Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Heimatnähe

Jeden Morgen sattelt er sein Pferd in dem Gefühl, der geliebten Frau um eine Tagereise näher zu kommen.

Er reitet immer tiefer in den Herbst hinein, jetzt wieder 251 auf Frankreichs fruchtbarem Boden. Wenn die grauen Frühnebel sich heben, von der goldenen Oktobersonne durchleuchtet, so entschleiert sich ihm als kühles Bild die Flußlandschaft mit den beidseitig ansteigenden Rebbergen, wo unter gebräuntem Laub die blaue Traube, von weißlichem Reifeduft überhaucht, auf das Winzermesser wartet. Und ein herber Geruch von Hingabe und Auflösung steigt aus der dunkel erweichten Erde, die ihre letzten Früchte mit süßen Säften füllt, und vermischt sich in der Luft mit der Bitterkeit unsichtbaren Nußlaubs.

Dann kommt er in eine Gegend, die einem Obstgarten gleicht: die Apfelbäume neigen sich unter der Last ihres Segens fast bis in das Gras. Er reitet wie durch ein allseitiges Atemanhalten hindurch und hält selber den Atem an: ein Lufthauch stärker als sonst, nach einem Frühtau schwerer als gewöhnlich – und der Ertrag eines Jahres fällt willig in die auffangende Hand. O feierliches Sichbesinnen vor dem letzten Nicken und Knicken, das sich lautlos und widerstandslos der Weisheit ergibt, daß Früchtetragen Gelebthaben bedeutet!

Und auf den Bergen sieht er wieder die Burgen mit ihrer wohlbekannten Bauart; und er hat das Gefühl einer Heimkehr, weil er sich der Heimat seines Herzens nähert. Wie oft noch wird die Sonne aufgehen, bis am Horizonte der Turm steht, wo sie seiner wartet? Aber lebt sie überhaupt noch? Oder wandelt gerade sie nicht mehr unter der Sonne, sie, die ihm zu allen Jahreszeiten nie etwas anderes war als jene holdeste Reife, wie sie dem Sommer erst der nahende Herbst beschert? Dann würde all dieses milde Schenkenwollen der Natur, das ihn wie ein tausendfältiges Echo ihrer unvergessenen Liebe umgibt, seinen Glanz und seinen Sinn verloren haben . . .

Aber wenn sie noch lebt, wie wird sie ihn empfangen? O, sie 252 wird nicht fragen wie eine törichte Unerfahrenheit: Bist du mir auch treu geblieben, Gerold?! Die Frage ihres braunen, die Blitze in weichem Wolkendunkel bergenden Blickes wird lauten: Wenn du ein Weib geliebt hast, hast du es geliebt, wie ich dich liebte und noch liebe: um seiner selbst willen? Und er wird sagen müssen: »Ich habe geliebt, wie du mich lieben lehrtest, hohe Frau – aber ich habe meine Liebste verloren darüber! Wie soll ich das verstehen?« – Ja, wie soll er das verstehen!

Und er denkt wieder zurück an das Mädchen mit den roten Haaren, den blauen Augen und der blütenweißen Haut, das er in ferner Fremde unter steilen, schwarzgrünen Zypressen in die Erde legte . . . Wäre sie ihm auch dann entglitten – zuerst aus den Händen und nachher aus der Welt –, wenn er in jener Nacht, wo er sie vor sich im Sattel hielt, seine Lippen auf die ihren gedrückt hätte? Ist es am Ende so, daß es Augenblicke gibt im Leben, wo man nicht erst lange fragen und auf Antwort warten darf; sondern wo man mit kräftiger Hand zugreifen muß, wenn das Glück nicht verloren gehen soll?

Da bäumt sich sein Roß, sprengt vorwärts und donnert mit ausgreifenden Hufen über eine gedeckte Holzbrücke ans jenseitige Ufer des Flusses hinüber. Er hat ihm unbewußt die Sporen in die Weichen gedrückt: Ein Gedanke war's, der ihn bis zur äußern Bewegung jäh durchblitzte und nun immer deutlicher vor ihn hintritt, während er in lebhaftem Schritt eine durch Weinberge ansteigende Straße hinaufreitet. Und dieser Gedanke geht jetzt wie eine drohende Schattengestalt, die sich nicht verscheuchen läßt, ihm voraus.

Hat er nicht auch sie selber, seine gütige Freundin, um ihrer selbst willen geliebt und sie nur darum verlassen, damit ihr Geheimnis nicht entdeckt werde? Und wäre es nicht möglich, daß 253 er sie eben damit einem Schicksal auslieferte, das sie seither nicht anders aus der Welt wegraffte, als es ihm auch jenes Mädchen entriß? Wie konnte er nur glauben, er genüge der Pflicht seiner Liebe mit seiner Flucht, wo er mit dem Mann, an dessen Seite sie ungeliebt durchs Leben ging, hätte kämpfen sollen um ihren Besitz?

Hochauf strafft sich seine Jünglingsgestalt in den Bügeln. Er hat soviel Mord und Totschlag gesehen, daß ihm das erneute Bild davon wenig Kummer macht. Wahrlich: Dann erst, wenn er sein Leben für sie einsetzt, darf er sagen, daß er sie um ihrer selbst willen liebt! Wenn sie ihn etwa nur deshalb ins heilige Land schickte, weil sie von seiner Jugend diesen höchsten Einsatz noch nicht glaubte erwarten zu dürfen: dieser eine Sommer hat ihn um Jahre gereift!

Und er zieht sein Schwert, nur um die Klinge in der Sonne funkeln zu sehen. Und er preßt sein Roß mit den Schenkeln, als wäre es das Schicksal, das ihn dahinträgt, und als könnte er ihm so seinen Willen aufzwingen. Und er reckt das Haupt und schaut entschlossen in die Ferne als ein Mann, der das letzte Entweder-Oder mit sich führt . . .

 


 << zurück weiter >>