Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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8. Die Mutter und die Kinder

Todmüde kehrt sie spät am Abend heim. Wieder hat man ihre Arbeit getadelt und ist mit dem Lohn knauserig gewesen; und daß ihre Leistungen so wenig wie ihre Kräfte zugenommen haben, das spürt sie selbst. Womit aber soll sie künftig ihre beiden Kinder ernähren, wenn sie schon heute statt mit Brot mit leeren Händen vor sie hintritt?

Sie ist wohl die letzte, die man zum Stadttor hinausläßt: wo andere für die Nacht den Schutz der Mauern aufsuchen, muß sie sie verlassen, um in der elenden Hütte da draußen 267 unterzukommen. Aber ist die nackte Armut nicht auch außerhalb des Mauerringes sicher? Ihrem traurigen Obdach gegenüber steht der zerfallene Turm, in welchem der alte Zauberer, der nach dem Gerede der Leute Gold und Menschen machen will, sein Wesen treibt. Eben jetzt wirft die Esse Qualm und Glutschein zur Mauerlücke hinaus . . . »Noch mehr Menschen machen willst du? – Fändest du besser das Mittel, daß weniger auf die Welt kommen!«

Sie wendet sich ab, steigt vor ihrem verlotterten Heim die drei zersprungenen Steinstufen hinauf und tritt geräuschlos in den Flur. Es wird ihr schwer, die hungrig fragenden Blicke der Kinder vor sich zu sehen; sie bleibt, die Hand schon auf der Türklinke, noch einen Augenblick wartend stehen: um Mut zu fassen; um eine Ausrede zu erfinden. Und sie hört Worte, Worte – und lauscht.

». . . Komm, wir wollen schlafen! Wir spüren weniger, wie es wehtut. Und morgen haben wir einen langen Weg.«

»»Ja, es ist das Beste. Wenn wir ins heilige Land ziehen, so geben uns fromme Leute zu essen. Und wir müssen nicht mehr unsere arme Mutter darum plagen.««

»Aber dann wollen wir recht für die Mutter beten! Sie hat auch immer so lieb mit uns und für uns gebetet . . . Jakob, es ist doch traurig, daß wir von der Mutter fort müssen.«

»»Was willst du? Es bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn sie nur nichts merkt, sonst sperrt sie uns ein; und morgen sollen doch die Kinder hier vorbeiziehen.««

»Ich wollte, daß ich des Nachts, wenn sie schläft, einmal aufwache. Dann könnte ich ihr noch einen Kuß geben . . . Weißt du, ich küsse meine Mutter so gern. Du nicht?«

»»Du bist ein ganz dummes kleines Mädchen! Wer das 268 Kreuz nehmen will, darf nicht immer der Mutter an der Schürze hangen. Und dann denk nur, was wir alles für wunderbare Dinge sehen werden . . . Elsbeth, weinst du?««

»Ich huste doch nur; ich habe mich verschluckt. – Und gelt, wir können ja unsere Mutter gleichwohl lieb haben? Gelt, du glaubst doch auch, daß sie nicht böse werden wird?«

»»Gehen wir nicht gerade deshalb fort, weil wir sie lieb haben? Dann muß sie weniger arbeiten und kann wieder einmal ausschlafen . . . Ich wollte nur, wir könnten ihr's sagen und noch sehen, wie sie sich freut!««

»Nein, nein, nicht! Sie würde uns sonst nicht fortlassen. Aber sie wird es dann schon merken, wenn wir nicht mehr da sind . . . Jetzt wollen wir beten! – Und dann sei du morgen mein guter, starker Bruder; und ich will dein tapferes Schwesterlein sein . . .«

Die Mutter vor der Türe hört, wie das Gebet, das sie einst selbst ihre Kinder lehrte, leise in die Nacht hineingesprochen wird; dann bleibt eine Weile alles still, bis an Stelle der verklungenen Worte die tiefen Atemzüge der Schlafenden sich bemerkbar machen. Da erst lösen sich ihr die Hände langsam von dem Herzen, das sie umkrampft gehalten haben: sie tritt, tränenlos erstarrt, in das niedrige, dumpfe Gemach ein, das Küche, Schlaf- und Wohnraum in einem ist, und setzt sich neben das Strohlager, auf welchem ihre beiden Kinder sich friedlich in Armen ruhen. Und sie schaut sie an im matten Dämmer der Mondhelle, die durch das enge Fenster hereindringt, küßt bald den zwölfjährigen Knaben, bald das zehnjährige Mädchen sanft auf die Stirn, und überdenkt ihr Schicksal.

Ihr Mann ist tot; ihre Kraft geht zu Ende. Ist es nicht wirklich das Beste, was die Kinder tun wollen? Zwischen Traum und 269 Wachen verbringt sie das letzte Mal mit ihnen die Nacht. Sie wollen von ihr gehen, weil sie sie lieben; und sie muß sie ziehen lassen, wenn sie sie liebt! Gibt es nicht einen Vater im Himmel; und auf Erden noch viele andere Mütter, die ihre heimlichen Leidschwestern sind? Erst wer in die Nacht der Not geraten ist, sieht die Sterne der Hoffnung blinken – für andere.

Das Haupt sinkt ihr sterbensmatt auf die Knie; vor ihrer Seele glänzt noch einmal die Zeit, wo sie jung und schön war und in Fröhlichkeit lebte. Wie hat es nur kommen können, daß niemand sich um sie kümmert? Sie weiß es nicht und findet auch keine Schuld bei sich: es ist jetzt eben einfach so. Sie schwieg, und man ließ sie hungern. Einst hatte auch sie eine Mutter und verließ sie, um ihrem Mann zu folgen; nun hat sie Kinder und darf sie nicht länger behalten.

Ein glühender Strom von Sehnsucht zieht durch ihre Seele; sie möchte die Last ihrer Qual nur ein einziges Mal in eine Freundeshand legen können. Aber an dem Tage, an dem dereinst ihr abgezehrter Leib vollends von ihr abfällt, wird einer zu ihr treten und gut mit ihr sein: er, der dort über den Kindern am Kreuze hängt. Und alle Finsternis wird sich in Licht und jede Träne in ein Lächeln verwandeln! Dieser Tag kann nicht mehr ferne sein.

Wie sie aus ihren Träumen endlich den Kopf hochhebt, steht eine leichte Morgenröte am Himmel. Sie muß wieder an ihre Arbeit gehen und darf nicht länger säumen; schon die harte Gewohnheit so vieler Jahre reißt sie mit sich fort. Sie kniet vor ihren noch immer fest und bleich schlummernden Kindern nieder und hebt ihre Hände über den beiden abgehärmten Gesichtchen zum Kruzifix empor –

»Nimm du sie! Du kannst besser für sie sorgen . . .« 270

 


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