Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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41. Albrechts Rettung

Er fand mit Gertrud außerhalb der Stadt bei alten Fischersleuten Unterkunft und wartet dort mit ihr auf den Tag, an welchem sie sich einschiffen werden. Der greise Fischer, der fast täglich in die Stadt auf den Markt geht, hat ihnen versprochen, sie von der bevorstehenden Abfahrt rechtzeitig zu benachrichtigen. Aber obschon das Wetter jetzt günstig wäre, wird immer noch gezaudert – warum?

Es ist ein Septemberabend, welcher Himmel, Erde und Meer für eine selige Stunde in Wärme und Gold getaucht hält. Albrecht liegt droben an einem Abhang und blickt über die gekräuselte blaßblaue Wasserfläche hinweg, die sich aus der Umfriedung der braunen Uferberge mit einer großen Gebärde zum freien, hohen Horizont emporflüchtet: er denkt daran, daß sie beide bald in derselben Richtung einer fremden Welt und 233 einem unbekannten Schicksal entgegenfahren werden; und in seinen heimlichsten Überlegungen gesteht er sich ein, daß es nicht mehr der innerste Drang, sondern nur noch sein Gelübde ist, das ihn zur weitern Teilnahme an diesem gefährlichen Abenteuer bewegt. Sein Haupt, das derart Gefühle und Gedanken gegeneinander abwägt, ruht in Gertruds Schoß und läßt sich die golden rinnende Zeit von ihrer Hand abmessen, die in kurzen Zwischenräumen liebkosend über seine Stirne und durch sein Haar streicht, während ihre Blicke unverwandt auf dem nahen, mastenreichen Hafen ruhen.

Auf einmal sieht Albrecht, mit mächtig ausgebauchten Segeln und in nur geringen Abständen voneinander, sieben große Galeeren ausfahren. Weißschäumend teilt sich das Wasser vor den hohen Schiffsschnäbeln, welche mit der Kraft des Windes in die blaue Flut hineinbeißen und wie der Schnabel eines Raubvogels nach der Ferne gieren. Und als ob diese gewaltigen Meerwesen selber einen Gesang erhüben, klingt jetzt von ihnen her das fromme Kreuzlied, das die vielen Pilger angestimmt haben und dessen Töne sich bis an das Gestade verbreiten.

Albrecht springt auf, lauscht und starrt auf das Meer hinaus. »Die fahren nach dem heiligen Land!« schreit er. »Das sind die Unsrigen!« Dann wendet er sich nach Gertrud zurück, die sitzen geblieben ist und den Blick gesenkt hält. »Du – du hast es gewußt?«

»Sie fahren nicht nach dem heiligen Land!« versetzt Gertrud schlicht, indem sie ihre ehrlichen Augen zu ihm aufhebt. »Es sind Sklavenhändler, die sie alle nach Afrika hinüberschiffen und dort an die Ungläubigen verkaufen werden. Unser Wirt hörte es von dem Galeoten und anvertraute mir's –«

234 »Und du hast mir's nicht gesagt?« ruft Albrecht, immer noch ergrimmt, und schüttelt die Fäuste gen Himmel. »Ich hätte sie gerettet!«

»Du hättest dich nur selber ins Verderben gestürzt!« Gertrud spricht klar und voll Mut; ein schmerzlich tiefes und lange tapfer verhülltes Wissen findet endlich Worte. »Sie konnte weder ich noch sonst jemand, dich aber konnte ich vielleicht vor dem Untergang bewahren. Liebte ich dich, wenn ich mich lange bedacht hätte?«

Die Arme sinken Albrecht herab; und er wendet sich wieder dem Meere zu. Die sieben Galeeren sind unter dem frischen Wind schon so weit hinausgefahren, daß ihre Mastspitzen bereits die Horizontlinie überschneiden: alles Gold der Erde scheint ihre geschwellten Segel zu füllen und von ihnen in eine bessere Welt entführt zu werden. Die duftige, grünlich-weiße Ferne aber, die sie immer mehr in sich aufnimmt, indem sie sie kleiner und kleiner werden läßt, sie langsam in sich einfangend und gleichsam in ihrem eigenen, sterbenden Lichtduft auflösend, enthält auf einmal ein furchtbares Geheimnis, das nicht mehr geschaut, nur noch gewußt werden kann . . .

Albrecht starrt den Unglücklichen noch nach, wie schon lange nichts mehr als die leere, bleiche Ferne zu sehen ist. Er hat sich in stumpfer Ergebenheit hingesetzt und erkennt jetzt, daß er ihrem Schicksal gegenüber machtlos gewesen wäre; und endlich faßt er schüchtern und in wortloser Dankbarkeit Gertruds treue Hand. Dann schauen sie noch lange in den verglühenden Abend hinein, ein jedes den Arm um den lieben Leib des andern gelegt: Albrecht fühlt, daß alle Lockung des Überirdischen für immer von ihnen gewichen ist und daß Gott ihm in dem guten Mädchen an seiner Seite ein Stückchen heiligen Landes anvertraut hat, 235 das nicht minder den Einsatz und die Hingabe eines ganzen Lebens verlangt; Gertrud aber weiß, daß keine Versuchung der Sinne jemals mehr Macht über ihn oder sie gewinnen wird, und sieht mit einem stillen Lächeln dem Tag entgegen, wo sie ihn seiner Mutter zurückbringen und ein großes Geschenk mit einem gleich großen vergelten darf.

Langsam dämmert die Nacht hernieder; weit hinaus leuchtet zu ihren Füßen das im Hafen trügerisch-ruhig blinkende Meer. Warum segeln jetzt dort unter den glitzernden Sternen Tausende von Kindern in ihr Verderben hinein? Warum sind sie selber, gerade sie, davon bewahrt worden? Und immer wieder finden sich ihre Blicke, aus denen hinter der Lust ihrer gesunden Jugend stets reiner die unvergängliche Liebe der Seelen hervorglänzt und diese Frage beantwortet, ohne daß sie doch die Antwort mit dem Verstande begreifen könnten. Warum? Warum!

Endlich machen sie sich auf und wandern durch das Helldunkel der südlichen Nacht zu den guten Fischersleuten hinunter; ein innerstes Gefühl sagt ihnen, daß morgen ihre Schritte dem Norden, dem Land ihrer Geburt zugekehrt sein werden. Und siehe: Da sprießt in ihren Herzen – aus der Sicherheit des selbstgeschaffenen Schicksals heraus und nach all den glücklich überstandenen Gefahren – zum erstenmal wieder jener leise, zarte Übermut empor, welcher sich im Bewußtsein wechselseitiger Treue siegreich gegen alles Ungemach der Welt zu behaupten vermag. Oder sollten sie etwa nicht ihre Liebe miteinander genießen dürfen, wo sie auch jedes Leid miteinander zu ertragen bereit waren und das Leid der andern doch nicht wenden konnten? Im Gehen lehnt Gertrud das Haupt träumend an Albrechts rechte Brust und spricht, von seinem Arm umschlungen, 236 wie einen Klang aus der Heimat halblaut die alten Verse vor sich hin:

»Ich habe dich so gerne,
Wie der Mond die lieben Sterne;
Aber nicht nur aus weiter Ferne,
Nein, wie der Apfel seine Kerne . . .«

 
Ende des dritten Buches.

 


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