Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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36. Stephan beim Einsiedler

Stephan erwacht; blickt auf Ellenor, welche in ihren aufgelösten Haaren schläft; gewahrt vorn in dem geöffneten Kleid ihre kleinen, zarten, weißleuchtenden Brüste – und erinnert sich mit tiefem Grauen an das, was er erlebt hat. Dann späht er durch die Zeltöffnung über das Lager des Kreuzheeres hin: zu Hunderten liegt die zusammengeströmte Jugend, nur notdürftig das warme Blut bedeckt, schlummernd im Schlummer 202 der Sommernacht, die eben im Osten vor dem bleichgrün-purpurrot heraufquellenden Tag ihren Sternenmantel rafft. Und ein bitteres Gefühl seelischen Verrates an seinem Glaubensvorbild erfüllt ihn bis zum Ersticken, zwingt ihm wie einem noch zuletzt schambefallenen Dieb den matten Körper auf die Beine und treibt ihn von dem geliebten Mädchen und all den vielen andern, die auf ihn vertrauen, in die Einsamkeit hinweg.

Er hat seinen Gott preisgegeben; er, der die Ewigkeit suchte, ist im Begriff, in die vergänglichste Vergänglichkeit zurückzusinken! Wie er an einem Acker vorbeikommt, ergreift ihn die tierische Lust, sich über die braune, noch vom Dämmer begraute Scholle zu werfen und beide Hände tief in die Erde zu wühlen. Was hat denn er, der den Himmel sucht, vor kurzem anderes tun wollen? Ihn trieb es, sich über ein menschliches Erdreich hinzuwerfen, es zu zerreißen, aufzuwühlen, zu durchpflügen in jener Raserei des Selbstopfers, das er gesonnen war ungestüm zu fordern und darzubringen. Aber vorausahnend spürte er plötzlich die Qual unzähliger Geschlechter, welche sich mit immer dem nämlichen Wahn in die Arme schließen, um stets wie er – aber zu spät! – zu der furchtbaren Erkenntnis zu erwachen, daß sie sich nicht dem ewigen Gott vereinigt, sondern nur zu der endlosen Wiederkehr von Saat und Ernte verdammt haben . . . So wankt er, im nachklingenden Widerstreit seiner Gefühle und Gedanken, als ein Verzweifelter durch den südlich aufglühenden Morgen, vollends nach der Küste hinunter.

Rot bricht das Geflamme des Ostens durch schwarzgrün geästete, voll stummer Selbstbescheidung in das wasserhelle All aufgreifende Pinienkronen. Wie braust und saust es ihm entgegen, als wäre der Geist Gottes in ihnen eingefangen und 203 machte sich in einem sanften Säuseln bemerkbar, aus welchem doch die im Überreden wie im Überwinden gleich gewaltige Macht herausklingt! Von einem kaum sichtbaren Pfad geführt, gerät er zuletzt auf einen abschüssigen plattigen Felsenhang hinaus, über den hinweg er zwischen den Stämmen hindurch in der Tiefe das Meer gewahrt: ein listiges Geblinzel flimmert auf der blauen Ungeheuerlichkeit, die drunten, in abgemessenen Zwischenräumen, weiß aufsprudelnd an den felsigen Strand heranrauscht und zur Zwiesprache mit den sausenden Baumkronen einen kühlen Ewigkeitshauch durch den steilen Hain emporsendet.

Immer das Gleiche! Immer das Gleiche! flüstert das silberne Wellenspiel kühl schauernd in Stephans Seele hinein und überwältigt in ihr die Sehnsucht, welche vor diesem Ausblick leise wieder erwachen will, mit allmächtiger Hoffnungslosigkeit. Er reißt die Augen auf und sieht es plötzlich in morgenklarer Schau vor sich: Immer wieder wird die Menschheit nach dem heiligen Grabe wandern; immer wieder eine neue Jugend aufstehen und das bittere Warum des Daseins in den Himmel hinaufschleudern, bevor sie sich mit den wenigen süßen Früchten dieser Erde zu trösten lernt – und damit der Erde verfallen bleibt! Noch nach tausend Jahren wird irgendeiner, wie er jetzt, in die aufgehende Sonne hineinstarren und nicht begreifen, wozu sich der Himmel mit seinen Sternen weiter im Kreise dreht und wozu ein Geschlecht das andere in dieses Leben stößt . . .

Der Pfad wird deutlicher; und allmählich zeigt er sich aus der immer jäher hier aufstrebenden, dort abfallenden Felswand mit Bedacht herausgehauen und schwenkt zuletzt, über einige Stufen hinaufkletternd, um einen Vorsprung herum. Wer 204 wohnt in dieser Waldeinsamkeit und bleibt doch mit den Menschen in Berührung, daß er sich diesen Zugang herstellte und gangbar erhält? Ist es nicht, als ob ihm hier einer vorausgeschritten wäre; wie ein Wegweiser Gottes, dem er nachfolgen soll – und nachfolgen will?

Plötzlich sieht Stephan auf einer flach in die freie Luft hinausragenden Felsenkanzel, vor einer in das Gestein des Berges eingebauten Klause, einen weißbärtigen, klaräugigen Mönch auf einer Bank sitzen. Der Greis hält die Arme über einem Buch verschränkt, das geschlossen auf einer von einem Baumstumpf getragenen Steinplatte liegt, und schaut über die besonnten Pinienwipfel der Tiefe hinweg auf das weit sich breitende Meer hinunter; und so unbeweglich starrt er in seiner Betrachtung vor sich hin, als wäre er aus demselben Stein wie seine Behausung und die Bank, auf der er sitzt, gemeißelt und ließe sich eben so unbekümmert, wie die Felswand in seinem Rücken, von den blauen Wellen und ihrem weißen Strandgestrudel die Jahrhunderte zu Füßen legen. Um einen hohlen Baumstamm in der Nähe schwärmen eifrig Bienen und vermengen ihr Gesumme mit dem silbernen Geräusche der Brandung und dem dunkelgrünen Sausen der Bäume zu einem einzigen Beben und Erschauern des in morgendlicher Frische aufatmenden Lebens.

»Frommer Vater, hilf mir an Gottes Statt!« ruft Stephan und fällt auf der obersten Stufe mit dem Gefühl in die Knie, den Ort gefunden zu haben, nach welchem ihn die Zweifel seines Herzens ausziehen ließen.

Der Einsiedler wendet ruhig das Haupt nach ihm um und taucht den Blick, in welchem noch eben die Seligkeit einer seelischen Fernsicht leuchtete, mühelos forschend in seine 205 flehenden, unruhig flackernden Augen. Was gibt es hier anderes als unverzügliche, restlose Beichte, wenn er jemals wieder gesunden soll? Er senkt die Wimpern und stammelt: »Ich wollte die Menschen erlösen – und liebe ein Weib . . .«

»Das haben andere vor dir getan!« tönt es da friedevoll von den Lippen des Alten; und ein verstehendes und verzeihendes Lächeln überspielt kaum merklich seine würdigen Züge. »Deine Schuld ist nicht, daß du ein Weib liebst, sondern daß du andere erlösen willst; denn der Mensch kann nur sich selbst erlösen . . . Erlöst dich deine Liebe, so danke Gott dafür!«

»Sie erlöst mich nicht!« ächzt Stephan und schüttelt heftig das schamvoll gebeugte Haupt. »Sie stürzt mich in Zweifel und Verwirrung und nimmt mir all meine Kraft: ich spüre deutlich jene selbe höllische Macht in ihr, welche die Menschen in solcher Eifersucht aufeinander hetzt, daß sie sich schlimmer als wilde Tiere zerreißen. Und ich Tor suchte die ewige Seligkeit und rief Tausende von Jünglingen und Mädchen zur Fahrt ins heilige Land auf, um dort das Gottesreich des immerwährenden Friedens zu errichten –«

»Du suchst, was alles Leben zuletzt von selber findet: den Tod! Alles Ewige mit seiner lockenden Ruhe – der Busen eines geliebten Weibes so gut wie das Friedensreich, das du in Jerusalem gründen willst – ist nichts anderes als die stets wechselnde Maske des Todes!« Die Stimme des alten Mannes klingt in der felsigen Einsamkeit wie ein Richterspruch. Und Stephan schaut erschüttert zu seinem Munde auf und lauscht, wie er die weiteren Worte formt: »Warum willst du nicht in Selbstbescheidung, so gut wie die andern Menschen, dieses vergängliche Leben leben, wo dir doch das Unvergängliche, das Geheimnisvolle, das Göttliche drüben vorbehalten bleibt?«

206 »Ehrwürdiger Vater, hast nicht auch du dich von den Menschen zurückgezogen?« wagt Stephan die Frage. Ein Rätsel umwebt in seinen Augen die greise Gestalt mit dem silberig flimmernden Bart und treibt ihn an, es zu ergründen, als fände er darin gleichzeitig die Offenbarung seines eigenen Lebensrätsels. Und er hört in der Stille die Wellen rauschen, die Pinien säuseln und die Bienen summen.

»Will ich die Menschen erlösen? Ich warte darauf, daß Gott mich erlöst –« versetzt der Einsiedler; und abermals bewegt ein leises Lächeln seine verborgenen Lippen. Dann aber denkt er nicht mehr an seinen jugendlichen Besuch. Sein eigenes Leid tritt ihm verdüsternd in den Blick und führt die Rede weiter. »Ich staune das lichte Wunder an, daß Gott den Menschen seinen Sohn sandte; und ich denke über das dunkle Wunder nach, daß die Menschen, die Christus ans Kreuz schlugen, zur Strafe dafür bis auf den heutigen Tag sich selber kreuzigen müssen, indem sie die Liebe, die er lehrte, in Haß verwandeln und in Blut ertränken –«

»O!« schreit Stephan heraus und erhebt, noch in der Erinnerung schaudernd, beide Arme. »Ich bin geschwommen in dem Blut, das sie hierzulande vergießen! Mein Glaube an die heilige Kirche ist in ihm untergegangen, mein Glaube an Gott Vater erschüttert worden; denn nicht nur die Menschen befehden und vernichten sich: nein, überall, wo ich hinschaue, wütet ein Kampf aller gegen alle! Wenn jedes Wesen in Frieden sein Leben leben und dann sterben könnte, ich vermöchte Gott zu begreifen – aber weißt du mir eine einzige Blume, die ungestört blühen und verwelken darf? Ist es nicht, als habe Gott alle Wesen nur dazu geschaffen, um sie gegeneinander in einen ewigen Vernichtungskrieg zu schicken? Und sollte nicht, wenn wir 207 das einmal erkannt haben, unser Mund zu einem ununterbrochenen Entsetzensschrei offenstehen?«

»Damit die Menschen vergessen können, was sie erkannt haben, hat Gott ihnen gegeben, was sonst kein Wesen hat: eine Lebensaufgabe!« Mild und feierlich klingt auf einmal die Stimme des alten Mannes. »So ist es deine Lebensaufgabe, alle diejenigen, die dir gefolgt sind, nach dem heiligen Grabe zu führen und mit ihnen Gott anzuflehen, daß er jedem die ihm heilsame Erleuchtung sende! Du aber sollst deine Lebensaufgabe nicht verwünschen, weil sie schwer auf dir lastet: sondern du sollst sie lieben, weil sie dich mit glücklicher Blindheit schlägt für das Unbegreifliche; und weil auch diese Aufgabe selber, als etwas Gottgewolltes, auf dich vertraut, daß du sie, soweit es in deinen Kräften steht, vollendest! Und auch alles andere, das auf dich vertraut, sollst und darfst du lieben; auch das Mädchen, das dich liebt, wie ein Weib liebt. Denn in deine Hand ist es gegeben, ob sein Leib ein Gefäß der Sünde oder ein Gefäß der Seele sein wird . . .«

Da küßt Stephan, der sich vor dem Einsiedler niedergeworfen und die Knöchel seiner Füße umklammert hat, den Saum seiner Mönchskutte und erhebt sich, auch innerlich aufgerichtet. Wie eine Verführung zum erneuten mutigen Ergreifen des Lebens will ihn auf einmal der kühle Meerwind umwehen; sein Auge schweift auf die wellig bewegte blaue Flut hinaus, die den klaren Himmel zurückleuchtet und vom Silber der Sonne schimmert. Und trotzdem! – »Warum,« ruft er plötzlich mit schmerzlicher Heftigkeit; »warum ist die Welt so berauschend schön und doch so furchtbar in ihrem Grunde? Was war denn dir, frommer Vater, heilsame Erleuchtung, daß dir kein Wagen und Wandern mehr nottut, um die Sehnsucht des Herzens 208 zu stillen? – Sag mir zum Abschied das Geheimnis deines Friedens!«

Der Greis wendet sich von ihm ab: sein Blick verliert sich wieder in der Ferne; und er spricht leise, wie mit sich selbst. »Ich habe gelernt, die Welt zu nehmen, wie sie ist. Des Menschen Seele singt zweistimmig: Gott und Teufel spielen gleicherweise auf ihr! Aber was ist der Teufel anderes als das notwendige Widerspiel Gottes, ohne das er nicht sein könnte und ohne das du deiner nicht bewußt würdest? – Doch das Geheimnis aller Geheimnisse künde ich dir jetzt! Liegen nicht, gleichwie alle deine Werke und Taten in deinen Gedanken ein leidloses Leben führen, so auch alle Schöpfungen dieser Welt leidlos in Gottes Geiste beschlossen? Warum müssen sie aus ihm in ein Dasein treten, das wir Wirklichkeit nennen, obschon es nichts Unwirklicheres, nichts Hinfälligeres, nichts Vergänglicheres gibt? – Niemand weiß es! Niemand weiß auch, warum und wie lange dieses Schauspiel gespielt wird! Aber wird es nicht, wie jedes Schauspiel, ein Ende haben? Wird nicht am jüngsten Tage die Welt ein Ende nehmen und Gott in die eigene Seligkeit zurückgekehrt sein? Darum beherzige dieses Wort auf deinem Weg: Das Leben ertragen, aber nicht weitergeben . . .« Er streicht mehrmals mit der Hand über seinen Bart, als ob er eine Verwirrung, die er durch Stephans Dazwischenkunft erlitt, wieder ausglättete; dann sitzt er aufs neue unbeweglich da, wie aus dem Fels gehauen, der seine Wohnung ist, hält die vor sich hingelegten Arme über dem Buche gekreuzt, das ihm längst nichts mehr zu sagen vermag, und beschaut aus klaren Augensternen das zwischen den Pinienstämmen heraufleuchtende Meer.

Stephan hört wieder die Bienen summen, die Wipfel tosen und die Brandung rauschen. Er nimmt mit einem letzten Blicke 209 das Bild des greisen Mannes tief in sich auf und wendet sich unvermerkt, ohne einen Abschied in Worten zu wagen, zum Gehen; und die vernommenen Worte überdenkend, schreitet er mit wunderbar bewegter Seele denselben Pfad, den er gekommen ist, durch den steigenden Vormittag zurück. Er weiß, daß jetzt der Geist des Einsiedlers wieder in Betrachtung über dieser bittern Welt schwebt; und er fühlt sich ebenfalls in seine entrückte Höhe hinaufgehoben zu erneuter, umfassenderer Schau.

Das Leben ertragen, aber nicht weitergeben! Wo hat er schon einmal etwas Ähnliches gehört? Da reckt sich vor seinem geistigen Auge der schwarze Ketzerjüngling in den Bügeln empor und schleudert ihm vom weiß schäumenden Rappen herab sein Bekenntnis ins Gesicht. Und eben diesen Unglauben gäbe ihm der fromme Mann hier mit auf den Weg? Aber kann es dann noch Unglaube sein; und ist nicht vielleicht die Kirche im Unrecht? Plötzlich fühlt er sich von einem Lichte umgeben, von welchem er blitzartig spürt, daß es ihm eine unvergängliche Erkenntnis bescheren wird. Er bleibt stehen, schaut in die über ihm sausenden Pinien hinein und lauscht mit weit offenen Sinnen in das blaue All hinaus, ob er auch recht verstanden habe –

Lasset die Kindlein zu mir kommen . . . Wie oft vernahmen sie dieses Wort, von gläubigen Lippen am Wege, zur Rechtfertigung ihres tollkühnen Unternehmens! Und so ist es auch: Lasset die Kindlein zu mir kommen! sprach Christus. Aber er hat keine in dieses Leben hineingeschickt!!! Er, Gottes Sohn, welcher so tief dem Vater gehorsam war, daß er noch unter der Dornenkrone das Wort sprach: Herr, dein Wille geschehe! – er hat kein Weib berührt; keine Menschen von Fleisch und 210 Blut gezeugt; den Schöpfer selber vor der Versuchung bewahrt, neue Seelen in dieses Dasein zu stoßen.

So ist am Ende diese ganze Welt nicht Gottes Wille, sondern Gottes Zwang?? Und wer sich diesem Zwange widersetzt, hülfe der Gottheit, sich selbst zu befreien, sich zu sich selbst zurückzufinden? »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« Das ist die Wallfahrt aller derer, für welche die Güter dieser Welt noch nichts oder nichts mehr bedeuten, nach dem reinen Geiste Gottes. »Denn ihrer ist das Himmelreich!« Welches Gott selber neben der dunklen Nötigung des Schaffenmüssens sich bewahren möchte und worin ihn der erleuchtete Mensch unterstützen soll! Und ein ungeheures Geheimnis steht plötzlich vor Stephan. Braucht nicht nur das Geschöpf die Barmherzigkeit seines Schöpfers, sondern vielleicht auch der Schöpfer das Erbarmen seines Geschöpfes?

Lasset die Kindlein zu mir kommen! Was tut er denn anderes als Hunderte, Tausende frommer Kinder ihm entgegenführen? Das heilige Land wird die Weide sein, wo sie alle miteinander die Erleuchtung suchen, welche von Christus gefunden wurde, von machtgierigen Kaisern und Päpsten aber, die nie genug Soldaten und Gläubige sehen können, wieder verdunkelt worden ist: Das Leben ertragen; aber nicht weitergeben . . . Und heißt es nicht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!? Wer aber würde sich selber ein zweites Mal in diese Welt hineinschicken, wenn er sich wirklich liebt? Wahrlich, von überallher klingen ihm die Worte Christi zu demselben Sinn zusammen, welcher ihm den Beweis liefert, wie wunderbar seine eigene, über diese Welt hinauszielende Sehnsucht übereinstimmt mit jener des Gottessohnes, welcher den Menschen vergebens begreiflich zu machen suchte, daß sein Reich nicht von 211 dieser Welt sei . . . Und also zwischen Kirche und Ketzerei hindurch will er nur noch dem nachfolgen, welcher das Wesensgeheimnis des Schöpfers doch wohl am besten gekannt haben muß . . .

Wie Stephan sich dem Lager nähert, bemerkt er schon von weitem unter den Jünglingen und Mädchen eine große Aufregung und Verwirrung; und aus dem Rufen, mit denen sie ihm, sobald sie seiner ansichtig werden, entgegeneilen, entnimmt er, daß seine Abwesenheit die Schuld daran trug. Allen voran stürmt Ellenor, die ihn im ganzen Umkreis vergebens gesucht hatte und schon das schlimmste für ihn fürchtete; und uneingedenk der Tatsache, daß er sie des Nachts von sich stieß, umschlingt sie ihn in atemloser Freude, küßt ihn ohne alle Scheu vor den andern auf den Mund und beruhigt sich erst, wie ihr Haupt an seiner Brust liegt. Er aber fühlt, indem er ihr warm pulsendes Wesen in seinen Armen hält, die tröstliche Wahrheit jenes Wortes, daß es bei ihm liege, ob ihr süßer junger Leib ein Gefäß der Sünde oder der Seele sein wird – und während seine Hand besänftigend über ihr blondes, seidenfeines Haar hinstreicht, schaut er in dem hellbesonnten Gefilde die zahllosen Kinderscharen, welche von ihm die Lenkung ihrer Geschicke erwarten und – das ist seine Lebensaufgabe! – in ihrer Hoffnung nicht getäuscht werden dürfen; und hinter den Hügeln und Zelten gewahrt er wie etwas Neues das Häusergewirre der Stadt und die blaue Bucht des Meerhafens, aus welchem die Schiffe nach dem heiligen Lande ausfahren sollten, aber nicht fahren wollen . . . 212

 


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