Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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32. Das Meer

Und nun wallen sie auf den Bergen abermals in das fruchtbare Hügelland nieder. In geordneten Scharen, mit aufrechten Feldzeichen; und mit einem neuen, in Blut und Flammen gehärteten Glauben, der gerade in den Greueln dieser Welt den Beweis seiner eigenen Wahrheit und Notwendigkeit erblickt. 182 Und eines Tages läuft die Kunde durch die Reihen: »Noch vor dem Abend werden wir das Meer schauen!«

Da ist es ihnen, als schmeckten sie durch all den Sonnenbrand hindurch schon seine herbe Salzwasserluft. Sie wissen nicht, wie es riecht; und haben doch eine Ahnung, wie es riechen muß: kühl, prickelnd, befreiend. Es liegt vor ihrer Einbildung wie eine riesige blausilberne Schwinge, welche sie – mit einem einzigen Auf- und Niederschweben; und nach so vielen Qualen schmerzlos – an das Gestade ihrer Sehnsucht hinübersetzen wird.

Diese Gewißheit berauscht sie. Sie verstummen vor Glück und leben nur noch in der Welt ihrer Träume, die ihnen das Ziel einer langen und furchtbaren Wanderschaft in greifbare Nähe zaubern. Und zuletzt erschnuppern sie nicht bloß den weit ins Land hereinwehenden Hauch der hohen See; sondern sie wagen sogar, wenn ein unbekannter Blütengeruch ihre Sinne rührt, im Herzen die selige Frage: Kommt er vielleicht aus den Gärten Jerusalems? Duften in ihm die Lilien von Saron?

Niemand weiß mehr, was Müdigkeit ist; Stephan und Ellenor am allerwenigsten. Frisch, wie die Blumenkränze um ihre Schläfen, ist ihre Hoffnung aufgelebt; und der Glaube, den sie mit unbeugsamer Stärke in den andern wach erhielten, ist in ihnen selber wieder zu alter Kraft erwacht. Als schönstes Geschenk ihrer innern Wiedergeburt aber empfinden sie nicht diesen Mut angesichts der Zukunft, sondern die Demut gegenüber der Vergangenheit und allem, was sie in ihr an Leib und Seele erleiden mußten.

Ellenor denkt an Eustachius wie an einen Bruder in einem früheren Dasein. Ist er noch am Leben oder schon zu jenen versammelt, zu denen auch sie eines Tages kommen werden? Gott mag es wissen! Und ob sie mit ihm oder mit Stephan 183 zusammen den Boden des heiligen Landes betritt, was verschlägt es? Sind sie nicht alle miteinander Kinder Eines Vaters? Nun wird es Stephan sein. Wenn nur jemand es ist, der dort die große Erleuchtung findet, so überwältigend groß, daß auch die andern Menschen sich ihr nicht länger verschließen können und sich zum ewigen Bunde der Liebe vereinen!

Stephan sieht Alix nur noch wie ein verblassendes Bild vor sich. Ist auch sie selber schon im Tode erblaßt oder lebt sie noch? Gott mag es wissen! Warum sich lange der Qual der Wahl ergeben, wo jeder Mensch berufen sein kann, einen andern auf dem Wege der Vollendung zu begleiten? Nun wird es Ellenor sein. Und mit ihr zusammen wird er den Palmzweig und die wunderbare Kraft zurückbringen, in allen Kleinmütigen und Sündhaften Furcht und Haß auszulöschen durch die eine, große Glut der Liebe und den ehrlichen Eifer, einander zu dienen!

Da stocken die Scharen, die schon seit Stunden mit nie erlahmender Kraft und Hoffnung dahingewandert sind. Ist es nur ein Schein oder ist es Wirklichkeit? Dort, in der Mulde zwischen den zwei Hügeln, sehen sie in einiger Entfernung ein wunderbar tiefes, dunkelgeronnenes Blau eingesenkt, das sich gegen den blasseren Himmel durch eine wagrechte Linie abgrenzt –: Das Meer! das Meer! das Meer! Und gleichwie an dem unweit sich breitenden Strande, aus der Unendlichkeit der Welt, in einträchtiglich gemeinsamem Schlage die Wellen dahergerauscht kommen, so drängen sich ihnen hier, aus der Unergründlichkeit unsterblicher Seelen, in gleichem Pulse, in gleicher Hoffnung und in gleichem Glauben die wogenden Gefühle dieser Knaben und Mädchen entgegen, die ihr irdisches Leben darangesetzt haben, ihre und aller Menschen Sehnsucht zu stillen.

184 Angesichts des Meeres, in welchem alle Wasser der Erde zusammenfließen, empfinden sie selber in sich die große Einheit des Lebens und die tiefe Verwandtschaft alles Schicksals. Je näher sie ihm kommen, je mehr sich vor ihren seligstaunenden Blicken die Schönheit seines blauen Wunders entfaltet, um so mehr preisen sie ihren Glauben, der sie durch alle Fährlichkeiten hindurch so weit geführt hat; und in dem Glück, das sie durchjauchzt, erblicken sie die beste Bürgschaft dafür, daß ihnen beschieden sein wird, auch das letzte, größte Ziel ihrer Wanderung zu erreichen. Wie dehnt sich doch die spiegelglatte Wasserfläche ohne Hindernis in die Fernen des Himmels und legt sich wie eine sanfte Einladung, darüber hinzuschreiten, allen schweifenden Gedanken zu Füßen!

In gleichem Maße wie dem Meere nähern sie sich auch einer mächtigen Stadt mit weißen Häusern; aber noch mehr staunen sie die weißen Zelte an, die sie außerhalb der Mauern wie ein Feldlager auf den Hügeln aufgeschlagen sehen. Sind sie denn nicht die ersten? Ach, sie sind nicht einmal die zweiten! Andere Scharen schon sind vor ihnen angelangt und, wie alles Außerordentliche bei seinem ersten Auftreten, von den Bewohnern mit freudiger Teilnahme empfangen und untergebracht worden. Oder wie wäre anders das ausgedehnte Lager zu erklären, über welchem sie von weitem das Geflatter der Kreuzbanner wahrnehmen, als durch die mildtätige Hilfsbereitschaft der Bevölkerung?

Im reifen Lichte der späteren Nachmittagsstunden – und in einer feierlich gehobenen Stimmung, als wären sie schon an ihrem eigentlichen Bestimmungsort angelangt – nähern sie sich dem Zeltlager. Immer aufs neue fliegt ihnen der Ruf voraus: »Der König Stephan kommt! Der König Stephan und die Königin Ellenor!« und lockt allenthalben die Knaben und 185 Mädchen aus ihren lustigen Behausungen hervor, damit sie endlich diejenigen sehen, von denen sie schon so lange haben erzählen hören; und wie die Flüsse im Meer, so lösen sich die Scharen der Ankömmlinge auf in dem jubelnden Gewimmel der schon früher Angekommenen, die sich noch ganz von der Freude erfüllt zeigen, wie sie allen großen Begebenheiten in ihrer ersten Blüte eigen ist. Und niemals noch haben sie sich seliger zur Ruhe hingelegt als an diesem Abend, wo ihnen die Gesichter ihrer Schicksalsgenossen ein Spiegel ihrer eigenen gläubigen Hoffnung waren und ihnen zugleich den Ausblick auf die Wirklichkeit, die ihre Traumwelt umgibt, schonend verwehrten . . .

 


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