Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6. Isa und der Graf

»Und jetzt sag' ich euch Eines: in diesem Schweiß und Schmutz können wir nicht weitermarschieren! – Heraus aus euren Hemden und gebt sie alle mir, damit ich sie waschen kann hier im Tobel! – Bis ihr den Nachtmarsch ausgeschlafen habt, ist das letzte Fähnlein wieder trocken; die Luft ist ja schon jetzt heiß wie in einem Backofen . . .«

Wer von den Jünglingen und Mädchen überhaupt noch ein Hemd trägt, zieht es müde aus und wirft es ihr hin. »Wenn wir die Isa nicht hätten!« lächelt ein Mädchen und legt sich wieder in den Schatten der Steineichen zurück, von denen sie eine Gruppe für die Rast während der größten Hitze ausersehen haben. Und Isa knüpft alle die Hudeln zu einem großen Bündel zusammen und trägt es auf dem Kopf in die Schlucht hinunter, wo sie am Bachufer alsbald ein paar große, flache Steine entdeckt, die sich zum Scheuern und Putzen eignen.

Indem sie so hinabsteigt, die Last auf ihrem Haupte vorsichtig im Gleichgewicht erhaltend, spürt sie immer mehr, daß auch ihre Glieder schmerzen und auch ihr Leib sich nach Sauberkeit sehnt. Kaum hat sie die schmutzigen Hüllen der andern zwischen zwei Blöcken eingelegt, so entkleidet sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, ihren Oberkörper; und wie sie erst die Wonne kostet, nicht nur mit den Lungen, sondern sogar mit der Haut atmen zu dürfen, wirft sie, nach einem kurzen, sichernden Rundblick, auch noch ihr dünnes Röcklein von sich und beginnt, vertrauend auf die Einsamkeit des Ortes, in froher Nacktheit bedächtig das 24 rauschende, quirlende Wasser zu durchstapfen. Die Wellen schäumen ihr spritzend um Knöchel und Waden und bereiten ihren Schritten einen lustvollen Widerstand.

Sie weiß nicht, daß auf der andern Seite der waldigen Schlucht ein steiler Weg seine Windungen bis an ihren Rand vorschiebt. Sie hört auch nicht bei dem lebhaften, fast vorlauten Geplauder des Baches, daß auf ihm, in nur geringer Höhe über ihr, Pferdegetrappel anhält; und sie ahnt noch viel weniger, daß jetzt ein bejahrter Ritter mit seligem Erschrecken durch das wirre Geäst der Bäume auf sie herniederblickt. Sie ist eben auf eine seichte sandige Stelle geraten, wo sich's gut stehen läßt und der Bach ihr nur bis an die Knie reicht; und mit all dem Ernste einer notwendigen Beschäftigung fängt sie an, sich das Wasser über ihre runden Schultern und festen Brüste zu gießen.

Der alte Graf aber, der abgestiegen ist und sein Pferd dem in einiger Entfernung wartenden Knecht überlassen hat, hält sich hinter einer der Steineichen verborgen, die auch auf dem andern Hange der Schlucht ihre verkrüppelten Arme in die Höhe recken, und staunt das nackte Mädchen unten im Bach wie ein Auferstehungswunder an. Ist das nicht das junge Weib, das ihm vor zwanzig Jahren von der Seite wegstarb und das er nie hat vergessen können? Dieselbe süße Abdachung der Hüften; derselbe holde Übergang in die schlanken und doch kräftigen Schenkel; dasselbe kindliche Spiel der Arme, bei welchem die beiden Busenknospen bald sich aneinanderdrängen, bald auseinanderfliehen! Und ebendieses aufgeknotete rote Haar hatte sie, das in der Sonne bei jeder Bewegung des Hauptes wie ein glänzender Goldklumpen schimmert; und dieselbe köstliche weiße Haut, auf welcher es wie von goldigem Sande glitzert – Ist es 25 möglich, daß ein menschliches Wesen zweimal über diese Erde wandelt?

Auf einmal bleibt Isa vornübergebeugt unbeweglich stehen. Was hat sie im Wasser entdeckt? Einen Zug kleiner Fischlein, welche zutraulich zwischen ihren gleich Säulen festgewurzelten Beinen hindurchschwänzeln und immer wieder aufs neue silbern blitzende Purzelbäume schlagen. Mit Neugier und Andacht verfolgt sie das Spiel dieser kleinen Wesen, die dort, wo sie aus dem Schatten ihres Leibes in die Sonne hineingeraten, jedesmal so durchsichtig verklärt werden, daß sie Mühe hat, sie im Auge zu behalten; und wenn ihr eines kaum merklich die Haut streift oder sie mit seiner stumpfen Nase anstößt, so lächeln ihm ihre Lippen zu und tut sie, um es nicht zu erschrecken, keinen Zuck mit den Gliedern.

Der Graf ist den Hang hinuntergestiegen und schreitet, in der einen Hand einen kleinen Vogelbauer tragend, bis ans Ufer des Baches, dessen Geräusche das Geräusch seiner Tritte vollständig übertönt; und wie Isa endlich wieder aufblickt, hat sie, wie aus dem Boden gewachsen, einen freundlich nickenden graubärtigen Mann im braunen Jagdwams vor sich. Sie kann in dem Gerölle des Baches nicht fliehen; und sie könnte auch nicht, selbst wenn ihr dazu Zeit gegeben würde, ihre Kleider anziehen, denn auch die hat sie bereits eingeweicht: und so bricht sie denn, nach der ersten Überraschung über ihre Hilflosigkeit, in ein herzhaftes Lachen aus. Sie deutet nach der ein paar Schritte weiter unten eingelegten Wäsche, dann nach dem waldigen Vorsprung hinauf, hinter dem ihre Schicksalsgefährten im Schlafe liegen; und zuletzt gibt sie – da jetzt das weiße Kreuz nicht auf ihrer Brust, sondern im Wasser liegt – mit Worten die Erklärung ab: »Wir gehören zu denen, die nach dem heiligen Lande reisen!«

26 »Du hast von mir nichts zu fürchten!« erwidert der Graf. »Ich gehöre, wie sie hierzulande sagen, zu den Ketzern; und auch über euch Knaben und Mädchen verlautet nicht viel Besseres, weil ihr auf eigene Faust das Grab des Erlösers befreien wollt. Aber daß dir nichts Schlimmeres geschieht, laß mich hier bei dir Wache halten, bis du mit deiner Wäsche fertig bist und zu den Deinen zurückkehren kannst! Hab auch keine Scheu vor mir; denn dein Anblick erinnert mich an mein verstorbenes junges Weib und tut meinen Augen sonderbar wohl. Sie war ein Kind wie du . . .«

»Wenn Ihr mir Schutz leiht, guter Herr, warum sollte ich Euch da nicht gefallen wollen?« lacht Isa treuherzig dem graubärtigen Ritter ins Gesicht, der nur wenige Schritte von ihr entfernt zwischen den Felsblöcken steht. Dann watet sie durch die Strömung ans Ufer, trippelt über die spitzen, harten Steine vorsichtig, und oft mit rasch ausgestreckten Armen sich das Gleichgewicht bewahrend, zu ihren Kleidern zurück und beginnt, bei ihnen niederkniend, ein kurzes, aber heftiges Scheuern und Schwenken. Endlich windet sie sie so kräftig aus, daß die Muskeln ihrer Arme unter der weißen Haut hin und wieder spielen und zwischen ihnen die runden Brüste fast ängstlich sich aneinanderschmiegen, worauf sie jedes Stück ausgebreitet auf zwei sonnenheiße Felsblöcke zum Trocknen hinlegt.

»Wie heißt du?«

»Isa.«

Doch schon kniet sie abermals auf den glatten Steinen und reinigt nun auch die eingeweichte Wäsche der andern mit solchem Eifer, daß ihr alsbald die Schweißtropfen auf Stirne und Hals hervorquellen. Dazwischen sieht sie immer wieder nach, ob ihre Kleider noch nicht hinlänglich trocken sind; und sowie ein 27 Hineinschlüpfen überhaupt möglich ist, wirft sie sie über, wobei sie die feuchte Kühle nicht unangenehm empfindet. Jetzt hat sie auch die übrige Wäsche ausgewunden und ausgebreitet und steht, mit ihrer Arbeit fertig, vor dem alten Grafen, der sie immerfort betrachtet, als könnte er ihres Anblickes nicht satt werden.

»Wenn du nicht ein Gelübde getan hättest, nach dem heiligen Lande zu wallfahrten, ich sagte wohl: Komm zu mir auf meine Burg! Aber auch wenn das nicht wäre: Du bist jung und ich bin alt; ich will dein Schicksal nicht mit dem meinigen verknüpfen. Und wahrscheinlich denkst du auch über das Leben anders als ich! Genug, daß du mir eine Freude gemacht hast, wie ich sie erst im Jenseits zu finden hoffte, wenn ich die wieder antreffe, deren Schwester du sein könntest –«

»Was habt Ihr hier für einen Käfig, guter Herr?« fragt Isa, die fühlt, daß sie ganz rot geworden ist. »Ach, eine Taube ist drin! Gewiß hat das arme Tierchen Durst –« Und sie reicht ihm in einem hohlen Steinchen Wasser durch die Holzstäbe hindurch und freut sich, wie es das wenige Naß sofort zu schlürfen beginnt.

»Diese Taube will ich dir schenken, Isa!«

»Mir?«

»Kind, ich möchte dich zum Danke für das, was ich an dir erleben durfte, so lange und so weit ich kann mit meinem Schutz umgeben –«

»Wie meint Ihr das, Herr?«

»Ich führe diese Taube stets bei mir, wenn ich die Burg verlasse. Wir Andersgläubigen sind je länger je weniger des Lebens sicher. Darum, wo immer ich hingehe, schreibe ich erst den Namen des Ortes auf einen kleinen Streifen Pergament und schiebe ihn der Taube unter den Flügel – Sieh, hier!«

28 »Und dann?«

»Dann? Wenn mir etwas zustößt, so lasse ich die Taube frei: sie fliegt sofort zur Burg zurück; und meine Leute wissen, wo sie mich zu suchen haben. Wir halten mehrere solcher Tauben; die hier hat einen goldenen Fußring.«

»Aber ich kann nicht schreiben!«

»So läßt du sie einfach sonst fliegen; ich weiß, wo ihr durchzieht, um nach Marseille zu kommen. Gelangst du aber ungefährdet dorthin, so steck ihr bei der Ausfahrt aus dem Hafen eine Strähne deines roten Haares unter die Schwinge: und ich darf denken, du hast dieses furchtbare Land hinter dir und schwimmst auf dem Meere, dem heiligen Land entgegen. Dort bete für einen alten Mann, der schon lange ohne Glück ist . . .«

»Aber dann habt Ihr ja keine Taube mehr bei Euch, lieber Herr!?«

»Mein Knecht, der dort oben die Pferde hält, hat noch eine . . . Sieh, deine Wäsche ist schon fast trocken! – Leb wohl.«

Isa nimmt mit der einen Hand den Vogelbauer entgegen und legt die andere in die des Grafen. Ihr ist, als sollte sie ihn vieles fragen; ihr ist, als sollte sie ihm vieles sagen und gestehen. Seit dem Tode ihres Vaters hat kein Mann mehr so väterlich zu ihr gesprochen!

Aber wie sie endlich wieder zu sich kommt, ist seine würdige Gestalt spurlos verschwunden. Die Schlucht gähnt ihr leer entgegen: der Bach rauscht plötzlich stärker an ihr Ohr; und die bewegte Luft trägt ihr einen harten Hauch von wasserüberspültem Gefelse entgegen. Sie fühlt über sie hereinbrechend eine Einsamkeit und eine Angst, die von allem, was sie bisher erlebte, gänzlich verschieden ist.

29 Wie – dieses Land sollte furchtbar sein? Und vollends die Ketzer, von denen die Leute sich so schlimme Dinge erzählten: die hatte sie sich ganz anders vorgestellt . . .

Sie steigt, mit der trockenen Wäsche auf dem Kopf und mit dem Vogelbauer in der Hand, wieder zu den Steineichen hinauf, wo ihre Reisegefährten schlafen. Lange betrachtet sie die Knaben und Mädchen, die halbnackt und nichtsahnend daliegen, mit den stumm-ehrlichen Gebärden ihrer Glieder ihre Zusammengehörigkeit und die Art ihres Verhältnisses zueinander verratend, und wie einen Heiltrank den Schlummer in sich einschlürfend. Sie kommt sich vor, als sei sie diesem Nest argloser Jugendseligkeit zur Wächterin bestellt, die selber nicht teilhaben darf an der Freude derer, die sich ihr anvertrauen.

Wie sind Paul und Antonie, Peter und Cäcilie so friedlich aneinandergeschmiegt! Sie liest in ihren Gesichtern die neue Schrift des Schicksals, das unvermerkt an die Stelle des gestillten Übermutes Innigkeit und Treue gesetzt hat. Warum findet nur sie den Arm und die Brust nicht, wo sie sich zur Ruhe legen könnte? Wo mag der junge Held jetzt reiten, der sie einst zu sich auf sein Pferd hob?

Aber nein: Es war wohl ein Irrtum; nicht nur ein äußerliches, sondern auch ein innerliches Aneinandervorbeigreifen. O, sie wüßte jetzt eine andere Stätte, zu welcher ihr Herz »Heimat« sagen wollte, wenn sie es nur dürfte! Und sie setzt sich hin, um das Erwachen der glücklichen Schläfer abzuwarten; und blickt der Taube in dem Käfig auf ihrem Schoße so lange in die klugen Augen, bis das Tierchen sich auf einmal heftig schüttelt. Eine bittere Träne ist ihm auf den Schnabel gefallen . . . 30

 


 << zurück weiter >>