Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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23. Circe

Eustachius rennt immer noch durch den eindämmernden Wald.

Die Todesangst, die in seiner Seele wirbelt und ihm den Blick auch von innen heraus verdunkelt, läßt seine fliehenden Glieder, fühllos gegen peitschende Zweige und ritzende Dornen, durch immer neues Dickicht hindurchbrechen. Er sieht sich nicht um, ob Alix ihm folge; aber er trägt das Bild der mit ihm Fliehenden in der Seele.

Plötzlich tönt Hundegebell. Er fühlt sich gepackt, zu Boden gerissen; fremde Rufe und Pfiffe gellen dazwischen: und schon zerren ihn Männerfäuste wieder in die Höhe und auf die Füße. Selber atemlos keuchend, fühlt er die schnaubenden Nüstern eines Pferdes vor sich, von dem herab ihn durch das fahle Zwielicht eine schwarzlockige Frau anlacht.

»Ein Ketzer?«

»Er trägt das Kreuz, Herrin! Es ist einer von den jungen Narren, die nach dem heiligen Lande ziehen wollen.«

Der Mann mit dem Jagdspeer in der Hand hat die zähnefletschenden Hunde an die Koppel genommen. Eustachius sieht sich um: Alix ist verschwunden, verloren gegangen; allein steht er in dem Halbkreise da, den der Jagdmeister und die Treiber um das reich gezäumte Roß herum bilden. Kehren sie von der Jagd auf Tiere oder auf Menschen zurück? Ist er den Verfolgern in die Hände gelaufen?

»Ich habe dir das Leben gerettet!« spricht die stolze Amazone 115 von ihrem sicheren Sattel herab. »Ich will dir auch für ein Nachtlager sorgen . . . Führe mein Pferd!«

Willen- und widerspruchslos ergreift Eustachius die Zügel, noch ganz vom Rausche seines tobenden Blutes befangen. Der Jagdmeister schreitet ihm voraus, einen steilen Bergrücken hinan und auf so schlechtem Wege, daß es wohl nottut, das lebhafte Tier gut in der Hand zu haben. Aber warum muß gerade er das tun, der noch ganz kraftlos ist von seiner Flucht und hier keinen Tritt kennt? Er hat bald einmal das Gefühl, als sitze die Reiterin nicht in ihrem Sattel, sondern ihm im Nacken und würde sich freuen, wenn er nicht nur gebückt dahinzöge, um die ihm fremde Bodengestaltung zu erkennen und die Zurufe des Jagdmeisters zu begreifen, sondern wenn er vollends hinstürzte und am Wege liegen bliebe. Dazu hört er, wie die mit den schnaubenden Hunden hinten nachfolgenden Treiber husten und lachen, weil sie sich offenbar über sein Los nicht weniger Gedanken machen als er selber.

Während er heftig atmend sich bergauf tastet in der zunehmenden Dunkelheit, ist es ihm immer mehr, als ob er träume und selber in seinem Traum die Hauptrolle spiele. Dazwischenhinein aber sucht er mit Anstrengung die Wirklichkeit wieder zu erfassen. Alix? Wo ist Alix? Er schlägt die gekrampfte Linke in seine Brust, als könne er dort Furcht, Zweifel, Schmerz in einem erwürgen. Aber er führt gehorsam das Pferd den steinigen Pfad hinauf und wagt nicht ein einziges Mal sich umzuwenden, obschon er stummglühende Blicke in seinem Rücken fühlt und sich immer wieder fragt, was die schöne Reiterin wohl mit ihm vorhabe.

Da stehen plötzlich Mauern, Dächer und Turm einer Burg auf dem von ersten Sternen funkelnden Himmel. Was für ein 116 Geist mag in dieser finster ragenden Behausung herrschen? Er kann sich gar nicht denken, daß sie jemals von der Sonne beschienen wird. Ein Hornstoß hinter ihm läßt ihn zusammenzucken, als wäre es die Posaune des jüngsten Gerichtes – und ist doch nur das Zeichen, auf welches die Zugbrücke herunterrattert und ihre dröhnenden Holzbohlen dem Pferd unter die Hufe legt.

Fackeln lodern im Hofe. Mägde treten aus den Pforten, staunen und kichern. Fenster sind in der Höhe erleuchtet, als hätte man in der Tat nicht nur die Herrin, sondern auch noch einen Gast erwartet.

»Heb mich aus dem Sattel, junger Pfaffe!« Die Stimme klingt wie ein Jauchzen über glückliche Jagd. Hat er sie nicht schon irgendwo gehört? Ist er nicht schon einmal hier gewesen?

Er überläßt die Zügel dem Jagdmeister, wobei er zum erstenmal einen Blick in sein graubärtiges, mürrisch verschlossenes Gesicht wirft, tut gehorsam von dem Pferdekopf zwei Schritte nach dem Sattel und schlingt die Rechte um die Hüfte der auf ihm thronenden schönen Frau, wobei ihre Linke sich wie ein stählerner, verstohlen zupackender Griff scharf um seinen Nacken legt. Wie jetzt auch noch ihre beiden andern Hände sich finden, damit sie sich beim Niedersprung im Gleichgewicht erhalten kann, ist es, als schlösse sich der Kreis eines Stromes, der ihm mit einem ganz neuen Feuer durch den erhitzten Körper rieselt. Sie ist nicht schwer, sondern von schlanker, federnder Leibesbeschaffenheit.

»Trag die Gerte! – Folge mir!«

Er fängt die ihm zugeworfene Reitgerte auf. Es ist wie der Schlag mit einer Zauberrute; und erst jetzt, wie sie das rauchende Leuchten der an der Pforte hochgehaltenen Fackeln überschwelt, 117 erkennt er auch mit den Augen die Umrisse ihrer reifen Gestalt, von welcher bereits sein umfassender Arm heimliche Kenntnis erlangt hat. Sie rafft eintretend das schwarze Kleid, so daß verführerisch der eine Fuß sichtbar wird; und er steigt hinter ihr eine eng gewundene Holztreppe hinauf und folgt ihr in einen dunklen, holzgetäferten Saal hinein, in welchem ein gedeckter Tisch steht mit einem fünffach brennenden Kerzenleuchter, einer auf silberner Platte dampfenden Rehkeule, Silberkrug und Silberbecher, und dahinter ein einziger Lehnstuhl mit breiten Armlehnen.

»Schließ die Türe!« herrscht sie den in ihrer Nähe Zaudernden an, indem sie sich in den Sessel wirft. »Schneid mir vor und sei mein Mundschenk!«

Er tut alles. Warum wohl wird von ihrer eigenen Dienerschaft, die sie im Hofe unten so zahlreich begrüßte, niemand sichtbar? Ist das ihre gewöhnliche Anordnung, daß Gäste, statt zusammen mit ihr bedient zu werden, sie selber bedienen müssen? Oder hat der eigentümlich abfallende Laut am Ende des Hornstoßes ihnen allen eine besondere Art Gast angezeigt, weshalb sie auch bei seiner Ankunft verstohlen lachten und sich in die Seite stießen? Während er nicht wagt, den Blick von seiner Amtung aufzuheben, fühlt er doch, wie das über dem aufgestemmten Arm in die Hand geschmiegte schöne Frauenhaupt aus schwarzen Augen jede seiner Bewegungen beobachtet und wie alle ihre Wünsche sich um seine junge Männlichkeit ranken; und schon fängt der Verdacht an, in ihm aufzusteigen, ob er am Ende nicht einer leibhaftigen Hexe in ihr magisches Netz gerannt sei –

»Du willst nach dem heiligen Lande ziehen?«

Er nickt. »Ja.« Aber er weiß auf einmal nicht mehr, ob er die geweihte Erde jemals sehen wird . . .

»Ich hasse das heilige Land. Es hat mir vor drei Jahren den Mann genommen, als er glaubte, nach Christi Grab eine Bet- und Bußfahrt machen zu müssen! Da darf mir das heilige Land wohl auch wieder etwas geben; und wenn es auch nur einer seiner Pilger wäre – oder nicht?«

Sie hebt den vollen Becher an ihre Lippen, indem sie ihm über den Rand weg aus funkensprühenden Augen forschend in die Seele blickt. Dann leert sie ihn in langen Zügen und zurückgebogenen Hauptes, so daß er ihren weißen Hals bei jedem Schluck sich bewegen sieht. Und jetzt stellt sie mit einer großen Gebärde ihres schlanken, von dem schwarzen Ärmel eng umschlossenen Armes den Becher wieder hin, damit er ihn fülle:

»Essen und trinken . . . und Mann und Weib sein . . . das ist das Beste!«

Ist sie eine wütige Törin? Lebt ein Geist der Hölle in ihr, der sie antreibt, Dinge zu sagen und zu tun, die sie ebendorthin wieder zurückführen werden? Er schenkt ihr den Becher nach und wartet mit Bangen auf ihre weitern Worte.

Sie aber ißt jetzt eine ganze Weile von dem Vorgelegten, als ob er nicht da wäre. Er steht wie ein Diener neben ihr und hat Zeit, sie zu betrachten: sie ist zu reif, um noch schüchtern, und zu jung, um nicht mehr verlangend zu sein. Und während er dieses Weib von vierzig Jahren, das sein Schicksal selber in die Hand nimmt, so königlich tafeln sieht, wird er sich plötzlich seiner Erschöpfung bewußt –

»Hast du nicht auch Hunger?« Er fährt zusammen, als ob seine eigenen Gedanken Stimme bekommen hätten, und blickt an ihrem ihm voll zugewandten Antlitz vorbei. »Komm, du wildes Tier, das du wie toll durch den Wald gerannt bist: 119 ich will dich füttern! – Setz dich zu mir auf die Lehne und laß dir zu allererst die Angsttropfen von der Stirne wischen!«

Er will rufen: Nein! Aber die Stimme versagt ihm wie im Traum; und er setzt sich, von ihrem gebieterischen Wort bezwungen, neben sie auf die linke Stuhllehne. Fast gleichzeitig fühlt er, wie ihr linker Arm ihn von hinten umfängt; und wie sie mit der rechten Hand ein Spitzentüchlein aus ihrem Busenausschnitt hervorzieht und ihm damit unter einem flirrenden Lächeln über Augen und Schläfen fährt, wo ihm der kalte Schweiß perlt.

Dann führt sie ihm den ersten Bissen zu den Lippen. Circe! schießt es ihm durch den Sinn; und er denkt daran, daß jene Zauberin des Altertums alle ihre Gäste in grunzende Schweine verwandelte. Aber der bohrende Hunger, den er immer schärfer empfindet, läßt ihn plötzlich fast schnappend seine Zähne in das saftige Fleisch schlagen; und ob er sich gleich sagt, daß er ihr nun verfallen ist, dünkt es ihn doch wohlschmeckende Speise.

»Und hier trink!« Sie hält ihm den Becher hin; und er schlürft durstig den roten Trank – von dem er spürt, daß er ihm alsbald einen glühenden Schwindel durch die Adern jagen wird – ohne mit den Händen das silberne Gefäß zu berühren, wie wenn er dadurch den Zauber von sich fernhalten könnte. Ha, schon früher einmal hat er am Tisch einer stolzen Burgherrin gesessen und gegessen und ist nicht gestorben daran! Was aber wird er dieser hier zum Entgelt an Helden- und Liebesgedichten vortragen müssen?

Da packt sie ihn plötzlich vorn an der Brust. »Was wollt Ihr –?« gurgelt er. Aber schon hat sie ihm das aufgenähte weiße Kreuz abgerissen und hält den Fetzen über die fünf Flämmchen des Leuchters. Da weiß er, was sie will! Das Tuch lodert auf, brenzlig riechend wie Weihrauch des Teufels.

120 »Jesus Christus!« schreit er und springt von der Lehne herab. Er starrt sie an, als müßte sie nun selber sich jeden Augenblick verwandeln und ihm nach der verlockenden Maske ihre wahre Gestalt zeigen – aber er bemerkt nur auf ihren herausfordernd geschwungenen Lippen ein paar feine, schwarze Härchen . . . »Amen«, lacht sie ihm unter die Nase, erhebt sich ebenfalls von ihrem Stuhl und stößt die Türe auf, die sich hinter ihr in der Wand befindet.

»Komm! Sei mein Page! – Entkleide mich!«

Er will auf sie zustürzen: sie mit seinen Händen erwürgen, bevor sie die ganze Macht ihres Zaubers entfaltet; das Feuer in ihren Augen auslöschen, das in ihm selber ein Feuer entzündet. Da sieht er durch die offene Türe und das offene Fenster des anstoßenden dunklen Gemaches in eine fern lodernde Glut hinein. »Was ist das dort?« keucht er.

Sie gewahrt es ebenfalls und lacht gellend auf, während sie den Arm um seinen Nacken legt und ihn mit sich zieht. Sie lacht wie eine entzückte Wahnsinnige und gibt sich dabei den Anschein, als müsse sie sich an ihm halten: alles nur, um ihn mit den Händen umtasten, mit den Armen umschlingen zu können und damit immer mehr von ihm Besitz zu ergreifen. Sie lacht wie eine Siegerin und küßt ihn jetzt zwischenhinein so heftig auf den Mund, daß ihre Zähne herausfordernd mit den seinen zusammenknirschen.

»Wahrhaftig, jetzt haben sie der Ketzerin die Burg angezündet! Da brauchst du keine Angst zu haben, daß dir heute Nacht das Dach über dem Kopf wegbrennt: mir geschieht nichts; ich halte es mit der Geistlichkeit! Und gehörst du nicht auch zu ihr?«

Sie reißt sich selber das Gewand auf. Er sieht in dem roten Widerschein bald ein breites Lager aus der Düsternis des 121 Gemaches, bald ihre breite Brust aus den abfallenden Hüllen ihres schwarzen Gewandes hervorleuchten. Und die Finger, die sie noch eben erwürgen wollten, liebkosen bebend die sich befreienden weißen Ranken ihrer Arme; und seine Lippen, nachdem sie von ihren Lippen entsiegelt worden sind, gleiten ihr in hundert Küssen vom Nacken über den Hals zur Kehle hinunter.

»Bist du betrunken, daß du so zitterst? Ich will dich nüchtern machen . . . Fort mit dem Lügenkleid!« Sie schlägt ihm die Kutte auseinander und zerrt ihn auf den Pfühl und in ihre wilde Leidenschaft hinein. Und bald ist sie nur noch glühender Kelch und sengende Umarmung; und er ist der menschliche Becher, aus dem sie unersättlich den Trank des Lebens schlürft. . . .

Ist das das Erlebnis, das er mit Ellenor zusammen ersehnte? Wieviel seliges Licht lag doch über jenem blonden Mädchen, während er hier in einen dunkelfressenden Brand hineingeraten ist! Und vor seinen geschlossenen Augen sieht er auf einmal wieder die Scheiterhaufen auflodern; und er erkennt sich selbst, an der Stange festgebunden und von den Flammen umzüngelt und umschlungen, bis er vernichtet in ihrer Glut zusammensinkt.

Aber entzündeten sie nicht, kaum daß der erste Holzstoß zu verlodern begann, einen zweiten; und dann einen dritten, vierten? Und immer ist er es, der am Marterpfahl steht und mit der Seele die Flammen verflucht, die ihm ein jauchzendes Schreien entpressen und ihn immer wieder zwingen, sich in die Vernichtung seiner selbst hineinzustürzen! Und tausendköpfig brodelt vor ihm die Menschenmenge, die mit wilder Aufmerksamkeit seine Krämpfe verfolgt; aber von allen Gesichtern erkennt er nur eines: fern am sicheren Ufer kniet Alix, das braungewellte Haupt in die vorgehaltenen Hände gebeugt, 122 damit sie ihn nicht sehen muß; und zwischen ihren zarten Fingern hindurch rinnen in der Klage um ihn unaufhaltsam ihre machtlosen Tränen . . .

War das Traum oder Rausch, Himmel oder Hölle? Ist er jetzt wirklich erwacht oder glaubt er nur wach zu sein? Und was für ein furchtbarer Schlaf ist es denn gewesen, der von ihm abfiel? Da sieht er, im bleichen Morgendämmer sich aufrichtend, neben sich voller Staunen und Grauen ein nacktes, schlankes Weib mit spitzen Brüsten, das wilde, noch vom Schlaf gefesselte Antlitz in die zerwühlten schwarzen Locken gebettet, Arme und Schenkel weit auseinandergeworfen.

Er rafft sich vollends empor, schleppt sich geräuschlos zum Fenster und starrt hinaus. Auf einem nahen Hügel rauchen die Trümmer einer Burg; an ihr vorbei schweift sein Blick über eine große, blau verduftende Ebene hinweg. Es ist noch nicht das Meer! Aber dort weiß er das Meer! Dorthin zieht auch drunten der breite Strom, dessen Wellen silbern im Frühlicht blinken und dem sie zu ihrem Unheil sich wieder nahten.

Er sinkt auf die Mauerbank in der Nische und lehnt das fieberheiße Haupt und den gebrochenen Rücken an den harten, kalten Stein zurück. Was ist aus ihm geworden? Heiße Tränen rinnen ihm, ohne daß sich sein abgemattetes Antlitz bewegte, lautlos ins Herz. Und Alix? Lebt sie noch? Zieht sie mit den andern weiter? Ans andere Ende des Himmels, nach Jerusalem?

Er fühlt: Er hat für immer die Kraft und den Weg dorthin verloren. Er gehört dem Weibe, das wie eine dunkle Erdgöttin hier im Gemach, auf dem Pfühle ruht. Es braucht nur die Augen aufzuschlagen – und er wird sich, wie ein Falter in die Flamme, wieder in seine sengende Umarmung hineinstürzen . . . 123

 


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