Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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25. Der Besuch des Johanniters

Immer noch darf niemand in der Burg von der Verlorenen reden . . .

Aber jetzt reden die blühenden Bäume von ihr. Der Himmel, der sich in süßem Blau über die selige Erde in noch seligere Fernen spannt. Die weißen Wolkenschiffe, auf die sich die verschwiegenen Wünsche schwingen, um rascher dem Orte ihrer Sehnsucht entgegengetragen zu werden.

Der Frühling ist zum zweitenmal ins Land gezogen, seit eine Woge verwegener Abenteuerlust soviel Jugend entraffte und auch ihr einziges Kind mit sich fortriß. Wohin? In den Martertod? In ein jämmerliches Verderben hinein? Die große Lockung, welcher damals die unverbrauchte Kraft junger Herzen erlag, glimmt in ihren alternden Seelen als dunkle Rast und Ratlosigkeit nach und läßt sie mit müden Gliedern die bekannten Wege abschreiten, mit verzweifelten Gedanken immer die gleichen Möglichkeiten erwägen.

Der Graf unternimmt wieder seine einsamen Ritte, welche ihn stets an die Stelle führen, wo die Mädchen mit ihren Knappen zusammentrafen, um dann mit ihnen heimlich davonzusprengen. Es knospet durch den Wald hin; und die weißen Sternblumen blühen im alten, toten Laub; und die Erde in ihrer ewigen Erneuerung weiß nichts mehr von dem, was geschehen ist: längst sind die vielen Hufeindrücke im Boden verschwunden, die damals, zusammen mit einem verloren daliegenden Handschuh, etwas Licht in das bittere Geheimnis brachten! Und ihn 369 verzehrt die Sehnsucht, das Rad der Zeit zurückdrehen zu können; und die Qual der Einsicht, daß in dieser Welt alles andere eher möglich ist, nur eben dieses nicht.

Die Gräfin wandert durch die Burg, von einem Gemach in das nächste, den Erinnerungen nach. Und immer gerät sie zuletzt in Ellenors Mädchenzimmer und kniet vor dem Bildwerk des Gekreuzigten nieder, von welchem sie damals ihre Tochter wegholte, als drunten im Saal der junge Ritter mit dem Falken wartete. Und dann nimmt sie Ellenors Sonntagskleider aus dem Schrank, hält die leeren Hülsen vor sich hin und schaut mit tränentrüben Blicken den jungen Leib in sie hinein, der Fleisch von ihrem Fleische war und Seele von ihrer Seele in sich trug.

In diesen Tagen besuchten sie unerwartet ihre Freunde von den benachbarten Burgen, die mit ihnen den gleichen Verlust erlitten hatten; die einen wußten nichts von den andern, und doch trafen sie fast zur selben Zeit ein. Und keiner wollte von dem Unglück reden; und zuletzt sprachen alle von nichts anderem: daß auch sie immer noch keine Kunde erhalten hätten von dem Verbleib ihrer Kinder; und daß auch sie sie verloren gäben für dieses Leben. Und zuletzt tauschten sie gegenseitig bange Vermutungen darüber aus, wie weit sie wohl gekommen sein möchten und welcher der Schicksalsschläge, die über den so gläubig ins Werk gesetzten Kreuzzug hereinbrachen, auch ihr Ende verursacht haben dürfte.

Die Gräfin hört Huftritte im Hof. Erscheint wieder einer dieser Besuche, bei welchen sie über den Pflichten der Hausfrau und Wirtin gar nicht dazu kommt, dem Leid ihres Mutterherzens Sprache zu geben? Und ihr Mann: Ist er noch auf seinem Ritte durch Wald und Feld begriffen; oder sitzt er schon wieder im Erker seines Gemaches bei einer Kanne Wein in bohrendem 370 Nachdenken? Wie sie das Zimmer betritt, ist es leer und still – nur aus den Rundbogenfenstern fächelt mit warmer Frühlingsluft die abendliche, goldig gleißende Ferne herein.

Da tönt seine Stimme draußen im Flur: »Bist du hier? Ein hoher Gast will empfangen sein!« Und wie sie sich umwendet, steht im schwarzen Mantel mit dem weißen Kreuz ein Johanniterritter vor ihr und verneigt sich mit höfischem Gruße. Ist es der Tod, den ihr Mann in den lichthellen Raum hereingeführt hat? Beim Anblick des bleichen Kreuzes krampft sich ihr Herz zusammen und irrt ihr Auge ängstlich fragend nach dem Gatten ab.

»Der Ritter reist nach Paris und bittet um ein Obdach,« erklärt der Graf. Und mit einem Seufzer fügt er hinzu: »Das bedeutet für uns nicht nur eine große Ehre, sondern auch eine seltene Freude! Wir sind ja für gewöhnlich so allein –«

»Willkommen! Willkommen bei uns, Ritter!« geht die Gräfin dem Fremdling entgegen. Und sie nimmt ihm selber den Mantel ab, während der Graf ihm das Schwert aushängt. Was wird er ihnen sonst noch bringen?

Dann führen sie den Gast auf sein Zimmer. Die Mägde sind schon daran, ihm das übliche warme Bad zu bereiten; und während der Weitgereiste sich von dem Staube tagelanger Landfahrt säubert, sehen die Wirte in Küche und Keller nach dem Rechten. Noch weilt die Helligkeit eines lichten Maienabends in dem Speisesaal, als sie sich endlich alle drei wieder zusammenfinden und um die gedeckte Tafel setzen.

»Ihr kommt aus dem heiligen Lande, Ritter?« hebt die Gräfin an, sobald die erste Eßlust gestillt ist und die Sitte ihr erlaubt, den Fremdling nach seinem Woher und Wohin zu fragen »Habt ihr da auch die vielen tausend Kinder ankommen sehen, die vor zwei Jahren aus unsern Gauen nach Palästina zogen, 371 um mit waffenlosen Händen das heilige Grab den Heiden zu entreißen und ein ewiges Friedensreich aufzurichten? Wieviele mögen wohl das Ziel ihrer Sehnsucht erreicht haben?«

Der Ritter betrachtet etwas verwundert seine Wirtin, welche mit tränengefüllten Augen starr an ihm vorbei und durch das offene Fenster in die Ferne hinausblickt, als träumte sie selber wie ein Vermächtnis den Traum weiter, dem ihr Kind einst gläubig nachzog.

»Ihr müßt wissen, Herr,« fügt der Graf mit gedämpfter Stimme hinzu, »daß damals auch unsere einzige Tochter das Kreuz nahm; und daß wir seither ohne jedes Lebenszeichen von ihr geblieben sind . . .«

»Gern würde ich euch Rede stehen und eure Gastfreundschaft mit einer guten Nachricht lohnen!« erwidert da der Ritter, der sich rasch in die Lage seiner Wirte hineinversetzt hat. »Aber in unserm Hospital zu Jerusalem haben wir von einem solchen Kreuzzug Unmündiger nie etwas gehört, geschweige denn ihn zu sehen bekommen. Erst als ich in Marseille ans Land stieg, vernahm ich von dort ansäßigen Bekannten von diesem schwärmerischen Unternehmen –«

»Ist es wahr, daß die meisten Kinder von Sklavenhändlern unter dem Versprechen, sie nach Syrien überzusetzen, eingeschifft, dann aber drüben in Afrika an die Heiden verkauft wurden?«

Die Gräfin hat ihre Hände vor der Brust gefaltet, als könnte sie dadurch ihr ganzes Wesen in Fassung halten und den jäh pochenden Schmerz ihres Herzens zurückdrängen. Was wird der Fremde antworten? Kommt er am Ende gar mit einer Trauerbotschaft, die er nur bis jetzt sich nicht auszurichten getraute?

372 Aber der Ritter zeigt sich ohne jede Verlegenheit und beginnt ihre Frage sehr sachlich also zu beantworten:

»Das ist leider wahr und allgemein bekannt; aber auch, daß diese Schurken seither ihr wohlverdientes Ende gefunden haben: der neue Kaiser, der junge Staufer, hat sie in Palermo aufgeknüpft. Indessen glaube ich kaum, daß die Kinder in Afrika größeren Gefahren ausgesetzt waren als auf dem ketzerischen Boden der Provence, wo es selbst für unsereinen nicht leicht ist, durch all die Greuel der sich befehdenden Parteien hindurch ohne Schaden an Leib und Gut davonzukommen; und was die Ungläubigen – oder vielmehr Andersgläubigen – anbelangt, so sind sie aus der Nähe betrachtet lange nicht so schlimm, wie die Rede von ihnen geht, sondern haben neben ihren Fehlern auch ihre Tugenden, wie alle Menschen. Bei uns in Palästina kommen wir so gut mit ihnen aus, daß wir es mit gemischten Gefühlen mitansehen, wenn dann und wann wieder größere Scharen Kreuzfahrer ans Land steigen und allen Ernstes glauben, sie können nichts Gottgefälligeres tun, als zwischen uns Ansäßigen und den Eingeborenen alten Hader neu entfachen . . . Es sollen übrigens von Afrika etliche Knaben wieder nach Marseille zurückgekehrt sein; und ich selber habe, etwa eine Woche landeinwärts entfernt, ein Abenteuer gehabt, das mich nur in der Ansicht bestärkt, die Heiden seien gelegentlich christlicher als die Bevölkerung hierzulande . . .«

»Trinkt, Herr!« spricht ihm der Graf zu, wie der Gast, einen Augenblick sich erinnernd, innehält; und er füllt ihm den Becher nach. »Dann erzählt uns Euer Erlebnis!«

»Ich ritt mit meinem Knecht in der Abenddämmerung – es war so zwischen Tag und Nacht wie jetzt –, als unweit von uns ein jämmerliches Geschrei weiblicher Stimmen anhub. Als 373 wir zur Stelle gesprengt kamen, sahen wir in einem Hohlweg zwei weißgekleidete Frauen liegen, von denen sich eben drei dunkle Gestalten auf und davon machten: die eine, die wir als eine Mohrin erkannten, lag sterbend in ihrem Blute; die andere – offenbar ihre Herrin, für die sie in der Verteidigung ihr Leben gelassen hatte – schien von unserer Art zu sein und um so mehr unseres Mitleids würdig und unseres Beistandes bedürftig, als sie gesegneten Leibes war und ihrer Niederkunft nicht mehr ferne sein konnte. Während wir die Weinende auf mein Pferd setzten und wegen des räuberischen Überfalles zu beruhigen versuchten, bemerkten wir nicht nur ihre völlig morgenländische Kleidung, sondern außerdem mit Erstaunen ihr goldenes Haar, das selbst in der Dunkelheit noch einen Schimmer des Sonnenlichtes bewahrt zu haben schien und uns als etwas gar Köstliches vorkam –«

Die Gräfin schlägt die Hände vors Gesicht und kann ein hervorbrechendes Schluchzen nicht länger unterdrücken.

»O Gott, solches Haar hatte auch mein Kind! Es war immer, als wandelte eine Sonne im Haus umher . . . Wie mich doch alles daran erinnern muß!«

»Fahrt fort in Eurem Bericht, Ritter!« bittet der Graf, welcher hofft, der weitere Verlauf der Erzählung werde seiner Frau eine Ablenkung bringen.

»Wir mußten noch über eine halbe Stunde reiten, bis wir zu der Ortschaft gelangten, die sich wohl auch die beiden Frauen zum Ziel gesetzt hatten, wegen des schwerfälligen Zustandes der einen aber nicht mehr bei Tag hatten erreichen können. Dort übergab ich die Gerettete der Obhut erfahrener weiblicher Hände, wodurch meine weitere Anwesenheit völlig überflüssig wurde, und setzte alsbald meine Reise wieder fort, begleitet nicht nur 374 wie bisanhin von meinem Knechte, sondern ebensosehr von dem Erinnerungsbild dieser blonden jungen Frau, um das sich noch lange meine fragenden Gedanken rankten. Leider hatte die völlig Verschüchterte auf meine teilnehmenden Erkundigungen nicht viel mehr Aufschlüsse erteilt, als eben nötig war, um mich merken zu lassen, daß sie unsere Sprache sprach; und so gab ich denn zuletzt das fruchtlose Herumsinnen an ihrem mutmaßlichen Herkommen und Schicksal auf und würde auch heute des Vorfalles schwerlich gedacht haben, wenn nicht unser Gespräch sich jener kreuzfahrenden Jugend zugewandt hätte, zu welcher mir jenes überfallene junge Weib allerdings zu gehören schien: ich glaube auch, daß es bei den Heiden kein schlimmes Schicksal hatte und lediglich aus Heimweh die Rückreise antrat . . .«

Es ist dunkel geworden in dem Saal. Der Graf und die Gräfin schweigen und denken an ihr Kind, von dem sie nicht wissen, wo ihre Gedanken es suchen müssen; und von dem sie sich doch wie mit Geisterarmen umfangen fühlen. Sie strecken heimlich die Hand aus und wären nicht erstaunt, den Druck einer andern Hand zu empfinden und auf den Lippen den innigen Wiedersehenskuß zu fühlen. Ellenor! Ellenor!

Aber ob sie sich auch bange umschauen, sie sehen nichts als durch die Bogenfenster zwischen fernen Bergen das Abendrot. Unter einer dunkel lastenden Wolke gleicht es einem erlöschenden Auge, das Abschied nimmt. Auf dem schwarzen Wams des Gastes duftet ein kaum merkbarer Widerschein . . .

»Gott gebe uns allen eine gute Nacht! Seid bedankt, Ritter, daß Ihr bei uns einzukehren geruhtet und in unsere Herzen mit Eurer Erzählung einen neuen Hoffnungsschimmer gepflanzt habt! Wenn unser armes Kind noch lebt und irgendwo in der 375 Welt herumirrt, so möge ihm immer ein ähnliches Obdach werden, wie wir es gerne allen denen gewähren, welche fern der Heimat auf langer Reise begriffen sind!«

 


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