Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

41. Gerold als Erzengel

»Halt! Umgekehrt geht's nach Jerusalem! – Seht doch! Will er der Mutter noch einmal Lebewohl sagen? – Holla! Auf deinen eigenen Beinen würdest du den Weg nicht zweimal machen . . .«

Diese und ähnliche Zurufe streifen Gerold, während er an den Kinderscharen hinaufreitet und, ihre Kreuze und Fahnen in Augenhöhe neben sich, unter den schwarzen, braunen und blonden Häuptern nach dem Mädchen mit dem roten Haar ausspäht. Dann aber kommen wieder lange Strecken, wo die große Heeresschlange entzweigerissen ist und er sich allein mit seinen Gedanken durch die sommerliche Landschaft bewegt. Was hält er da für verdrossene Zwiesprache mit sich selbst? Die er in lustvoller Erinnerung, in dankbarer Seele trägt, zieht sich vor ihm in ein täglich wachsendes Dunkel zurück; und die er offen mit den Blicken und heimlich mit all der Witterung seiner Sinne sucht, zeigt sich ihm nicht mehr.

Mühselig ist diese Reise nach dem heiligen Land! Wo das Schifflein der Sehnsucht nirgends einen sicheren Hafen sieht, dem es mit klarem Kurse zusteuern kann, macht sich der Ballast des müden Leibes um so rascher bemerkbar und möchte alle Augenblicke auf eigene Rechnung vor Anker gehen. Nicht erst 193 am Abend: schon gegen Mittag schlägt Gerold heute das Herz matt und lechzt er nach Stärkung und Tröstung . . . Willkommen, du kleine Kapelle am Wald! Birgst du nicht ein Gnadenbild, davor ein irrender Ritter seine Knie beugen und sein Herz erheben kann?

Er steigt ab, bindet sein Roß im Baumschatten an einer Tanne fest und betritt mit steifen Beinen und ungelenken Schrittes das bescheidene Heiligtum, das seinen lichtgeblendeten Augen fast dunkel erscheint. Und vorn am Altar, wo eine hölzerne Madonna betend Hände und Blicke in die Höhe hebt, sinkt auch er in die Knie und schwingt betend seine Seele empor. Aber zu wem? Immer wieder sieht er nicht die bemalte Muttergottes vor sich, sondern Frau Adelheid mit dem dunklen Haar, den großen schwarzbraunen Augen, der steilen, gebietenden Nase und dem großlippigen, weichen, so schmerzlich leidenschaftlichen Mund: so wie sie tags in der Burg unnahbar treppauf treppab an ihm vorbeiwandelte, um dann in seltenen Nächten die ganze strenge Herrlichkeit ihres Wesens mit geöffneten Armen ihm, nur ihm zu unterwerfen und ihm und sich so lange ein Glück zu gewähren, bis sie beide die Qual seiner Heimlichkeit nicht mehr ertrugen.

Sein junger Leib schreit lautlos zu ihr auf. Throne nicht so stolz in deiner Höhe! Komm herab und schenk dich mir wieder, wie du tatest; laß mich wieder stark und froh an dir werden! Laß mich deine von stolzer Entsagung behüteten Lippen küssen und im stummen Glanze deiner Augen das unfaßbare Rätsel der Liebe lesen – Aber dort steht die Madonna im blauen Mantel, mit der goldenen Krone auf dem Haupt und den sieben Schwertern in der Brust und flieht selber mit ihrer Qual über die harten Schranken irdischer Wirklichkeit hinaus. O, daß auch 194 er seine wehe Sehnsucht auf sie werfen könnte und daß sie von ihr dorthin getragen würde, wo jeder Sehnsucht Erfüllung winkt.

Und der Kopf sinkt ihm abermals auf die vor der Brust gefalteten Hände; und er betet und fleht wieder zu dem Bilde, das über dem Strom seines heißen Blutes wie eine Nebelgestalt schwebt, welcher der Wunsch Leben verleiht . . . Oder dann gib mir eine deiner Schwestern! Jedes Weib, das lieben kann, wie du, ist deine Schwester! Und sagtest du nicht immer, du wolltest nicht nehmen, sondern schenken? So schenk mir, wo du dich nicht mehr schenken kannst, ein deiner würdiges Mädchen! Habe ich nicht jenes große Kind mit dem roten Haar und dem weißen Antlitz, so wie du mir gebotest, um seiner selbst willen geliebt? Warum ist es vor mir geflohen, als wäre ich ein böser Geist? Warum soll ich es nicht wiederfinden? Liebe ich denn seine verirrte Armut nicht, wie du meine irrende Not geliebt hast –?

Von draußen sich näherndes mißtöniges Geschrei weckt ihn auf und läßt ihn jach emporspringen. Er blickt durch die steile, schmale Fensteröffnung – Heiliger Gott! Kommt dort nicht das Mädchen mit dem roten Schopf und der lichten Haut mit wirbelnden Knien dahergerannt: der Kapelle entgegen; ihm entgegen? Ihre Augen schreien ihm lautlos ihre Todesangst zu; und der Wind weht ihr die offene Jacke auseinander und zeigt ihm die runden weißen Brüste, welche, gehetzten süßen Tierchen gleich, ihr voraus an seine Brust flüchten möchten. Und über ihr und um sie herum taumelt ein närrischer Schwarm weißer Schmetterlinge, durch den hindurch er nur undeutlich die beiden fluchenden Bauern mit den Heugabeln und die geifernde alte Hexe mit dem Besen wahrnimmt.

Er zieht vom Leder und springt von innen neben die Tür. Isa kommt blind vor Angst an ihm vorbei und hereingestürzt, 195 nur noch von dem einen Gedanken beherrscht, rechtzeitig die Freistatt des Heiligtums zu erreichen; und während sie sich vor dem Muttergottesbild mit flehend erhobenen Armen und keuchendem Atem in die Knie wirft, tritt er mit einem raschen Schritt ins Freie hinaus. Das Sonnenlicht, das er warm auf seinem Scheitel fühlt, blitzt gleißend an seinem Schwerte ab, dessen breite Klinge er in entschlossener Faust unbeweglich gesenkt vor sich hinhält, damit die gröhlenden Verfolger in sie hineinrennen mögen –

»Der Erzengel Michael! Der Erzengel Michael!« Und der Bauer, sein Knecht und die Bäuerin machen kehrt und hasten, die Gabeln und den Besen von sich schleudernd, alle drei übereinander herstolpernd, hinstrauchelnd und wieder aufschnellend, in blindem Schreck und ohne nur ein einziges Mal sich umzuschauen, dorthin zurück, wo sie hergekommen sind.

Isa aber kniet drinnen in der Kapelle und sendet fliegende Gebete zur Madonna empor. Wenn sie in dieser Welt sich selber verlieren und einem andern Menschen in die Hände fallen soll, warum darf es nicht jener junge Ritter sein, der sie auf sein Pferd gehoben und so brüderlich in Schlaf gewiegt hat? Und er ragt wieder vor ihr im Dämmer der Kapelle hoch im Sattel, wie damals im Abenddämmer des Waldes, als er plötzlich, mit seinem Roß zwischen den Stämmen auftauchend, neben ihr erschienen war. Erst wie die weißen Schmetterlinge, die ihr nachgeflogen sind, sich ihm allmählich auf Haupt und Schultern setzen und gleichzeitig zur Ruhe kommen – so wie auch der Sturm ihrer Gefühle zur Ruhe kommt –, wird sie gewahr, daß es nicht der Ritter ihres Herzens, sondern die Madonna ist, mit der goldenen Krone auf dem Haupt und den sieben Schwertern im Busen . . . und daß sie sich inmitten einer feierlichen Stille gerettet fühlen darf.

196 Gerold wirft noch einen letzten Blick auf das Schmetterlingswunder drinnen in der Kapelle; dann geht er unbemerkt zu seinem Pferd und besteigt es. Was aber soll er tun? Soll er sich ihr, die ihn so hartnäckig floh, zu erkennen geben? Da schwillt wieder der Jugendtrotz in ihm auf: sie ist ihm davongelaufen; er läuft ihr nicht nach! Und er wartet, in den Tannen verborgen, bis Isa, vorsichtig sich umschauend, aus der Türe tritt, sich bekreuzt und, erlöst aufatmend, eilends auf der Straße davonwandert.

Aber jetzt? Soll er ihr nicht nachreiten? Er braucht ja von allem nichts zu wissen; kann sie einfach wie zufällig eingeholt haben. Doch es ist, als hielte ihm ein boshafter Teufel die Entschlußkraft fest – bis er endlich seinem Pferd die Sporen gibt, um sich die Wiedergefundene für immer zu gewinnen. Jetzt oder nie!

Nur wenig von der Kapelle entfernt, hat sich Isa mit versagenden Knien hinter ein Gebüsch geworfen; sie spürt den Todesschrecken noch in allen Gliedern. Da hört sie das scharfe Geräusch trabender Hufe. Eine neue Gefahr? Sie äugt ängstlich durch die Zweige – und sieht Gerold mit verwegener Miene und ganz der Ferne zugewandtem Blick an ihr vorübersprengen. Gewiß, er ist einem Mädchen auf der Spur . . .

 


 << zurück weiter >>