Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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15. Fata Morgana

Gedränge in den Bazars der Heidenstadt.

Weißvermummte Gestalten schieben sich unter den Arkaden an den Händlern vorüber, die mit untergeschlagenen Beinen dasitzen und ihre berauschenden Wohlgerüche, ihre farbigleuchtenden Schleier und Schärpen feilbieten. Oder sie bleiben bei den Melonen und Bananenverkäufern stehen und wählen sich feilschend die schönsten Früchte aus.

Dabei schauen aus den weißen Kopftüchern nicht nur die halbverhüllten Gesichter der vornehmen Mohrinnen, sondern neben und hinter ihnen oft auch die unverdeckten hellen ihrer Christensklaven und -sklavinnen. Diese stecken in ihrer Gewandung wie in einem Kerker; und nur ihre stummen Blicke künden von ihrer Sehnsucht, die Freiheit des Leibes wie der Seele wieder zu erlangen.

»Also heute Nacht beim Brunnen der Kamele . . .«

Sieht Paul mit seinem sonnverbrannten dicken Kopf nicht fast wie ein junger Mohr aus? Grell leuchtet das Weiß seines Tuches auf dem Blau des Himmels. 316

»Gott möge uns beistehen . . .«

Wahrhaftig, Antonies Augen haben so dunkel und heiß blicken gelernt, wie die der Töchter des Landes! Und immer noch sind ihre Lippen schwellend rot.

Und weiter wogt das Geschiebe von Menschen, das Hin und Her des Marktes. Nur von ferne gewahren sich, zwischen vielen Unbekannten, Peter und Cäcilie und nicken sich verstohlen aus ihrer Maskerade heraus zu. Aber alles ist schon seit langem verabredet und vorbereitet: ihnen genügt der unauffällige Gruß als Bestätigung.

Wie hatte man sie, kaum waren sie gelandet, auf dem Sklavenmarkt auseinandergerissen und dem oder der Meistbietenden verkauft! Ein Glück, daß die meisten in der Stadt selbst ein Unterkommen fanden und sich bald einmal in den Straßen begegneten und wiedererkannten! Jetzt wollen sie quer durch die Wüste nach dem nächsten kleineren Hafen fliehen und sich dort nach einem Schiff umtun, das sie wieder übers Meer zurück tragen soll . . .

»Mein Herr hatte, glaube ich, fast Lust, mit mir eine Art Neben-Harem zu eröffnen! Aber ich gehöre zu dir . . .« Dieses Wort, das Cäcilie ihm bei ihrem ersten Wiedersehen zuraunte, wiederholt sich Peter in einem fort während der langsam dahinschleichenden Nachmittagsstunden. Wie lange schon sehnt er sich nach ihrer blonden Liebe! Wie sehr haben sich Scherz und Übermut in Treue verwandelt!

»Wenn du wüßtest, wie mir diese Mohrenweiber nachstreichen! Aber kann eine heißer und süßer sein als du?! . . .« So flüsterte Paul einst im Vorbeigehen Antonien zu, als sie wie ein richtiges junges Heidenkind ein großes Büschel Bananen auf dem Kopfe nach Hause trug. Und jetzt steht sie in der Küche, 317 sieht an den weißen Mauerwänden über der Straße das Gold der sinkenden Sonne erbleichen und denkt daran, daß sie ihm bald wieder wie ehedem heiß und süß sein will! Fast ein Jahr haben sie ausharren müssen, bis sich ihnen die Möglichkeit der Flucht eröffnete; und das bedeutet für die Liebe zweier junger Menschen beinahe die Ewigkeit, auf die sie zu schwören pflegen.

Nun taucht das weiße Häusergewirr der Stadt allmählich in rosige, sterndurchfunkelte Dämmerung; und bald schwimmt die Sichel des Mondes allein in der blauen Nacht. Der letzte Wasserträger hat sich für diesen Tag heiser geschrien und geht zur Ruhe; keine Schritte mehr hallen, sondern nur noch die Düfte von Orangen- und Zitronenblüten wallen durch die mauerbleichen Gassen und Gäßchen. Da treten bald hier, bald dort lautlose Gestalten aus verborgenen Gärten und Gittern, schleichen und huschen unter Bogengängen durch und um Vorsprünge herum, von einem Schattendunkel ins andere Schattendunkel, und bewegen sich so bis hinaus vor das große Tor, wo die Wächter den Friedensschlaf schlafen und wo der Kamelbrunnen steht, am Ende der Oase.

Sie finden sich alle im Mondschatten der hohen Stadtmauer, unweit der großen Zysterne, eins nach dem andern zusammen; und sie fallen sich in die Arme, herzen und küssen sich schweigend: Paul und Antonie, Peter und Cäcilie; und noch viele andere, die ihre Liebe nicht vergessen haben. Bis die letzten zur Stelle sind, ersättigen sich die bereits angelangten Paare in halblauten Reden und sprachlosen Umarmungen, schauen, an die Mauer angelehnt, aus dem Schatten in das silbern erhellte Weltall hinein und denken bei sich selber, daß sie für ihre Liebe noch ein langes Leben vor sich haben. Endlich 318 ist auch der Mohrenknabe zur Stelle, welcher ihnen den Weg zu zeigen versprochen hat, auf dem sie ein ganzes, großes Vorgebirge abschneiden und so in einem einzigen Tagesmarsch das Meer wieder erreichen können.

Und jetzt wandern sie alle miteinander in die Sandwüste hinaus, die ihnen ihren kühlen, trockenen Hauch entgegensendet. Der Himmel leuchtet so klar, daß es ist, als schritten sie in ein weithin verstäubtes Sternenmeer hinein. Was ist oben und was unten in dieser Welt? Bald einmal quält sie nicht mehr die Furcht vor Verfolgung, sondern ein seltsames Schwindelgefühl: sie schwanken und stolpern durch den mehlfeinen Sand, der mit andauernder Tücke unter ihren Füßen auseinanderweicht und sie dermaßen ermüdet, daß sie nach Ablauf einiger Stunden alle zu einem Häuflein niedersinken, um den Tag mit seiner Sonne abzuwarten, deren nahen Aufgang die Röte des Ostens verkündet. Ja, man sollte eben doch Kamele haben!

»Wenn nur Stephan mitgekommen wäre! Er könnte uns sicher auch hier weiterhelfen!« redet plötzlich und laut eine Stimme in das Schweigen der Wüste hinein. »Aber der will schon garnicht mehr daran erinnert sein, daß er einmal unser König war! Er hat allen Mut verloren und trägt im Hafen mit einer Miene seine Lasten aufs Schiff, als wollte er Buße tun! Oder trauert er etwa der Königin Ellenor nach, von der wir alle miteinander nicht wissen, wo sie hingekommen ist?«

Da schiebt sich der Sonnenball – wie ein blutunterlaufenes blinzelndes Auge, das sich nur allmählich öffnet und sich gleich wieder mit trüben Schleiern bedeckt – am fernen Horizonte in die endlose, trostlose Erdenwelt herein. Der Mohrenknabe wirft sich auf die Knie, berührt mit der Stirne den Boden und verrichtet sein gläubiges Gebet: wie er sich aber wieder erhebt und die eigentümliche Färbung der Sonne sieht, drängt er mit ängstlichem Gesicht zum Aufbruch; und es ist ihnen, als ob er in dem mühsamen Sande noch schneller dahinstapfte als während der Nacht, so daß sie ihm noch weniger folgen können. Schon mehr unter dem Zwange der Lage als frohen Mutes und aus freiem Willen laufen sie paarweise hinter ihm drein und fangen allgemach an, seine Führereigenschaften zu bezweifeln.

»Er hat eben doch Angst, daß man uns verfolge und einhole!« sagt Antonie verdrießlich zu Paul. »Aber bis sie merken, daß wir alle zusammen fehlen und auf den Gedanken kommen, wir möchten geflohen sein, wird es Abend und sind wir längst wieder am Meer. Auch können sie hier in der Wüste, wo der Sand nach jedem Schritte durcheinanderrinnt, keine Spuren von uns finden . . .«

So wandern sie und wandern. Längst hat sich die Sonne von der weiten Sandfläche, die nur da und dort felsige Erhöhungen durchziehen, dem Zenith entgegengehoben; und schon schießen ihre Strahlen so heiß hernieder, daß sie alle das Haupt in ihre weißen Tücher einhüllen und schweigend sich durch die über dem Sande flimmernde Glut dahinbewegen. Der kleine braune Führer aber schaut immer wieder furchtsam in derselben Richtung aus: dort zeigt das Blau des Firmamentes eine so eigentümlich dunstige Färbung, als ob die Wüste einen gelben Schein in den Himmel emporwürfe.

»Wir gehen in falscher Richtung!« ruft plötzlich Cäcilie. »Seht, dort drüben ist ja die Stadt!«

Und da stehen sie denn, alle starr vor Verwunderung, und gewahren zu ihrer Rechten, in einer Entfernung, die kaum einige Stunden betragen kann, viele weiße Häuser, mit spitzen 320 Minarettürmchen und runden Moscheenkuppeln darunter, umfächert von hohen Palmenhainen und umronnen wie von einem blauen Meer, dessen spiegelnde Fläche sie deutlich zu erblicken glauben.

»Mich dünkt, der braune Halunke hier will uns in die Irre führen!« schreit Peter heiser. »Vorwärts! Jetzt werden wir selber und besser den Weg finden!«

Und er schwenkt auf das in glühenden Farben prangende Bild der Stadt zu, wo ihnen die Rettung winkt; und alle die Knaben und Mädchen folgen ihm mit freudigen Rufen, nur noch vom Wunsche und von der Hoffnung beseelt, möglichst bald dem glühenden Sandmeer zu entrinnen. Ja, einige von ihnen sind von der unvermuteten Erscheinung dermaßen überwältigt, daß ihnen der Gedanke durch den Kopf fährt, ob sie nicht am Ende die heilige Stadt selber vor sich haben. Und schon flackert das Wort »Jerusalem!« über die Reihen der wie in eigener Fieberhitze dahinschwankenden Kinder.

Da gebärdet sich der kleine Mohrenknabe immer mehr wie von Sinnen. Er fuchtelt mit den Armen und schreit ihnen einen Schwall unverständlicher Worte des Entsetzens entgegen; er packt sie an ihren Gewändern gleich einem treuen Hund und versucht, sie in die alte Wegrichtung zurückzuzerren. Sie aber stoßen ihn von sich und lassen sich durch seine Beschwörungen nicht davon abbringen, voller Zuversicht dem lockenden Luftgebilde entgegenzuschreiten, das sie als solches nicht erkennen.

»Mach, daß du fortkommst!« schreit Paul und hebt drohend die Faust. »Du willst uns in die Wüste hineinlocken, daß wir elend in ihr zugrunde gehen! Aber es soll dir nicht gelingen . . . – Seht, wie er davonläuft, der Schuft!«

Und mit einem bösen Gelächter wenden sich alle nach dem 321 armen Mohrenknaben um, der plötzlich einsieht, daß ihnen nicht zu helfen ist, und wie einer, der um sein Leben rennt, dorthin zurückeilt, wo sie hergekommen sind.

Sie schreiten weiter durch den tiefen, heißen Sand, in dem flimmernden Sonnenbrande des Nachmittags, der Stadt entgegen, die sie in der Ferne sehen. Ein trockener, lodernder Wind weht allmählich daher, der jeden Schweißtropfen auffängt, ihre Kehlen ausdörrt, ihre Augenlider entzündet; und immer mehr gerät der Sand vor ihnen in eine leise singende Bewegung und hebt sich zeitweise in leichten Staubwölkchen empor, so daß sie sich tiefer und tiefer in ihre Gewänder einmummen und gesenkten Hauptes durch die tödliche Schwüle ihrem sichern Ziel entgegenstreben.

Plötzlich verliert die Sonne ihre Kraft; und wie sie aus ihrem Traumwandel aufschauen, gewahren sie, daß ihre strahlenlose Scheibe anfängt, hinter einem gelben Dunstschleier zurückzutreten.

»Wo ist die Stadt?« ruft Antonie entsetzt.

Und alle bemerken, daß die weißen Häuser und grünen Palmen, denen sie sich noch eben so nahe geglaubt hatten, nirgends mehr zu finden sind.

An ihrer Stelle rollen hohe, dunkle Sandwolken daher, in denen die Sonne immer mehr verdüstert wird und zuletzt gänzlich auslöscht. Und gleichzeitig umwirbelt sie der Sturm: die toll durcheinanderstiebenden Sandkörner stechen sie in den Augen, knirschen zwischen ihren Zähnen, dringen ihnen erstickend durch die Nase ein, so daß sie husten müssen und während des Hustens erst recht den Mund vollgeweht bekommen. Geblendet von einer roten Glut, drängen sie sich eng aneinander, sich gegenseitig Schirm zu geben, und sinken zuletzt, ein kleines 322 Trüpplein verängstigter junger Menschen, zu Boden, immer krampfhafter sich in ihre Gewänder einhüllend und nur noch mit dem vergeblichen Kampf gegen den Sand beschäftigt.

Der Samum weht!

Sie sehen nichts mehr. Ist das die Hand Antoniens, die Paul hält? Und das der Arm Cäciliens, der sich zitternd und zuckend um Peters Rücken legt? Der Sand, der bisher sang, kreischt jetzt, rauscht auf, tobt; und wenn sie auch in dem wachsenden Geheul des Sturmes bald einmal nichts mehr hören, so spüren sie doch dunkel, wie unter dem unablässig schnaubenden Gluthauch ein feines rieselndes Mehl in heißen, drängenden Wellen an ihre Körper heranflutet, über sie hinwegschlägt. Und sie haben als letztes das Gefühl, daß sie langsam von ihm zugedeckt werden und sich, Nacht um sich, Nacht in sich, auch dagegen nicht wehren können . . .

 


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