Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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8. Erste Anwerbung

»Wer da?«

Die Brückenwache tritt vor und fällt die Spieße.

»Fromme Pilger nach dem heiligen Lande!« raunt Christian mit gedämpfter Stimme vor den wilden Gesichtern. »Der König aller gläubigen Kinder begehrt Einlaß!«

Die Spieße weichen auseinander. Die Ochsen ziehen den Wagen durch das Stadttor. Wer wollte dem Glauben den Einzug verwehren? Und schon rollen sie in den kühlen Schatten der eng aneinandergebauten Häuser hinein und hallt das Geräusch der Räder vor ihnen her.

Von den Fenstern schauen verwunderte Augen herab; aus den Türen kommen neugierige Beine hervor. Um die beiden Knaben, die mit ihrem Kreuz auf der Brust vorn am Holzgeländer stehen, heben sich erstaunte Arme hoch. Überall in der Gasse tauchen Köpfe auf – Wohin wollen die? Nach Jerusalem?

»Führt ihr einen Toten mit, daß ihn der Herr auferwecke?« spotten einige der Nebenhergehenden, die sich an den Sparren festhalten.

31 »Still! Still! Er schläft immer noch!« antwortet Markus von dem ratternden Wagen herab. »Er hat selber einen Toten auferweckt!«

»Mich hat er auferweckt, der ich schon die glühenden Zangen der Teufel fühlte und die Ungeheuer des höllischen Pechpfuhles auf mich zukommen sah!« bricht der Bauer vor allen in ein lautes Bekenntnis aus; und auf seiner braunen, zerarbeiteten Stirn, um seinen tief im Bart versteckten Mund kämpfen immer noch Schreck und fromme Scheu miteinander. »Dieser Knabe, den Christus uns sendet, hat im Namen Gottes ein Wunder an mir getan!«

Da horchen alle auf und schauen bald auf den Bauer, bald auf den schlafenden Stephan. Und es kommen immer mehr Männer und Frauen zusammen und geben dem seltsamen Fuhrwerk das Geleite – und einer ruft es dem andern zu; und von Mund zu Mund verbreitet sich vorauseilend die Kunde in der Stadt: »Kinder sind gekommen, die nach dem heiligen Lande pilgern! So hat uns der Mönch doch recht berichtet!« Und bis sie den Marktplatz erreicht haben, drängt sich das von seiner Arbeit weggeeilte Volk bereits so dicht, daß der Wagen nicht mehr weiter kann: jeder will über die Schultern seines Vordermannes hinweg den wundertätigen Schläfer erschauen.

»Seht, er bewegt die Lippen! – Seht, jetzt erwacht er! – Er richtet sich auf!«

Mit dunklen Augen schaut Stephan um sich, aus jenseitsfernen Träumen zum irdischen Leben zurückkehrend. Und während er sich vollends erhebt und den Blick fragend über die vielköpfige Menge hingleiten läßt, stützen ihn Lukas und Markus und flüstern ihm zu: »Es ist wahr geworden, was du uns verheißen hast! Wir fahren nach dem heiligen Lande!« Da schaut 32 er schweigend zum Himmel auf und faltet die Hände zu einem stummen, brünstigen Gebet.

Und während er seinem Gotte dankt und alle, die mit ihrer Sehnsucht an ihm hangen, in sein Gebet mit einschließt, erzählt in der Menge der Bauer Christian mit dumpfen Schreckensgebärden immer aufs neue, was ihm widerfuhr und wie er gerettet wurde. Und immer mehr Blicke heben sich von ihm zu dem betenden Hirtenknaben empor und fragen sich, mit jedem Herzschlag weniger zweifelnd und glühender hoffend, ob nicht damit die Wendung und das Ende aller Dinge anhebe, daß ein armer Hirtenbub unternimmt, was die Großen und Mächtigen dieser Erde haben liegen lassen. Nicht nur in jedem Einzelnen, sondern auch in der gesamten, beständig wachsenden Menge schlägt stärker und stärker der Puls eines tatenfrohen Willens und bereitet sich ein Ausbruch vor, dem ähnlich, wenn Feuer flammend in ein reifes Ährenfeld fällt.

»Dank sei dir, frommer Jüngling! Aber hast du diesen Mann hier aus den Krallen des Bösen errettet, so rette auch uns und die ganze sündige Welt! Sei du unser Führer, du, der vom Herrn erwählte König von Jerusalem!«

Eine helle Mädchenstimme ruft irgendwoher diese Worte. Und auch die beiden Knaben auf dem Wagen erheben flehend die Hände: es ist, als ob sie ihre und aller Bitten seinem stillen Gebete einverleiben wollten; als ob erst jetzt ihr großer Entschluß wirksam werden sollte, weil sie ihn vor aller Welt verkünden. Und siehe! wie ein Echo bricht aus dem Volke hervor, was sie selber empfinden: bald hier, bald dort wirft sich ein Mann, eine Frau verzweifelt aufschreiend in die Knie; und ein frommer Schauder verbreitet sich wie ein Hauch göttlichen Geistes über die zerknirscht gebeugten Rücken hinweg und 33 erfaßt mit einem Schlage auch die Hintersten, eben Herbeigeeilten.

»So helft ihr mir, wenn ich euch helfen soll!« ruft da Stephan in die aufgewühlten Menschen hinein, deren überquellendes Leid ihn mit hundert Armen aus der Zwiesprache mit Gott auf die Erde herabgezerrt hat. »Helft mir, daß das Grab Christi nicht mehr länger in der Gewalt der Heiden bleibe, sondern unser sei und unser auch der Geist des Herrn! Euch frage ich an, ihr Knaben und Mädchen: Wie sollte uns der Herr erlösen, wenn wir ihn nicht erlösen? Kommt mit: Zieht mit uns in das heilige Land! Nehmt wie ich das Kreuz! Mit diesen Armen möchte ich euch alle umfassen und euch dem entgegenführen, der euch mit noch größerer Liebe, als ich es tun kann, umfangen wird! – Auf, nach Jerusalem!«

Seine Stimme hat sich wie ein Schrei selbstvergessener Hingabe emporgeschwungen und ist gleich einem Adler auf die Herzen der Jugend herabgestoßen: sie springen auf, von einem übermächtigen Geist und Vorsatz ergriffen. Die Männer und Frauen stehen da und sehen erschüttert, wie in Stephans bleichem Gesicht die dunklen Augen vom Leid der Welt glühen, das auch sie wohl immer in einem letzten Winkel ihrer Seele mitfühlten, erst jetzt aber wie einen herzzerwühlenden Schmerz empfinden; und fast will sie ein Neid befallen angesichts der Begeisterung all der Knaben und Mädchen, welche Stephan, diesem Befreier ihres heiligsten Wollens, unaufhörlich seine letzten Worte nachsprechen, nein, sie ihm als eine feierliche Bestätigung entgegenjubeln – »Auf, nach Jerusalem!« tönt es mit himmlisch fortreißender Gewalt durch das Häuser- und Gassengewirr des Städtchens und weht den Ruf in die dumpfeste Stube hinein, wie einen Lufthauch von dem großen Strom glaubensstarken 34 Geschehens, welcher soviel leichtbewegliche Gemüter in seinen Bann gezogen hat.

Also die Kinder! Also die Unmündigen werden das große Werk aufnehmen, über welchem die Alten und Erfahrenen schon so oft matt und mutlos die Arme niedersinken ließen. Steht es nicht schon in der heiligen Schrift geschrieben? »Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich!«? Nun ist die Zeit erfüllt und der Tag erschienen! Haltet sie nicht zurück, ihr Väter und Mütter, die ihr sie einst auf diesen Glauben tauftet, nun sich die Kraft des Glaubens an ihnen zu erwahren beginnt! Gebt ihnen aus vollem Herzen euren Segen; und mit vollen Händen, was des Leibes Notdurft ist! Stellt sie und ihre hohe Sache Gott anheim! Seid nicht minder stark im Opfern als diese Jugend, die sich selber opfern will!

Von allen Seiten werden Vorräte zu Stephans Wagen hergeschafft. Der Bauer Christian erzählt immer neuen Gruppen, wie ihn das Gebet Stephans aus den Martern der Hölle ins Leben zurückriß; und Stephan sieht mit kindlich staunender Freude, wie ihm das Volk Brot, Öl, Eier, Kleider, Schuhe und sonstige Gaben gutmütig-gebelustig darbringt. Nicht die drei Könige aus dem Morgenlande sind es diesmal, die dem Jesuskinde ihre Schätze zuführen, sondern wackere Bürger und Bürgersfrauen, die mit wohlüberdachter Fürsorge das mit Blitzesklarheit erschaute große Unternehmen seines neuen Propheten fördern möchten.

Die Stadt ist wie von einem Rausche erfaßt. Die Knaben schnitzen Kreuze; Kreuzeszeichen werden allen auf die Gewänder geheftet; eine Kreuzesfahne flattert bereits von einer Stange herab und wird auf dem Marktplatz herumgetragen. Dazwischen umarmen die Mädchen die Mutter und versprechen unter 35 Tränen, am heiligen Grabe für sie zu beten; und der Vater schnallt seinem Buben eigenhändig für alle Fälle einen leichten Degen um und beschaut hernach den jungen Glaubensstreiter mit einem streng prüfenden Blick, der ihm selber die Fassung bewahren soll. Und alle sind sie im Geiste schon in Jerusalem! Jerusalem ist ihnen so nahe; so nahe wie die Erfüllung eines Wunsches im Traum.

Und sie erinnern sich an die Berichte ihrer Großväter, die es selber wieder von ihren Großeltern gehört hatten: wie sich vom Himmel herab eine Begeisterung auf die Menschen stürzte, als zum erstenmal ein großer Kreuzzug beschlossen wurde. »Gott will es!« riefen damals die Ritter in Helm und Harnisch; und jetzt dünkt es die Staunenden, als gleiße das Sonnenlicht von den steilen Dächern abermals die Himmelsbotschaft »Gott will es!« in die von barhäuptigen Kindern durchwimmelten schattigen Gassen hinunter. Und selbst dem zuhinterst in dunkler Werkstatt in seine Arbeit Verbissenen ahnt etwas davon, es möchte die harte Welt für einmal wieder von der Wärme eines nahenden Wunders erweicht und die Grenze zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit über Nacht verschoben worden sein.

Beim Mittagessen sitzen sie alle, Erwachsene und Kinder, wie auf Kohlen. Bereits geht die Kunde um, daß zwei weitere Fuhrwerke ausgerüstet werden, so viele Knaben und Mädchen »haben das Kreuz genommen«; und unaufhörlich hört man von der Gasse herauf das Getrippel wanderlustiger Füße. Jetzt zieht Stephans Wagen durch die Stadt hindurch; die andern schließen sich ihm der Reihe nach an; und im Laufe des Nachmittags kommen am entgegengesetzten Tor alle Bürger zusammen, um die jungen Pilger abfahren zu sehen.

Schon sind sie zum Aufbruch bereit, da nähert sich der 36 Stadtälteste mit der Kirchenfahne in der Hand, auf welcher die allerheiligste Jungfrau das Jesuskindlein auf dem Schoße trägt. Er kniet mit steifen, zitterigen Knien vor Stephan nieder, streckt sie ihm auf den Wagen hinauf entgegen und flüstert mit zahnlos bebendem Munde: »Trag du sie! Die Himmelsmutter selber mag euch zum Grabe ihres Sohnes führen!« Und Stephan nimmt das fromme Banner, schwingt es dreimal – im Namen des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes – über den Häuptern seiner Schar und ruft ein letztes Mal: »Auf, nach Jerusalem!«

Geschrei, vielfältiges, tränenersticktes Lebewohl, Hand- und Tücherschwenken. Die Ochsen ziehen an; die Wagen knarren und holpern; die Räder rollen. Unterm Torbogen durch und über die Brücke hinweg: in das weite Land hinaus, wo Wälder und Wiesen sind. Heiliger Frühling, du lockst sie! Heilige Sehnsucht, du treibst sie! Und den Zurückbleibenden schwellen die Herzen und versagen die Worte. Das ist Jugend: den Glauben haben an etwas!

Sie blicken ihnen nach, solange ein Auge sie erreichen kann. Die Wagen werden immer kleiner; das Banner flattert immer undeutlicher. Und in den Schleier der Tränen hinein flicht sich der Schleier der Dämmerung und zuletzt, wie die Sonne gesunken ist, das Dunkel der Nacht. Sterne glitzern auf über den Mauern und Türmen; ein Fenster nach dem andern erhellt sich.

Kaum ein Tisch, an dem nicht ein Stuhl leer stünde. Und sie falten die Hände und beten: für den Sohn, für die Tochter; für den Bruder, für die Schwester. Mag auch morgen die Sonne wieder aufgehen, das ungewisse Dunkel der Zukunft wird trennend zwischen ihnen bestehen bleiben.

37 Was für ein Schicksal ist über das Städtchen gekommen? Wie war es möglich, daß Eltern ihre Kinder hergaben und, mit der eigenen gläubigen Sehnsucht beschwert, in diese Welt hinausschickten?

Gott hat sie gerufen. Gott schütze sie!

 


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