Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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23. Einst und jetzt

Mit geschwellten Segeln rauscht das Schiff durch die tiefblaue Meeresflut dem immer deutlicher hervortretenden Häuserweiß der großen Hafenstadt zu. Es ist, als ob es dem Festland nicht nur zugetrieben, sondern auch von ihm angezogen würde; und noch tiefer, durch den Zauber der Erinnerung, wird der umflorte Blick Ellenors festgebannt, die zwischen einem Sklaven und einer Sklavin an der Brüstung steht. Ihr dünkt, als sei es erst gestern gewesen, daß sie mit Stephan und vielen hundert andern Jünglingen und Mädchen unter frommen Gesängen von diesem Gestade abfuhr, dem Ziel ihrer Sehnsucht entgegen.

Damals glaubte sie, die Heimat ihrer Seele liege im heiligen Lande; nun hat sie erfahren, daß ihr Herz kein heiligeres Land mehr kennt, als die Heimat, wo sie geboren wurde und zum 359 erstenmal das Licht der Welt erblickte: sie wird erst dann wieder glücklich sein, wenn sie den Geruch der Wiesen und Wälder einatmet, welche die elterliche Burg umgeben, und das blasse Blau des Himmels schaut, der sich mit seinen Silberwolken über ihr wölbt. Und dennoch! Diese Sehnsucht, die sie beschwingte, solange sie auf ihrem Kamel durch die glühende Wüste ritt und das in Ferne und Tiefe unbegrenzte kühle Meer durchfuhr, erleidet eben jetzt, wo ihre Erfüllung anhebt und der neue Traum alte Wirklichkeit zu werden beginnt, eine erste Erschütterung. Sie fühlt die Wandlung, die das in der Zwischenzeit Erlebte in ihrer Seele bewirkt hat; und ihre Gedanken fangen an, nicht mehr nur nach vorwärts auszuschweifen und das Glück der Heimkehr auszukosten, sondern immer häufiger auch rückblickend das friedlich geborgene Leben zu umranken, das sie wie ein Märchen genießen durfte und in welchem sie von dem einen Wunsche ihrer Jugend nur dazu genas, einen andern in sich mächtig werden zu lassen.

In einem Gefühl innerer Schwäche und Übelkeit preßt Ellenor ihre bleichen Lippen zusammen, während sie auf das Gewimmel von Booten und das Gefuchtel schreiender Schiffsleute hinabstarrt, das überall den mächtigen Hafen erfüllt, in welchem der Schaum des Meeres und der Abschaum der Menschheit zusammenkommen. Aber sie sieht dieses Getriebe nur mit ihrem körperlichen Auge: vor dem Auge ihres Geistes steht deutlich der alternde Mann, der jetzt wieder von seiner langen, mühseligen Reise zurückgekehrt ist und vernommen haben muß, daß sie von seiner großmütigen Erlaubnis Gebrauch machte. Und ihr ist, als ob ihr aus den Blicken ihrer beiden Diener nicht nur die Treue und Ergebenheit entgegenträten, die sie ihr immer bewiesen haben, sondern gleichzeitig auch jener stille 360 Vorwurf, den in ihrem Innern eine unübertönbare Stimme wider sie erhebt.

Dann betritt sie wie alle andern das Land und wandert mit ihrem kleinen Gefolge durch die von dröhnendem, kreischendem Leben erfüllten Straßen, in welchen die weißwallenden Gewänder, wie sie sie tragen, zwar keine außergewöhnliche Erscheinung sind, aber doch immer wieder die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden erregen. Dichter noch als sonst verschleiert Ellenor ihr Gesicht und hüllt ihr Haupt ein, damit niemand erkennen soll, wie wenig sie in diese Tracht hineingehört, obschon sie mehr für sie ist als bloße Vermummung: Denn wenn sie sich jetzt wirklich wieder als Christin und auch im Herzen, nicht nur äußerlich, ihrer Heimat näher fühlte, warum wirft sie nicht ihre Kleider ab und bekennt sich nach Sprache und Gewandung zu den Menschen dieses Landes? Aber an Stelle der hohen, in schweigender Würde wandelnden Gestalten, mit dem weißen Turban und dem weißen, in natürlichen Falten umgeworfenen Burnus vor dem blauen Himmel, umwirbelt sie hier ein schmutziges, zerlumptes Gesindel, das in barhäuptig-schamlosem Getriebe und Gelärme seinem täglichen Vorteil nachhastet; und in ihrer Seele trägt sie das Bild des Mannes, der ihr mit väterlicher Milde und Güte begegnet war – und dem sie entfloh.

Der Sklave, der die Stadt kennt, führt sie in eine Herberge, in welcher die »Heiden« abzusteigen pflegen; und dort sinkt Ellenor auf ein Lager und verfällt in einen tiefen Schlummer. Am andern Tag erwacht sie und erwacht doch nicht: Wie eine Nachtwandlerin schreitet sie mit ihrem Diener und ihrer Dienerin durch die volkdurchwimmelten Straßen und vor die hohen Mauern hinaus und sucht die Hügel ab, wo einst die Zelte des 361 jugendlichen Kreuzfahrerheeres standen, als deren »Königin« sie sich glaubte fühlen zu dürfen – nun ist sie eine wirkliche Herrin, und doch soviel elender als damals! Unschwer findet sie den Ort, an welchem neben ihrem und Stephans Zelt das große Kreuzbanner angstvoll flatterte und knatterte in jener Nacht, in welcher sie vergebens erwartete, zum Weibe erweckt zu werden.

Wo in aller Welt lebt jetzt wohl dieser bleiche Hirtenknabe, der in ihnen allen eine so glühende Hingabe an Christus entzündet hatte? Als sie drüben auf ihrem Kamel auf den Hafenplatz hereinritt, wo sie seinerzeit mit all den andern unglücklichen Kindern landete, war ihr ganz plötzlich wieder der Gedanke an ihn gekommen; aber da liefen nur braune Lastträger umher: alles verschwunden wie ein Traum, der nie Wirklichkeit besaß. Nun ist es nicht der Ritter mit dem Falken; nicht der junge Mönch Eustachius mit den dunkelbrennenden Augen; nicht Stephan im staubgrauen Schaffell – sondern jener arabische Kaufherr und Stammeshäuptling, welcher mehr, als sie sich's selber eingesteht, ihre Liebe erwarb und immer noch besitzt. Und es ist nicht nur Liebe der Sinne, sondern in steigendem Maße auch Liebe der Seele, was sie immer wieder an ihn zurückdenken und sie im Geiste um so mehr zu ihm zurückkehren läßt, als sie sich körperlich von ihm entfernt und sich von ihm getrennt weiß . . .

Von einem Tag auf den andern schiebt sie den Aufbruch zu ihrer Heimreise hinaus, weil ihr das Meer wie ein letztes Band zwischen diesem und jenem Ufer erscheint, das abzureißen sie nicht den Mut findet. Bis zuletzt der Sklave vor sie hintritt und zu ihr sagt: »Herrin, wenn du mich wirklich zurückschicken willst – mein Schiff fährt heute Abend!«; und die Dienerin, die sie auf 362 dem Lager sitzen und entgeistert zu Boden starren sieht, vor ihr auf die Knie fällt und sie so laut und heftig beschwört, daß das Weiß ihrer Augen sich verdreht: »Kehren wir alle zusammen zu unserm Herrn zurück!« Aber indem Ellenor ihren heimlichsten Gedanken laut vor sich ausgesprochen hört, wird ihr zugleich auch bewußt, wie unmöglich es für sie ist, ihm nachzugeben: sie schämt sich zu tief vor sich selbst, um sich ihrem Gatten als reuige Flüchtige auf Gnade oder Ungnade zu Füßen zu werfen; und wenn sie auch nicht daran zweifelt, daß er ihr voll Nachsicht verzeihen würde, so weiß sie doch ebensogut, daß ihre Rückkehr nicht von langer Dauer sein könnte.

»Will der Mensch sein Glück? Er will sein Schicksal; und das ist es auch allein, was ihm ohne Abzug zuteil wird . . .« Sie hört diese Worte so deutlich, als spräche sie seine tiefe Stimme eben jetzt vor ihr. Und daß ihr Schicksal darin besteht, daß sie als Weib diesem Manne angehört und als Mensch doch in einer andern Welt verwurzelt ist, das tritt ihr allmählich mit unbarmherziger Klarheit vor Augen: sie schlägt beide Hände vor ihr Gesicht und bricht in ein langes, bitteres Weinen aus, als könnte sie den Abgrund, der sich vor ihr öffnet, mit der unerschöpflichen Flut ihrer Tränen ausfüllen. Dabei quillt ihr die Fülle ihres goldenen Haares zu beiden Seiten unter dem Kopftuch hervor; und wie sie als Kind oft ein kleines Weh mit diesem ihrem natürlichen Schmucke abtrocknete, so versucht sie es auch jetzt mit diesem größten Leid ihres Lebens, als ob sie sich dadurch wieder in die soviel leichtere und lichtere Jugendzeit zurückversetzen könnte – und plötzlich blickt sie erstaunt und mit einem fast glücklichen Lächeln auf das leuchtende Lockengold in ihren Händen.

»Hol eine Schere!« befiehlt sie der Dienerin. Und sie fängt 363 selber an, sich die größten Wellen abzuschneiden; und dann hält sie demütig ihr Haupt hin, damit die Dienerin das begonnene Opferwerk vollende. Locke für Locke nimmt sie von ihr entgegen und legt sie in den über ihre Knie gebreiteten Gesichtsschleier – »Ich brauche ihn nicht mehr!« flüstert sie; und indem sie ihn zusammengeknotet dem Sklaven übergibt: »Geh! Bring diesen letzten Gruß meinem geliebten Herrn!«

Der Sklave nimmt und geht. Ellenor aber wandert mit ihrer Dienerin zur Stadt hinaus und sucht auf den Hügeln, wo sie einst mit den Kreuzfahrerkindern lagerte, den alten Glauben und die alte Sehnsucht wieder. An der Stelle ihres Königszeltes sitzt sie lange da – mit ihrem unverschleierten geschorenen Pagenhaupt ein um so seltsamerer Anblick für alle, die sie sehen, als noch die fremden Gewänder sie umwallen –; und sie betrachtet lange und unbeweglich das Meer, bis ein Schiff mit vollen Segeln sanft dem Hafen zu entgleiten beginnt. Es trägt ihr goldenes Vließ vor die Augen des Mannes, den sie heißer als jemals liebt und der ihrer fortan wie einer Toten gedenken wird.

Sie fühlt, daß der grausamste Schmerz der ist, den man sich selber nicht ersparen kann; und sie ruft ihren ganzen Stolz wach, um das selbstbewirkte Schicksal mit Würde zu tragen. Aber ob sie auch die Kraft dazu hat? Ob sie nicht viel eher in dem Kampfe mit sich selbst jeden Widerstand aufgeben und nur noch wie ein geschlagenes Kind der Heimat zustreben wird, um sich denen zu Füßen zu werfen, die ihr das Leben gaben? Die heimatliche Burg steht vor ihrer Seele, groß und herrlich aus ihren Wäldern aufragend; und wie sie den steilen Rain hinaufkeucht und zusammenbrechen will vor Mattigkeit, so treten Vater und Mutter zu ihr, heben sie liebreich vom Boden auf und flüstern ihr zu: 364 »Getrost, liebes Kind! Sieh dich um und erwache! Alles war nur ein Traum!«

Da zuckt sie plötzlich zusammen und starrt nicht mehr in die Fernen des Traumes, sondern faßt eine aus den tiefsten Tiefen ihres Wesens aufsteigende neue Wirklichkeit ins Auge, erschreckt und beseligt zugleich. Wenn sie für den Mann, den sie liebt, nur noch soviel wie eine Abgeschiedene war, sollte das Wunder geschehen, daß er in ihr zu einem neuen Leben auferstehen will? Hat sie ihn nicht nur in ihre Seele, sondern auch in ihr formendes Blut aufgenommen; und bleibt sie nun mit ihm in einem höchsten Sinne für alle Ewigkeit vereinigt? Mit geschlossenen Lidern lauscht sie in sich hinein, bis sie, überwältigt von einer Gewißheit, die ihr die ersehnte Heimkehr zu einer seltsamen Qual macht, mit einem hilflosen Seufzer ihrer Dienerin in die Arme sinkt . . .

 


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