Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21. Der Überfall

Ein Gehölz umgibt die Wiese. Der Baumschatten, drin sie Rast halten, greift mehr und mehr auf die dürftige Au hinaus. Aber die Abendluft ist noch so warm, als ob die Welt ein einziger Ofen Gottes wäre; und Leib und Seele bleiben immer noch welk und zu matter Gleichgültigkeit aufgequollen . . .

»Nach Sonnenuntergang ziehen wir weiter. – Wollen wir nicht sehen, wo Stephan ist?«

»Und Ellenor, meinst du!« versetzt Alix, indem sie ein Blümlein zerzupft.

Eustachius, der neben ihr am Waldrand liegt, wendet sich unmutig ab. »Was hast du nur immer mit Ellenor?«

»Ist es etwa nicht wahr, daß du sie liebst?« gibt sie ruhig zurück.

»Und du vielleicht nicht Stephan?« kehrt er sich ihr wieder zu.

Alix sinnt vor sich hin. »Darf man einem andern Menschen nicht auch noch etwas gut sein? Besonders wenn er unglücklich ist?«

»Nun also! Was will ich denn weiter?« Er stemmt den Ellenbogen ins Gras zurück und stützt das Haupt in die Hand. »Glaubst du, daß Ellenor nicht auch leidet?«

»Stachi, sei mir nicht böse! Wir beide gehören doch zusammen, nicht? Was sollte ich auch ohne dich anfangen?«

»Warum hast du dann nicht den Glauben an mich?«

»Und du nicht an mich?«

Sie verstummen. Darin liegt das Geheimnis: Auf den 104 Glauben kommt es an! Aber ein Glaube ist es auch, um den die Menschen mit Feuer und Schwert sich bekämpfen! Nicht nur ihrer Faust, sondern selbst der herrischen Kraft ihrer Ideen wollen sie sich unterwerfen. Da findet Alix als erste wieder Worte, um von Seele zu Seele die Brücke zu schlagen.

»Haben wir nicht so furchtbare Dinge erlebt, daß man an der Welt verzweifeln möchte? Sieh, ich begreife, daß dich vieles zu Ellenor hinzieht; aber ich fürchte: es ist immer dieselbe finstere Macht, die uns bald von innen, bald von außen überwältigt, unglücklich macht oder gar vernichtet. Wie schön war es, als du mein Bruder warst und wir wie Geschwister, die zu ihren Eltern zurückkehren wollen, nach dem heiligen Lande aufbrachen! O, was du mir damals warst, das kann mir auch Stephan nicht geben! Er grübelt zu viel; er möchte das Leben ergründen und vergißt darüber das Größte: seinen Nächsten zu lieben. Es ist wahr, daß sein heißer Glaube mich lange Zeit zu ihm hinzog; aber es ist nicht minder wahr, daß ich heute einsehe: ich bin ihm nicht teurer als irgendein anderes Mädchen . . . Wenn du von mir gehen solltest, so habe ich keinen Menschen mehr auf der Welt!«

Eustachius vergißt, daß sie eine Antwort erwarten könnte: seine Antwort sind die Gedanken, die er für sich behält. Er sieht im Geiste die Scheiterhaufen lodern und auf ihnen die unglücklichen Opfer brennen; und er erinnert sich plötzlich wieder jener wahnsinnigen Weiber, in deren Seele ein ähnliches Feuer ausgebrochen war, indem es die Zerstörungswut in ihren eigenen Willen verlegte. Aber wenn er damals mit Ellenor zusammen die verführerische Lockung empfand, sich ebenfalls in diesen Wirbel hineinzustürzen, weil er einen in ungeahnte Höhen emporreißt, so hat er seither ebensosehr einsehen gelernt, 105 daß er auch in unausdenkbare Tiefen hinabzuschmettern vermag; und er erkennt immer mehr, daß in dem ungeheuren Ozean unfaßbar-sinnlosen Weltgeschehens die kleine Insel der Selbstbesinnung und Selbstbeherrschung das einzige Gestade ist, an welchem das Menschliche gedeihen und die lichte Seite Gottes in sich widerspiegeln kann . . .

Über die nahen Wipfel und in ihre Träumereien herein kommt auf einmal aus dunstiger Ferne ein leises Donnern angerollt. Aber es ist nur der dunkle Ton, auf welchem um so heller das Jauchzen junger Stimmen ertönt: Die kleineren Kinder haben, alle dem Beispiel eines unbekümmerten Mädchens folgend, ihre lästigen Kleider von sich geworfen und ergehen sich nun, von der Liebkosung der freien Luft angeregt, in den mannigfaltigsten Sprüngen, Tänzen und Wettläufen, in denen sie ihre während der langen Wanderpause erholten Glieder für den Weitermarsch gelenkig machen. Es ist wie ein Bild aus dem Paradies, das die Augen, die es schauen, mit tiefer Verwunderung erfüllt, und gleichzeitig dem Herzen wundersam wohltut.

Vergessen sind Fahnen, Kreuz und Jerusalem! Vergessen für Alix und Eustachius, die zu stumm hingegebenen Zeugen der Gegenwart werden, die schmerzlichen Regungen einer lange genährten Eifersucht des Blutes, sowie die entsetzlichen Bilder aus dem noch schlimmeren Kampfe, den die Eifersucht der Geister in dieser Welt unterhält! Als ob die in Wald und Busch wohnenden Naturgeister Gestalt angenommen hätten, bewegen sich die hellen nackten Körper mit weichem Leuchten in der beginnenden Abenddämmerung: von glücklichen Seelen gelenkt, die noch nicht wissen, daß es etwas gibt, das sie im Namen eines unerklärlichen Schicksals zusammentreiben 106 könnte, huschen sie, im Scherze sich haschend und fliehend, aneinander vorbei und kennen nichts anderes als die lachende Freude, junge Menschlein zu sein. Viele der Jünglinge und Mädchen, die im Walde zerstreut waren, haben sich wieder eingefunden und sehen bald belustigt den Kindern zu, bald betrachten sie sich gegenseitig mit der heimlichen Frage im Blick: Warum werfen nicht auch wir unsern Plunder ab und versuchen jenen Reigen zusammen, den uns das Herz eingibt?

Zwischen der Sehnsucht nach dem Entschwundenen und der Sehnsucht nach dem Nochnichtgefundenen schweben auch Eustachius und Alix. Sie liegen, mit aufgestützten Ellenbogen, Leib an Leib wie zwei, die längst nicht mehr schlafen, aber doch noch nicht voll aufgewacht sind; und zwischen ihnen spielen, wo sie jetzt ihre Blicke von den tanzenden Kindern gegenseitig auf sich selbst zurückgekehrt fühlen, die Finger ihrer freien Hände immer inniger miteinander das Vorspiel jenes süßen Erraffens und Sichverschlingens, zu welchem ihrer verschüchterten Jugend so lange der Mut fehlte. Zuletzt nähern sie langsam Mund dem Mund, trinken ein jedes erwartungsvoll den Atem des andern in sich ein und möchten endlich, zum erstenmal, ihre weichen, jugendwarmen Lippen in einem gläubigen Versuch aufeinanderpressen, gegenseitig sich im Herzen allen häßlichen Verdacht abbittend und wechselseitig sich das tiefe Gefühl bekräftigend, welches sie von ihrer allerersten Begegnung her wie eine ferne Gewißheit erfüllte und das nun, nach allen Verdunkelungen durch Erlebnisse und Mißverständnisse, ein neues, dauerhaftes Leuchten gewinnen soll –

Da bricht plötzlich über die zwischen ihnen entschlossen keimende Liebe sowohl der Sinne als der Seelen, aus dem Innern des dunklen Waldes in ihrem Rücken, rasch 107 anschwellendes Geschrei, Gelärm, Geklirr herein, so daß sie, wie auf einer Sünde überrascht, auseinanderfahren. Und kaum haben sie im Aufspringen wahrgenommen, wie die spielenden Kinder auf der Wiese, als wären sie von einem bösen Zauber gebannt, erstarrt nach dem Walde schauen, so stehen auch schon vor ihren ebenfalls hinter sich gewendeten Blicken die von wahnsinniger Angst verzerrten Gesichter atemlos fliehender Männer und Frauen, welche, in zerrissenen Kleidern und mit blutig gekratzten Armen und Brüsten, in rascher Folge aus den dornigen Büschen auftauchen, mit stieren Augen nur noch das eine Ziel festhaltend: die Rettung dieses elenden Erdenlebens. Brüllend wie Tiere rasen sie an ihnen vorbei, überrennen achtlos mehrere der Kinder, die in ihrem Entsetzen sich nicht mehr von der Stelle bewegen konnten, und sind im gegenüberliegenden Dickicht verschwunden.

»Was ist das?« stammelt Alix in das Wehgeschrei der Kleinen hinein. »Sind das Ketzer gewesen?«

Aber noch bevor Eustachius, den sie angstvoll am Arm ergriffen hat, ihr antworten kann, knackt und kracht es aufs neue im Walde und kommt auf das Wild die Meute nachgewettert: auf schäumenden Rossen erscheinen die wilden Gestalten mordlustiger Kriegsknechte, die mit geschwungenen Schwertern und lachenden Zähnen nur noch nach dem Tod ihrer Opfer gieren. Überall brechen auf einmal Hufe, Pferdeköpfe und Hundeschnauzen aus den Zweigen hervor und überfällt sie der Schrecken einer unter Flüchen und Hetzrufen sich über alle Hindernisse hinwegwälzenden Woge der Vernichtung. Die Reiter spornen ihre Tiere in tollen Sätzen über den freien Raum der Waldwiese hinweg, damit sie den Unglücklichen auch im jenseitigen Dickicht auf den Fersen bleiben.

108 »Fliehen! Fliehen!« schreit Eustachius und reißt Alix mit sich, um sie und sich selber aus dieser erneuten Sturzwelle des Bösen zu retten. Aber schon schleudert ihn ein Pferdeschenkel im Vorbeistreifen zu Boden: er überschlägt sich, kommt im gleichen Schwung wieder auf die Füße und rennt, im Glauben, Alix eile noch an seiner Seite dahin, in blinder Angst geradeaus. Irgendwo auch er ins Gebüsch hinein und hindurch, hindurch, wie die Männer und Frauen vor ihm, denen die furchtbare Jagd gilt.

 


 << zurück weiter >>