Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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3. Im Lande der Heiden

»Land! – Land!«

Wieder dürfen die jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen aus ihrem schauerlichen Sandgrab im Bauche des Schiffes durch die Luken auf Deck klettern und die morgenfrisch salzige Meeresluft einatmen. Wie oft haben Tag und Nacht schon gewechselt, seit sie in jenem fürchterlichen Sturmwetter elend umzukommen 254 glaubten? Sie wissen es nicht mehr. Gewohnt ist ihnen schon der Anblick des Schiffes geworden, das bei ausgebrochenem Hauptmast nur noch mit kleinem Vorder- und Hintersegel auf dem längst wieder beruhigten dunkelblauen Wasser dahinschaukelt, das jetzt in kleinen, klaren Wellen den schweren Holzrumpf umhüpft; und in stumpfer Hoffnungslosigkeit staunen sie dem niedrigen, hell schimmernden Küstenstreifen entgegen, dem der Ruf aus dem Ausguck galt und der die Schiffsknechte in eine närrische Freude versetzt.

»Kommen wir nun nach Jerusalem?« fragt ein jüngeres Mädchen. Aber die ältern schweigen und starren mit leidgewohnten Lippen und tränenlosen Augen bald über das Meer zurück, auf dem nach jener Sturmnacht von den übrigen Schiffen keines mehr sichtbar wurde, bald geradeaus nach vorn, wo immer deutlicher eine Stadt mit vielen ineinander-, durcheinander-, übereinandergebauten weißen Häusern sich in der glatten Flut spiegelt: die Häuser haben alle wie Würfel oben flache Dächer, die sich gegeneinander stufenartig absetzen; und nur da und dort steigt eine runde Kuppel oder ein spitzes Türmchen über sie empor. Wem gehört diese Stadt? Sicher scheint allein zu sein, daß sie sich dem Lande der Heiden nähern; denn wie sie jetzt in den Hafen einfahren, kommen ihnen Kähne voll von braunen Kerlen entgegengefahren, die mit den Galeoten schwatzen und kreischen und das Schiff umringen, bis es am Damm anlegt.

Aus dem Kastell, wo die beiden andern Mädchen trostlos weinend dasitzen und die alte Mohrin vergebens unverständliche Worte auf sie einspricht, wirft Ellenor durch das kleine Fenster stummgefaßt einen Blick auf das bunte Markttreiben am Hafen. In einiger Entfernung stehen viele halbnackte braune Menschen in Reih und Glied da; und große, ernste Männer in weißem 255 Turban und Burnus betrachten sie, betasten sie und bieten mit Fingerzeichen dem Händler, der zwischen ihnen hin und her läuft, ihren Preis: kein Zweifel, sie werden verkauft! Noch weiter zurück, vor den weißen Häusern, warten gelassen ungeheuerliche schmutziggelbe Höckertiere mit weit vorgreifendem Hals und abgeflacht hingestrecktem, schlau-ergeben blinzelndem Kopf, stumme Wahrzeichen einer andern Welt.

Jetzt treiben die Galeoten unter Leitung des Steuermanns die Jünglinge und Knaben über die schmale Stegbrücke ans Land. Wie manches der zurückbleibenden Mädchen schreit verzweifelt auf! Aber das geschwungene Tau bricht jeden Widerstand. Läuft dort nicht Stephan in der Schar? Immer wieder blickt er zurück: er sieht Ellenor nicht; sie nur sieht ihn. Trotzdem wissen sie beide, daß sie sich niemehr zu einander finden werden. Er verschwindet in dem Gewühl mit all den andern, die nach jener entfernten Stelle des großen Platzes geführt werden. Das letzte Band ist zerrissen.

Was wird nun mit den Mädchen geschehen? Aber da steigen schon die ersten ans Land und werden unweit vom Schiff aufgestellt; und bereits sieht Ellenor, wie weißgewandete Männer, und auch Frauen, zu ihnen treten und sie mustern: auch sie werden also verschachert werden! Und jetzt öffnet Meister Ferreus freundlich grinsend die Türe des Kastells; und die alte Mohrin, die Ellenor und den beiden andern Mädchen, nachdem sie sie ausgekleidet hatte, nur ein weißes, weiches Tuch über den Kopf und um den nackten Leib warf, winkt ihnen mit lachenden Augen zu folgen.

Das alsbald neu anhebende Geweine ihrer Schicksalsgenossinnen gibt Ellenor alle ihre Fassung wieder. Sie hatte sich vermessen, eine Königin zu sein: so will sie sich auch jetzt, wie 256 schon so oft bisher, als solche bewähren! Sie rafft den losen Überwurf fest zusammen, tritt zum erstenmal seit Tagen auf das Verdeck, in Sonne und Luft hinaus, und folgt stumm und widerstandslos allen Winken und Befehlen, in dem sicheren Gefühl, daß sich Würde auch im Gehorchen zeigen kann. Ja, auf dem Grunde ihrer Seele keimt sogar die tiefe Neugier, was das Leben noch alles mit ihr vorhabe; und daneben beinahe ein Gefühl der Erleichterung, daß sie sich um ihr Schicksal, das sie nicht mehr ändern kann, auch nicht mehr zu kümmern braucht.

Wie sie, von Meister Ferreus selbst geführt, den harten Hafendamm betritt, geht es wie ein Ruck und Schwindel durch ihren Leib: die Erde bietet ihrem Fuß festen Widerstand; und nun ist es, als ob das endlose Schwanken, das noch von der langen Meerfahrt in ihrem Gefühl andauert, sie von innen heraus zum Wanken bringen wolle. Sie spürt, wie auf der andern Seite die Mohrin sie stützt; und nach einigen Schritten, mit denen sie die Herrschaft über ihre Bewegungen zurückerlangt, erkennt sie sich im Kreise vieler weiß vermummter Männer. Und neben ihr tönt jetzt die kreischende Stimme des Patrons, welcher – sie fühlt es nur; versteht es nicht – ihre Schönheit anpreist.

Plötzlich tritt aus der Schar der Käufer ein Mächtiger hervor. Sie erkennt zwischen den wallenden Tüchern das dunkle Gesicht mit dem schwarzen, von vereinzelten Silberfäden durchzogenen Vollbart und den heiß leuchtenden Augen; und in dem Gürtel steckt, wie ein Zeichen seiner Gewalt, der reichverzierte Handgriff eines Dolches. Er spricht ein paar tiefe Worte: und schon fühlt sie sich von hinten das schützende Tuch weggezogen, ohne daß sie es hindern könnte, und empfindet, indem sie ihre Augen unter den Blicken des fremden Mannes schließt, wohlig das warme Sonnenlicht an ihrem nackten Leib, während das 257 laute Schwatzen um sie her immer mehr verstummt, so daß sie ganz deutlich in ihrem Rücken das Anklatschen des Meeres an den Damm hört und dabei in der süß und kühl sie umwehenden Luft den Geruch von Orangenblüten wittert.

Sie steht wie in Nacht und Traum da. Sie hat ganz vergessen, daß sie sich schämen sollte, und hebt nur in demütiger Erwartung ihre beiden Hände: in den Hauch des Meeres mischt sich der trockene Atem einer neuen Erde, von welcher sie noch kein Bild hat, aber auf wunderbare Weise die Ahnung einer wilden Größe und Freiheit zugetragen erhält. Neben ihr spricht die verhaßte Stimme des Meisters Ferreus noch einmal ein paar Worte; und dann legt sich eine Hand sanft und stark auf ihren Scheitel, gleitet ihr über das gelöste Haar in den Nacken und umfaßt ihre Schulter – und wie sie aufschaut, blickt sie in das dunkle, bärtige Antlitz des Scheichs, der sie ohne zu feilschen gekauft hat und ihr mit einem wortlosen Lächeln zunickt.

Was soll sie tun? Sie tut, was sie nie gedacht hätte, daß sie es tun würde: sie sinkt in die Knie und umfängt das Gewand ihres nunmehrigen Gebieters, in dessen Macht und Schutz sie sich plötzlich gerettet fühlt. Er aber richtet sie gütig auf; und schon stehen braune Sklaven vor ihr und legen ihr köstlich duftende Gewänder und Schleier um; und jetzt hebt sie der eine von ihnen wie ein Kind auf seine Arme und trägt sie nach hinten zu den Kamelen. Fast entfährt ihr ein Angstschrei; aber zurückblickend sieht sie, wie der dunkle Scheich langsam und würdevoll ihr nachfolgt, während links und rechts alles ihnen schweigend zuschaut – und flüchtig fällt ihr am Hafendamm noch das Bild der vielen andern Kreuzfahrerinnen ins Auge, die in ihren alten, zerrissenen und schmutzigen Kleidern 258 verschüchtert sich aneinanderdrängen und ihrer noch ungewissen Zukunft entgegenstarren.

Kaum hat Ellenor begriffen, wie sie auf der Kamelsänfte Platz zu nehmen hat, so steht der Scheich neben ihr und faßt mit einem besorgt ausschauenden Blick ihre linke Hand. Das Tier beginnt langsam auszuschreiten; und zwischen den weißen Häuserreihen hindurch begleitet ihr Herr sie zu Fuß und hält und stützt sie, als wäre er nicht ihr Herr, sondern der Diener einer Königin, die Anspruch auf jede Ehrung erheben darf. Und wann, seit sie die heimatliche Burg verließ, hat sie sich so als Königin fühlen können, wie hier unter diesen Heiden, welche zu bekämpfen sie ausgezogen waren und die sie jetzt über ihren Gesichtsschleier hinweg so voll ruhiger Würde vor ihren Türen sitzen oder durch die Straßen wandeln sieht?

Aber ist es die Fülle des in kürzester Zeit innerlich Erlebten oder die äußere Erfahrung des eigentümlichen Schwankens auf dem Kamelrücken nach dem tagelangen Schaukeln auf dem Meere, verbunden mit der wachsenden Sonnenhitze: die weißen Häuser vor ihren Augen zerrinnen ihr mehr und mehr in ein einziges Flimmern, in welchem sie hilflos versinkt, während sie aus immer größerer Ferne eine dunkle, weiche, gütige Stimme auf sich einreden hört, bis auch dieses letzte Zeichen der Außenwelt verblaßt. Wie sie wieder erwacht, erkennt sie über sich das besorgte dunkelbärtige Gesicht des Mannes, in welchem sie ihren Retter sieht, und bemerkt, wie es eben von einem Strahl tiefer Freude durchleuchtet wird; und an ihm vorbei nimmt sie die grünen Wedel hochstämmiger Palmen wahr, in deren spärlichem Schatten sie im Grase ruht, während hinter ihm, in der Richtung, in welcher ein Quell aufsprudelt, die weißen Häuser der Stadt liegen. Aber schon knien braune Sklaven mit Schalen 259 voll unbekannter Früchte vor ihr nieder; und ihr Beschützer ermuntert sie zum Essen und spricht wieder mit seiner dunklen, gütigen Stimme auf sie ein.

Sie ißt; und sie glaubt, nach den gräßlichen Mahlzeiten auf dem Schiffe, Speise des Paradieses zu kosten. Sie blickt um sich und sieht unweit zahlreiche Kamele im Schatten kauern und um sie herum weiße Gestalten beschäftigt, die sie mit Lasten beladen; und sie hört den mächtigen Mann, der sie zu sich genommen hat, unablässig leise auf sie einreden, ohne daß sie ein einziges seiner Worte verstünde. Einmal als Kind nannte sie eine weiße Taube ihr eigen, die ihr zutraulich auf die Hand geflogen kam und der sie auch allerlei Geschichten erzählte, die sie nicht verstehen konnte, aber doch unter beständigem Nicken über sich ergehen ließ: nun ist sie selber die Taube in der Hand eines Gewaltigen und versteht nicht, sondern fühlt nur, daß eine väterliche Besorgtheit sie umgibt und sich ihr offenbaren möchte, um ihr ein sorglos-glückliches Lächeln zu entlocken.

Wie lange hat sie hier gelegen? Sie weiß es nicht; sie sieht nur, daß die Sonne schon tief steht. Und jetzt ist sie so weit gekräftigt, daß sie aufstehen und sich wieder auf ihr Kamel setzen kann, das willig vor ihr niederkniet und erst, wie sie in der Sänfte ruht, langsam sich auf seinen hohen Beinen emporrichtet; und gleichzeitig sieht sie auch die andern Tiere der Karawane, zum Teil schwer bepackt, aufstehen und nach alter Gewohnheit eine lange Reihe bilden. Mit ihrem Beschützer, der zu ihrer Linken reitet, befindet sie sich in der Mitte des Zuges; sie bewegen sich, die sinkende Sonne blutigrot im Rücken, in die abendliche Wüste hinein, in deren gelbem Sand die mächtig ausschreitenden Tiere wie durch weiches Mehl waten. Und dann kommt die Nacht: der grünlichbleiche Himmel wird immer dunkler; und 260 zuletzt glitzern in seiner graublauen Klarheit, mit jeder Stunde zahlreicher und heller, die ewigen Sterne.

Es ist ein Traum. Wohin? Nicht fragen. Was mag aus Stephan geworden sein? Rätsel, Rätsel. Sie entsinnt sich auf einmal jener Nacht im Zelt, als er wie ein Verzweifelter sich auf sie stürzte, dann sich in eine Ecke vergrub und zuletzt – sie hörte es wohl! – ins Freie hinausschlich. Hier ist eine andere Nacht; ein anderer Himmel. Sie überschaut die lange Reihe von Kamelen, welche im Mondlicht vor ihr herziehen; und fürchtet sich nicht. Sie betrachtet immer häufiger den mächtigen Mann, der würdevoll neben ihr auf seinem Tiere sitzt und ihr kein Worte mehr, sondern ebenfalls nur noch Blicke zusendet; und sie fürchtet sich nicht.

Was sie erlebt hat, seit die Sonne zum letztenmal aufging, ist zu wunderbar, zu sehr all ihren überlieferten Vorstellungen widersprechend, als daß nicht ihr Wesen sich wirklich in Gottes Hand und allem Neuen, Unerwarteten gegenüber sich in williger Bereitschaft geöffnet fühlte. Daß sie nicht die Gestade des heiligen Landes betreten haben, scheint ihr sicher zu sein – aber kann nicht überall dort heiliges Land sein, wo ein Mensch an seinem Leibe, in seiner Seele das unbegreifliche Walten einer höheren Macht erfährt?

Ellenor staunt in die unermeßliche Ferne der Wüste und des Weltalls hinein und ahnt zum erstenmal, daß der Herr, der alle Dinge lenkt, nicht nur nicht in Jerusalem begraben liegt, sondern überhaupt nie begraben wurde . . . 261

 


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