Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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49. Totentanz

Niemand weiß, wo sie hergekommen sind . . .

In den Dom hinein, in welchem die Bürgerschaft zur sonntäglichen Andacht versammelt ist, schrillen die Töne einer Querpfeife. Und wie die Erschreckten die Köpfe herumschnellen, vom kalten Schauder des Unverhofften angeweht, sehen sie ihn durch den Mittelgang des Längsschiffes schwarz zwischen ihnen hindurchschreiten. Den Herrscher Tod!

Und hinter ihm, in einem Abstand des Grauens und doch 228 von der Macht des Schicksals angezogen, folgen willenlos, stumm an der unsichtbaren Kette der Notwendigkeit, seine Opfer. Der stolze König mit der Krone; der schmunzelnde Klosterbruder, dem die Nase glüht; der greise Bauer, dessen Hand kaum mehr den Spaten halten kann; das gierige Wucherweib, seine schweren Geldsäcke schleppend; der gelehrte Arzt, würdig in Barett und Mantel; die lebenslustige Dirn mit den nackten Schultern; die Edelfrau in Witwentracht und weißer Binde; der Kriegsknecht, der nur an sein Schwert glaubt; das bleiche kranke Mädchen mit dem welken Kranz im Haar; die Mutter, in zärtlicher Sorge über das Kind auf ihren Armen gebeugt. Wunder! Sie alle steigen mit ihm die Stufen zum Chor hinauf; machen dort um ihn, den dunklen Herrscher in ihrer Mitte, zweimal die Runde – gleichwie die Katze um den heißen Brei herumgeht –; und werden von ihm in der gleichen Weise begrüßt, wie sie ihn selber in ihrem Innern grüßen . . .

Priester und Chorknaben sind erbleichend auf die Seite gewichen. Ist es der wirkliche Tod, der unter Geweihte und Ungeweihte getreten ist? Wen wird er zuerst von diesem bunten Mummenschanz abrufen? Horch, da tönt die Pfeife unsichtbar draußen vor dem Dom, dessen hohe Halle sie umfängt wie das Himmelsgewölbe diese Welt! In der Hand des furchtbaren Gebieters vor ihnen aber ist sie zum finstern Zepter geworden, mit dem er winkt – wem zuerst? Dem König.

Der trotzt und knirscht gegen ihn an; aber der Tod ist der Stärkere im Trotzen und Befehlen: tanzen muß er mit ihm den Hochmutstanz, bis er atemlos in die Vernichtung hineintaumelt und regungslos gebrochen wieder im Kreise steht . . . Und das Mönchlein, das als zweiter an der Reihe ist: wie entsetzt kratzt es sich im Haar und starrt fragend gen Himmel! 229 Nützt ihm alles nichts: es darf zusammen mit dem grinsenden Partner so lange seine Kutte schwenken, bis es neben dem König, und gleich diesem, zum letzten Stillstand kommt . . . Wieviel freundlicher ist da der Schwarze mit dem alten Bauer! Er hilft ihm die steifen Glieder regen in seinem plumpen Ländler; und er hält nachsichtig inne, wie der Greis plötzlich Himmelstöne zu hören glaubt und verzückt lauscht, bevor er seine letzten ungelenken Sprünge macht . . . Das Wucherweib aber – siehe! – fällt er wie der Teufel an. Wohl hält es ihn mit ausgestrecktem Arm, zu welchem sich der entsetzte Blick zu verlängern scheint, seinem welken Leibe fern; aber hohnlachend zielt er der Vettel über seinen eigenen, ihr straff entgegengestreckten Arm in Augen und Herz. Und so wirbeln sie beide um ihre verkrampften Hände im Kreise herum, bis die Alte mit den Geldsäcken an ihren Platz zurückgetorkelt ist . . . Dem gelehrten Arzt dagegen naht er als Freund, der ihn sachte auf jene Höhe der Betrachtung führt, von wo aus die vorgefühlte Weite eines neuen Daseins frei überblickt wird. Er legt ihm den Arm um die Schulter und geleitet ihn sanft hinüber als einer, den er am Bett hoffnungslos Erkrankter schon so oft erflehte und der ihm nun selber den letzten Dienst erweisen will. Und so von einem Wissenden wird er empfangen . . . Doch jetzt, welch ein neuer Kampf mit der lebensprühenden Dirn! Dieses Erbleichen, wie sie plötzlich in ihrem Spiegel statt der eigenen Schönheit sein dunkles Gesicht erblickt, das mit weißen Augäpfeln und weißen Zähnen ihr ernst über die Schulter zulächelt! Vergebens wirft sie seinen harten, schwarzen Gliedern lockend und trotzend ihren blühend schwellenden Leib entgegen: zuletzt muß sie doch dem unerwünschten Freier die Hand reichen und, allmählich ermattend, ihm ihr junges Leben in den Armen 230 lassen . . . Da tritt er an die geduldig wartende Witwe heran, vor deren Leid er sich nicht minder in Ehrfurcht verneigt, als sie in demütiger Fassung vor ihm, dem endlich Erschienenen, es tut. Ihr gemeinsamer Tanz ist ein feierliches Schreiten; ein würdevoller Einklang von äußerem Sollen und innerem Wollen; eine hohe Achtung vor dem Notwendigen, wie vor der Bereitwilligkeit sich ihm zu fügen. Es ist, als würde der Plan des erfüllten Daseins noch einmal mit Verständnis, ohne jede Bitterkeit überblickt . . . Und mannhafter Einklang ist auch der letzte Gang, den der kraftstrotzende Kriegsknecht mit ihm zusammen unternimmt, nachdem sie sich mit steil emporschnellendem Arm wie zur ehrlichen Herausforderung begrüßt haben. Der Tod selbst flüstert ihm, wie ihn dennoch ein Grauen befallen will, die Erinnerung an seinen in so mancher Schlacht bewiesenen Mut zu und stählt seinen Willen zu einem letzten, stolzen Paradeschritt. Groß ist, wer will, was er muß . . . Das kranke Mägdlein aber führt er, gütig stützend und helfend, wie in einem Garten der Genesung im Kreise herum und drückt ihm, nachdem es auf seinen Platz zurückgekehrt ist, einen milden Kuß auf die Stirn. Es ist der erste und letzte Manneskuß, den es zu seiner Erlösung erfährt . . . Und endlich – siehe! nimmt er der Mutter gar wiegend das Kindlein ab, ehe er sie beide in seine dunkle Obhut nimmt . . .

Damit ist sein Tagewerk vollendet; aus allen Ständen und Schichten des Volkes heraus hat er sein Heer geworben. Hoch hebt er sein Zepter empor, schreitet die Chorstufen herab in den Mittelgang des großen Schiffes, wo sich die Kirchenbesucher mit fahlen Gesichtern und erlöschenden Blicken erhoben haben, als müßten auch sie dem furchtbaren Herrscher und seinem ihm stumpfergeben nachtrottenden Menschengesinde als nächste 231 Opfer sich anschließen; doch zugleich wagt sich bei den Beherzteren hinter dem bleichen Schrecken die Neugierde hervor, wer denn diese fremden Gaukler sein möchten und welche Absicht sie hergebracht hat. Da wendet sich der voraufschreitende Tod noch einmal zurück, so daß sie alle ihm in das tiefernste Antlitz schauen und auch der Verwegenste in seiner Bewegung erstarrt: wahrlich, nur die Gerufenen folgen ihm, der rückwärts schreitend sie nach sich lockt – im unentrinnbaren Banne seiner Blicke und der Töne, die er auf dem wieder zur Pfeife gewordenen Zepter bläst –, langsam zum Dome hinaus . . .

Kaum ist der letzte in der hellen Öffnung des Portals wie ein Schatten verschwunden, so drängen Männlein und Weiblein, Priester und Chorknaben unaufhaltsam nach. Doch wie der sonnenweiße Domplatz unterhalb der breiten Freitreppe vor ihnen liegt, da sehen sie wohl nach rechts die Figuren des Totentanzes in einer Gasse verschwinden – von links her aber wallt mit Kreuzen und Fahnen ein langer Zug Kinder auf den Platz herein. Er fesselt als neue unvermutete Erscheinung aller Blicke und bringt die Bewegung der aus der Kirche strömenden Volksmenge noch einmal zum Stillstand.

Seht dort den bleichen Knaben im Schaffell des Hirten, der das Muttergottesbanner hochhält! Seht neben ihm im zerschlissenen grünen Kleid das Fräulein mit den goldblonden Haaren! Tragen nicht beide einen Kranz von blutroten Rosen um die Stirn? Und hinter ihnen der hagere schwarze Mönch, der das große Kreuz umklammert! Und an seiner Seite das braune Mädchen mit den schwermütigen Augen! Und dann alle die vielen, die ein heißer Glaube zusammengeführt hat und in einem brünstigen Zuge dahintreibt –

Noch hört man die Töne der abziehenden Querpfeife, da 232 stimmen die jungen Kreuzfahrer mit himmelwärts gerichteten Blicken das Lied ihrer Sehnsucht an, mit welchem sie alle im irdischen Alltag verhärteten Seelen zum Bewußtsein ihrer verloren gegangenen Himmelsheimat wachrufen möchten:

»Nun laßt uns fromm in Scharen
So Berg als Tal durchfahren,
Bis wir das Land gewahren,
    Das uns der Glaube weist.

Was Schwert und Speer nicht taten,
Als sie der Stadt sich nahten,
Das muß dem Wort geraten,
    Das dich, Herr Jesus, preist.

Vorm Meer soll uns nicht bangen,
Zum Grab wir hingelangen,
Dort wird uns Gott empfangen:
    Uns schirmt der heilige Geist!«

»Das sind die Kinder, die nach Jerusalem pilgern!« geht ein Geflüster durch das erschauernde Volk.

Aber die Singenden haben keine Blicke für die zur Seite Stehenden und hinter ihnen Zurückbleibenden. Sie wandern – nur an ihren aus der Not des Herzens aufsteigenden Sang sich klammernd – über den weiten Platz hinweg. Und schon beginnen die vordersten in eben dieselbe Gasse einzuschwenken, in welcher die fremden Tänzer des Todes verschwunden sind, deren Pfeifentöne immer noch deutlich, wenn auch schwächer und ferner, durch das Lied jugendlichen Glaubens hindurch hörbar bleiben . . .

233 »Nicht dorthin!« ruft mit erstickter Stimme eine junge Frau beim Domportal. Da hat die Gasse auch die letzten der Kinder sich eingeschluckt! Und der große Platz, der kurze Zeit wie eine verlassene Szene dalag, wird überwimmelt von den heimkehrenden Kirchgängern.

Gut, daß nicht sie den unheimlichen Gestalten gefolgt sind! – Waren es wirklich nur fremde Gaukler, die da so plötzlich auftauchten? Oder war es eine Erscheinung, die ein Höherer vor ihre selbstgerechte Behaglichkeit hinstellte?

Wird man jemals erfahren, wo sie hergekommen sind? . . .

Und die Kinder?

Wer weiß, wohin die gehen . . . Wer weiß, was ihrer für ein Schicksal wartet . . .

Daß der heilige Vater in Rom solches zuläßt!

 


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