Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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29. Brigittes Verzweiflung

Die ganze Nacht hat Brigitte gewacht und gewartet, ob die nach allen Himmelsrichtungen auf die Suche ausgeschickten Dienstleute nicht mit den Vermißten zurückkehrten. Jetzt geht die Sonne auf, und sie sind immer noch nicht da: sie weiß, die Bestürzung, die sich gestern nach der Rückkehr aus dem Dom der ganzen Hochzeitsgesellschaft bemächtigte, als einige der angesehensten Festteilnehmer ihre Kinder nicht mehr vorfanden, muß zu einer dunklen Trauer werden, aus welcher stündlich jeder Hoffnungsschimmer entschiedener verschwindet, und wird zuletzt, als eine einzige Nacht des Grams über ihr, über ihr zusammenschlagen. Denn was brauchte sie diese zarteste Jugend ohne jede Bewachung am Burgrain aufzustellen?

O, sie ist die Unglückselige, von der nie ein Mann etwas wissen sollte; und welcher der Allmächtige im Himmel nicht nur selber keine Kinder gegönnt hat, sondern überdies noch den Fluch auflud, die Kinder der andern ins Verderben zu schicken! Unter dem Vorwand, den heimkehrenden Kundschaftern entgegengehen zu wollen, überschreitet sie die Zugbrücke: sie denkt nicht daran, daß sie noch das Festgewand trägt und das blaue Band im Haar, denn all ihre Sorge gehört den verloren gegangenen Kindern; und kaum daß sie sich außerhalb des Gesichtskreises der Burg fühlt, fängt sie in sinnloser Verzweiflung an, unermüdlich durch Wald und Feld zu rennen, als könnte sie damit nicht nur den vorwurfsvollen Blicken der beraubten Väter und Mütter, sondern auch dem Bewußtsein der Schuld tief in ihrem Herzen entrinnen. 347 Wie manchen Bach hat sie schon durchwatet? Durch wieviele Dornhecken ist sie schon hindurchgebrochen? Mit beschmutztem und zerrissenem Gewand wirft sie sich endlich, erschöpft vom Laufen und ermattet von der immer heißer brennenden Sonne, im Baumschatten eines bewaldeten Wegbordes zu Boden, vor sich das weite, blühende Land, zwischen ihm und sich aber ihre alles verdunkelnde Verzweiflung.

Da kommt mit Fahnen und Kreuzen ein Trüpplein Kinder daher, mit zerlumpten Kleidern angetan, mit bleichen, hohlen Wangen und dunklen, fiebrig glänzenden Augen. Wie unbeschwerte rastlose Geister wandern sie dahin; keiner Hitze unterworfen, keine Müdigkeit kennend; nur dem eigenen Willen gehorsam, der sich durch nichts sein fernes Ziel verrücken läßt: denn den Hunger, der in ihnen wühlt, haben sie schon zu Hause gespürt. Wohl sehen sie Brigittes flackernde, unruhig suchende Blicke auf sich gerichtet; aber ihr Mund bleibt stumm, und ihr Auge wendet sich alsbald wieder von ihr ab – wieviele schon der ihrigen haben sie nicht anders am Wege zurückgelassen, als sie auch dieses unbekannte Fräulein hinter sich lassen werden?

»Wohin geht ihr, liebe Kinder?«

»Zu unserm König. Und mit ihm ins heilige Land . . .«

Und schon sind sie vorüber; und bald auch ihr aus dem Gesichte verschwunden. Aber ihre Sehnsucht nehmen sie mit sich – Könnte sie nicht am Grabe des Erlösers Verzeihung und Erlösung finden? Und sind am Ende nicht auch die vermißten süßen Kleinen einer solchen Kinderschar nachgelaufen, von denen sie ihnen in ihrer Verblendung erzählt hatte? Vielleicht – vielleicht wird sie unterwegs mit ihnen zusammentreffen und kann sie selber in die Heimat zurückbringen!

348 Und plötzlich steht sie aus ihrem bohrenden Nachsinnen auf, entschlossen, diesen jungen Kreuzfahrern nachzufolgen. Aber ach, sie findet sie nicht mehr: schon bei der ersten Weggabelung muß sie die falsche Richtung eingeschlagen haben! Und so wandert sie wieder allein vor sich hin, in den sinkenden Tag hinein, Gott anrufend und sich die Haare zerraufend; und wie die Dämmerung hereingebrochen ist und zuletzt die Nacht alles Land in eine einzige Finsternis hüllt, bricht sie einsam irgendwo auf dem Felde zusammen, in tödlicher Müdigkeit.

Und niemand kommt und hebt sie auf. Nicht einmal ein wildes Tier naht sich, um ihr Elend zu beschnuppern. Von Gott und Teufel gleicherweise verlassen, so schläft sie unter einem unbarmherzigen Himmel ihrem neuen Schicksal entgegen . . .

 


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