Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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25. Die fünf Freundinnen

Die fünf Freundinnen schreiten hintereinander den tauigen Wiesenpfad hinab. Jede rafft mit der Linken das Gewand und hält in der Rechten die Reitgerte: halb sind sie auf der Flucht vor etwas, das ihre hochgezogenen Schultern hinter sich lassen; halb folgen sie mit glänzenden Augen und begierig geöffneten Lippen den Lockungen der Frühlingspracht, welche ihnen mit 105 sinnbetörendem Duft und Zauber entgegenleuchtet. In dem weichen, saftiggrünen Teppich des bunt durchblümten Grases stehen die Birnbäume wie schwül und lautlos brennende Kerzen des Lebens unter einem Himmel grauer, weichwolkig geballter Morgennebel; und zwischen ihren dunklen Stämmen wird das mattsilbrige Wasserband des unermüdlich fließenden Stromes sichtbar, das schweigend demselben Sonnenstrahl entgegenträumt, den das verhaltene, schüchtern-gläubige Flöten der Amseln verkünden möchte.

Jetzt sind hinter ihnen die Zinnen der Burg im weißen Blütenschaum untergetaucht. Aber sie wissen es nicht; denn sie schauen nicht zurück: sie folgen vielmehr in wonnig bebender Erwartung dem Fußweg, der nach dem Wäldchen führt, zu welchem die Knappen mit den Pferden vorausgeritten sind. Oder sollten sie die heimliche Abmachung nicht innegehalten haben? Liegen sie noch im Schloß, schlafen den gestrigen Freudentag aus und werden sich damit entschuldigen, daß sie alles nur für Scherz ansahen? Dann wären sie die Angeführten und dürften sich über die ungetreuen Knechte, wollen sie ihr Geheimnis wahren, nicht einmal beklagen!

Plötzlich bricht ein halblautes Gelächter das Schweigen; und des gegenseitigen Kicherns ist kein Ende. So äußert sich die Spannung ihrer jungen Seelen, die sich in dem Gedanken an das gemeinsame Abenteuer irgendwie auslösen muß: ähnlich wie die Saiten einer Harfe auch nicht nur unter der bewußt eingreifenden Menschenhand, sondern schon im Wehen des Windes leise Töne von sich geben. Und in der Tat fühlen sie sich von Möglichkeiten umwittert, die wohl eine Seele zum Klingen bringen können, und sehen sie voller Neugierde dem Lied entgegen, das das Leben auf ihnen spielen wird.

106 Wie doch die kleinen, zarten Mädchenfüße auf dem nicht breiten Pfad mutig federnd zwischen die Gräser hineintreten, kaum sichtbar unter dem langen Gewand, welches der um schlanke Hüften gelegte Gürtel zusammenhält! Die Blumen an den Borden, die ihnen ihre Tauperlen zuwerfen, wenn sie sich, von dem Kleidersaum gestreift, demütig verneigen, schauen jedesmal wie verwundert den sehnigen Knien nach, welche in regelmäßiger Wiederholung die vorne niederfließenden Tuchfalten durchbrechen. Menschenblüten wandeln vorbei, die Herzen von derselben holden Hoffnung und Ahnung geschwellt, die rein und süß aus allen Zweigen hervorquillt und unbekümmert den Sommer der Erfüllung herausfordert . . .

»Werden sie dort sein?« – »Sie werden es. Wenn ich zu meinem Knappen sagte: ›Raoul, wir reiten nach der Hölle!‹, er würde antworten: ›Herrin, wir reiten!‹« – »Du hast recht, Ellenor! Alle miteinander sind sie brave Bursche.«

Das vorderste der Mädchen wandelt mit leicht erhobener Stirne und mit jenem verlorenen Blicke dahin, den das leibliche Auge der vorausgeschwärmten Seele nachsendet; es bemerkt kaum, daß es mit dem Scheitel einen über den Weg hereinragenden Zweig berührte und von ihm ein paar weiße Blütenblättchen in das licht in den Nacken wallende Goldhaar eingestreut bekommen hat, andere aus dem grünen Gewand mit sich weiterträgt. Die Gespielinnen aber, auf welche der nachzitternde Baum einen holden Blütenblätterregen herniederwirbelt, knicken sich, wie an etwas erinnert, kleine Zweigstücke ab und versuchen, sie sich um die Schläfen zu legen. »Wie könnt ihr nur!« tadelt sie Ellenor, indem sie, durch ihr erneutes Gekicher aufmerksam geworden, über die Schulter zurückblickt. »Alle diese Blüten hätten Früchte getragen . . .«

107 »Du bist freilich auch ohne Kranz unsere Königin!« tönt von hinten eine schmeichelnde Stimme wie zur Entschuldigung. Und dieses Wort bleibt nicht nur Ellenor, sondern auch den übrigen Mädchen im Ohr haften: ja, sie soll ihre Königin sein, wenn sie nun nach dem heiligen Lande reiten! Aber immer noch wollen sie nicht recht glauben, daß das, was sie sich in einer übermütigen Stunde vorgenommen haben, mehr und mehr im Begriffe ist, atmende Wirklichkeit zu werden; und von Zeit zu Zeit erfährt ihre lüsterne Sehnsucht nach großen Erlebnissen, ob sie sich's eingestehen oder nicht, eine Dämpfung durch unbestimmte bängliche Gefühle.

Da sehen sie plötzlich, wie Ellenor, die ihnen vorauseilte, an der Waldecke stillesteht und stutzt: Die Knappen sind nicht da! Und nacheinander betreten sie den für die Zusammenkunft verabredeten Ort, schauen sich nach allen Seiten um und machen enttäuschte Gesichter – »Wir sind sicher zu früh, weil wir's kaum erwarten konnten!« tröstet Marceline die andern. Sie war es auch, die Ellenor so halb und halb zur Königin ausgerufen und damit in ihnen allen besondere Gedanken erweckt hatte.

»Ein Spiel! Ein Spiel, bis sie kommen!« kommandiert da die kleine Valerie, die sich keinen Augenblick langweilen will. »Du, Suzanne, weißt immer etwas Lustiges!«

»Nein, etwas Ernsthaftes soll es sein!« erklärt Suzanne, läßt aber dabei ihre Augen mutwillig und nicht ohne stille Bosheit in der Runde herumspazieren . . . »Freundinnen! Wo man uns immer von einem Manne spricht, so wollen wir doch erst einmal sehen, ob wir für den Mann taugen! Da sind Buchen, Birken, Föhren, Kiefern, Tannen; wähle sich jede einen Baum aus, denke sich, es sei der Herzliebste, und umarme 108 ihn als Braut. Die es am besten kann, soll unsere Königin sein!« Alle horchen auf. Also vielleicht doch nicht Ellenor? Aber schon fährt Suzanne fort: »Fang an, Marceline!« Und sie klatschen wie Kinder in die Hände: »Ja, Marceline soll anfangen!«

Marceline lächelt blond und scheu und wählt sich eine glatte Buche. Es ist ihr nicht wohl bei der Sache; aber sie will auch keine Spielverderberin sein: sie trippelt auf den hellen, grauen Stamm zu, hält sich mit beiden Händen an seinen breit ausgestreckten Ästen und küßt ihm, vorsichtig die Lippen spitzend, die Rinde. Dann schaut sie, zurücktretend, den Baum an und sagt: »Fürs erste mußt du schon damit zufrieden sein!«

Alle lachen ihr hellstes Jugendlachen. »Du bist kühl und spröde!« urteilt Suzanne mit Richtermiene. »Sieh doch! Etwas zutunlicher darf man schon sein.« Und sie schlingt den rechten Arm um eine schlanke Birke, legt ihr Haupt rücklings über einen der biegsamen Zweige, die Wange traulich dem weißen Stamm angeschmiegt, und bringt so den Baum und sich selber in ein lustvolles Wippen und Wiegen . . . »Genug! Genug!« rufen eifersüchtig die andern. »Das kann man ja gar nicht mit ansehen!« – »Du hast keine Leidenschaft!« bemerkt verächtlich die schwarzhaarige Valerie.

»Wenn ich lieben soll, so muß ich etwas in den Händen haben!« verkündet jetzt Germaine ohne viel Umstände und schreitet auf eine mächtige Föhre zu. – »Sie ist rauh und kratzt dich!« warnt Suzanne lachend. – »Um so besser!« gibt die Entbrannte zurück, schlägt die kräftigen Arme so innig um den herben Stamm, daß sie die zerfurchte Rinde auf ihren Brüsten fühlt, und reckt zugleich die vollen Lippen schenkend in die Höhe.

»Bravo, du kannst's wahrlich!« lobt sie schnippisch Marceline. – »Das ist alles nichts!« schreit da die dralle Valerie mit den 109 schlimmen Augen und dem roten Mündchen. »Seht, wie ich es machen würde!« Und sie wirbelt einer Tanne entgegen. – »Halt! Halt! Sie ist harzig! Du klebst!« werfen ihr die andern voll Übermut ihre Warnungen in den Weg. Aber da gibt es kein Zögern mehr.

»Was will ich denn sonst?« jauchzt Valerie und springt an der Tanne hinauf. Mit Armen und Beinen umklammert sie den in seinem Safte stehenden Stamm und reißt blitzschnell mit ihren weißen Zähnen ein Stück Rinde ab, welches sie, zurückkommend, im Triumphe zwischen ihren Lippen zeigt. – »Wie eine Kröte bist du gesprungen!« gibt Suzanne ihre Meinung ab und schießt ihr einen neidischen Blick zu . . . Da richten sich aller Augen auf Ellenor, die bisher gelassen dem Spiele beiwohnte. Fühlt sie sich etwa zu vornehm dazu?

Aber Ellenor läßt sich von niemand weder bitten noch aufmuntern. Noch eben hat sie vor sich hingeträumt, wie wenig ernst und feierlich ihre Freundinnen sich auf den Kreuzzug begeben, welcher ihr eine Herzensangelegenheit bedeutet: jetzt, wo die Reihe an ihr ist, schreitet sie ruhig, stolz erhobenen Hauptes auf eine kerzengerade, reichbetränte Kiefer zu und bleibt, mit geöffneten Armen Lippen, Brust und Leib darbietend, vor ihr stehen. »Die meinen nennen mich Königin – wenn du ein König bist, so nimm mich!« Und sie schließt, wie vor einem übermächtigen Schicksal, langsam und ergeben die Augen.

O, wie da die Freundinnen erstaunen und verstummen! Es ist, als ob wirklich alle mit Ellenor darauf warteten, was die erhabene Kiefer nun tun werde: Ob sie sich nicht am Ende in einen Königssohn verwandelt und Ellenors Worten mit stummer Tat entspricht? Wahrlich, Ellenor hat den Sieg davongetragen!

Da ertönt hoch aus den Ästen herab eine jubelnde 110 Jünglingsstimme: »Es lebe Ellenor, unsere Königin!« Und zwei-, drei-, vier-, fünffach wiederholt sich in den benachbarten Baumwipfeln der Ruf »Ellenor, unsere Königin« und stürzt die ahnungslosen Jungfrauen in kreischende Verwirrung. Die Knappen, die vor ihnen auf dem Platze waren, hatten als erste daran gedacht, den Ernst mit Scherz zu durchwirken, und ein jeder sich einen Baum ausgesucht, aus dessen Geäst er die Enttäuschung seiner reiselustigen Herrin zu genießen hoffte – und nun noch etwas soviel Schöneres mit ansehen durfte.

»Nicht fliehen!« gebietet in dem Durcheinander Ellenors hoheitsvolle Stimme. Sie allein hat sich, als wirkliche Königin, weder vor den eifersüchtigen Freundinnen, noch vor den verborgenen Knappen eine Blöße gegeben; und die Mädchen unterstellen sich willig ihrem Befehl, als könnte sich dadurch die Achtung, die ihr gezollt wird, auch auf sie, die Dienenden, zurückübertragen. Denn mögen sie sich immerhin äußerlich den Anschein geben, als ob nichts Besonderes vorgefallen wäre, so spricht doch das Rot ihrer Wangen, das nicht weichen will, eine andere Sprache und zeigt, wie sehr sie sich einer überlegenen Führung bedürftig fühlen.

Inzwischen sind die künftigen Ritter von den Bäumen herabgeklettert. Ein fröhliches Halloh erhebt sich bei der Entdeckung, daß sowohl Germaines als Valeries Knappe gerade auf der Föhre und der Tanne gesessen haben, welche die beiden Mädchen so ausgiebig umarmten. Aber schon ruft Ellenor dazwischen: »Ich will, daß ihr ruhig seid! Wenn ihr mich zu eurer Königin erhoben habt, so kommt euch vor allem Gehorsam zu. Versprecht mir, in Zukunft keine solchen Streiche mehr zu machen, sonst kehre ich auf der Stelle um! – Von dir, Raoul, hätte ich so etwas am allerwenigsten erwartet . . .«

111 Beschämt stehen die Jünglinge da und geloben im Stillen, daß Ellenor wirklich ihre Königin sein soll. Dann führen sie ihre Herrinnen zu den unweit in einer versteckten Mulde angebundenen Pferden und heben sie mit dem schweigenden Ernste ergebener Dienstbarkeit in den Sattel. Während sie die Mädchen kurz in ihren Armen halten und diese sich von ihren Armen umfangen fühlen, ahnen sie alle mit blitzartiger Hellsichtigkeit, wessen sie sich eigentlich erdreisten; aber trotzdem bleiben sie dem einmal gefaßten Entschlusse treu und wagt sich kein Wort des Zweifels über ihre Lippen.

»Du, Raoul, bist fortan nicht mehr mein Knappe, Florian nicht mehr der Marcelines, Severin nicht mehr der Suzannes, Gaston nicht mehr der Germaines, Bernard nicht mehr der Valeries,« entscheidet Ellenor hoch vom Sattel herab; »sondern ihr seid jetzt alle zusammen, ohne Unterschied, meine Ritter!« – »Dann werden wir wohl deine Zofen sein müssen, erlauchteste Königin!« flötet Marceline; aber niemand gibt ihr eine Antwort darauf. Bedarf das Selbstverständliche noch langer Bestätigungen?

Ellenor mit Raoul an der Spitze, so reiten sie, gleich einem Märchen voll leuchtender Schönheit, in den steigenden Nebel, in die durchbrechende Sonne hinein. Wie Ellenor bei einer Biegung des Weges zum letztenmal durch den weißen Blust einen Blick nach der Burg zurückwirft, wo ihre gastfreundlichen Eltern die Aufregungen des Vortages ausschlafen, kann sie sich eines leisen Angstgefühles nicht erwehren; und auch die andern Mädchen werden, nun sich ihr keckes Unternehmen in nicht mehr zu leugnende Tat umsetzt, von einer wachsenden Furcht befallen, zu deren Überwindung sie all ihren Mut aufbieten müssen. Sollte sie daher rühren, daß sie sich eingestehen, über 112 der Sehnsucht nach dem Heiligen Land das heilige Land ihrer Jungfräulichkeit etwas zu wenig bewacht und sogar die Geheimnisse einer seiner wichtigsten Provinzen verraten zu haben?

Durch die Köpfe der Knappen aber geistert die Erinnerung an einen Kreuzzug, den einst die Ritter ins Werk setzten und von welchem jetzt noch die Rede geht. Das war, als König Ludwig, der Siebente seines Namens, nach Jerusalem auszog, wobei sich seine wunderschöne Frau, die Königin Ellenor, so unfromm benahm, daß er sich nach seiner Rückkehr von ihr scheiden ließ. Sie aber heiratete alsbald den jungen König von England und nahm die Sehnsuchtsträume aller französischen Jünglinge mit sich übers Meer . . .

Bernard, welcher zuhinterst durch das blühende Gefilde reitet, spitzt die Lippen und pfeift, um Valerie zu ärgern, wie von ungefähr die Melodie vor sich hin, zu der sie alle die Worte kennen:

»Und wären Erd' und Himmel mein,
Vom Meer bis an den grünen Rhein,
Ich wollte gern verarmen,
Läg' Englands holde Herrscherin,
Läg' Ellenor die Königin
Heut Nacht in meinen Armen!«

 


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