnsucht in die unbekannte Zukunft nachfolgt.

Da hört er aus dem Tale herauf, durch das Rauschen des Baches hindurch, das Rollen und Rattern von Wagen; und jetzt sieht er etliche Lichter sich vorwärts bewegen. Sind das die Kinder, die in heißer Sehnsucht aufgebrochen sind und nach dem heiligen Lande ziehen? Hallt jetzt nicht ein ferner Gesang durch die Nacht, der als ein »Erbarme dich unser« sich zu Gott aufschwingt?

Erbarmt euch untereinander! klingt es wie ein tiefes, ruhiges Echo in Gerolds Blut. Seine Herrin hatte sich seiner fordernden Jugendkraft erbarmt und ihn in Schönheit und Reinheit erleben lassen, was mancher mit häßlicher List sich zum erstenmal erobert; und eben deshalb erbarmt ihn auch der unbeschirmten Jugend, die ihm das Schicksal in diesem schlafenden Mädchen in die Hand gegeben hat, und ist es sein ehrlicher Wille, ihr wachsamer Ritter zu sein. Und auf einmal empfindet er, der 68 die Liebe des Weibes von einer mütterlich überlegenen Frau erfahren durfte, für die kindliche Magd, die ihm so ruhig schlummernd am Halse hängt, eine fast väterliche Besorgtheit.

Vorsichtig steigt das Pferd, immer im selben steten Schritt dem wieder in den knospenden Wald eintauchenden Sträßchen folgend, die jenseitige Berglehne hinunter. Sein Herz aber schwillt von Dank für die ferne Geliebte; und wie er plötzlich finster ein Bauernhaus vor sich ragen sieht – gerade dort, wo die Straße den Buchenhain wieder verläßt – und er auf sein Pochen nach anfänglichem Zögern von den Leuten gastfreundlich empfangen wird, ist es ihm, als lege er das fortschlummernde Mädchen nicht der alten, runzeligen Bäuerin in die dürren Arme, sondern ihr, die ihn nicht nur glücklich, sondern auch gütig gemacht hat, an die liebende Brust. Die Frau reißt ungläubig die Augen auf, wie er zwar für das Mädchen ein Lager erbittet, für sich selber aber mit dem Heustock vorlieb zu nehmen erklärt; und der Bauer, der neben ihm neugierig die Laterne hochhielt, führt ihm sein treues Tier mit deutlichen Zeichen der Ehrerbietung in den Stall und läßt es an Pflege und Fütterung nicht fehlen.

Auf dem Heuboden sinkt Gerold in einen tiefen Schlaf. Wenn seine Liebe als eine Heimlichkeit auf ihm gelastet und ihn bisher wie eine Sünde verfolgt hatte: jetzt löst sich ihm aller Seelenkampf in dem Bewußtsein, daß er anfange, sie zu sühnen. Im Traum kniet er vor dem Pfühl, auf welchem er die einsam gewordene Herrin liegen weiß, und blickt mit der stummen Frage zu ihr auf, ob er es recht gemacht habe; und deutlich spürt er ihre Hand, die sich ihm auf das Haupt legt und, wie so oft, liebkosend über Schulter und Arm niedergleitet . . .

Aber es ist nur der Bauer, der nach Geheiß seinen Gast 69 aufweckt. Wie Gerold schlaftrunken die Augen öffnet, wirft ihm die Sonne ihre jungen Strahlen ins Antlitz. Er springt empor, erinnert sich an das Erlebte und fragt nach dem Mädchen –

»Das ist mit seinem Bündelchen schon vor zwei Stunden auf und davon gegangen. Es wolle dem vornehmen Herrn nicht länger zur Last fallen!«

 


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