Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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12. Der Jahrestag

»Heute ist es gerade ein Jahr!«

Der Graf spricht es schwer über die Mittagstafel hinweg und gibt damit den Gedanken und Gefühlen lauten Ausdruck, welche auch die Gräfin bewegen. Während sie sich gegenseitig betrachten und die vielen grauen Haare bemerken, die seither auf ihrem Scheitel und in seinem Barte hervorgetreten sind, werden 302 sie sich mit schmerzlicher Klarheit einer Tatsache bewußt, die damit, daß sie sie beschweigen, nicht aufgehoben wird. Nur verstohlen blicken sie auf den Platz, wo früher Ellenor saß und wo die Gräfin heute, wie auf ein Grab, einen Strauß aus jenen Blumen hingestellt hat, welche auch damals blühten, als die gleiche blaue Frühlingsferne, die jetzt die schmalen Fenster mit weißlichem Schmelz ausfüllt, ihr einziges Kind in sich aufnahm, um es ihnen trotz ihren flehentlichen Bitten und Nachforschungen nicht mehr zurückzugeben.

Und plötzlich erleben sie noch einmal die lärmende, rufende, schreiende Verwirrung, welche die Burg in dem Maße durchgellte, als ruchbar wurde, daß nicht nur die fünf Mädchen, sondern auch die Knappen verschwunden seien, und als gegen Abend die Gewißheit stieg, daß sie nicht nur einen Ausflug in der vergebens abgesuchten Umgegend unternommen, sondern sich mit unbekanntem Ziel davon gemacht hatten. Und dann war es zu spät, sie zu verfolgen! Die Nacht sank und verhüllte die vielen Wege, von welchen jeder so gut der richtige als der unrichtige sein konnte, mit ihrem gleichmäßigen Dunkel; und um eben diesen Tisch, um den sie jetzt am hellen Tage allein sitzen, saßen sie damals mit vier andern Elternpaaren und lauschten in das Sternendämmer hinaus: alle von dem Unbegreiflichen in eine dumpfe Sprachlosigkeit hineingeschmettert.

Der Graf und die Gräfin sind es heute noch . . . Wohl kam ihnen am Tage nachher der Gedanke, die Mädchen möchten sich den Kindern angeschlossen haben, die damals in immer neuen Scharen nach dem heiligen Lande pilgerten: die Gräfin erinnerte sich auf einmal Ellenors schwärmerischer Worte, auf die sie zuerst so wenig Gewicht gelegt hatte, und durchschaute die List ihrer Tochter. Aber alle ausgesandten Boten kehrten 303 alsbald unverrichteter Dinge wieder zurück, als ob sie mit Blindheit geschlagen worden wären; und unter den später auf Befehl des Königs eingefangenen und zu ihren Eltern heimgeschickten Knaben und Mädchen befanden sich weder ihr Kind noch seine Gespielinnen – So sehen sie sich denn bis zur Stunde in dieselben marternden Zweifel über Ellenors Schicksal verstrickt: selbst wenn sie noch lebte, ist sie für sie nicht viel anderes als tot, ohne ihnen doch jenen einzigen Trost im Unglück hinterlassen zu haben, daß sie sie allen Qualen und Schrecknissen des Irdischen entrückt wissen dürfen.

So still, wie es jetzt um sie ist, war es damals, als sämtliche Gäste düsteren Abschied genommen hatten; und dieselben Gedanken, die sich damals in der plötzlichen grauen Öde des Hauses zu farbigen Bildern entwickelten, treten abermals vor sie hin. Vergebens schauen sie zwischenhinein nach dem Blumenstrauß und sagen sich, daß er vielleicht bereits einer Verstorbenen gilt: sie sehen immer wieder Ellenors blühendes Gesicht im lichten Scheine ihres goldig umrahmenden Gelockes vor sich und suchen aus ihm, als säße sie in Wirklichkeit zurückgekehrt zwischen ihnen, das ihr an Leib und Seele widerfahrene Erleben abzulesen. Und über dieser stummen Zwiesprache mit dem Erinnerungsbild des geliebten Kindes vergessen sie zuletzt völlig das eine das andere und leben nur noch in den Vermutungen, welche sie in die Unordnung des halbabgeräumten Tisches hineinträumen.

Der Graf gießt sich von Zeit zu Zeit aus der Kanne den Becher voll . . . Diese einzige Tochter, die ihm von fünf Kindern am Leben blieb, liebte er wie eine junge Heilige – und hätte sie so gern anders geliebt –: das ist eine Bitterkeit, die muß hinuntergespült werden. Sein Eheweib in hohen Ehren – 304 aber was weiß ein alter Waffenkamerad der Liebe von dem süßen Bangen und Hoffen, Schwellen und Drängen, welches ein junges Herz vor der ersten Schlacht der Leidenschaft mit jenem köstlichen Glauben an die Herrlichkeiten des Lebens erfüllt, der so rasch von einem abfällt wie die Blütenpracht der draußen weiß leuchtenden Bäume? Und alle diese taufrische Unberührtheit und Unverletztheit, die an Ellenor so lieblich war, sollte dem ersten, besten Wegelagerer zwischen den gierigen Händen geblieben sein? Wenn er da nicht den Becher leert, so muß er ersticken! Und denkt er gar daran, soviel Holdseligkeit könnte vergewaltigt worden sein, so schießt ihm das Blut in Hals und Kopf und juckt es ihm in der Faust, auf den Tisch zu schlagen, aufzuspringen und sein ganzes Gesinde zusammenzurufen . . . Aber wozu? Wohin denn? Noch im Diesseits oder schon im Jenseits? Und dort sitzt seine Frau, gleich ihm in ihr Leid, in ihren Gram vertieft. Es gilt, sie nicht zu erschrecken; es gilt, sich zu beherrschen. Er trinkt besser noch eins . . .

Die Gräfin liegt tief in ihrem Sessel zurück, hält den rechten Arm auf die Lehne aufgestemmt und preßt sich mit der Hand ein Spitzentüchlein an die Lippen . . . Ein Werk und Geschenk ihres geliebten Kindes! Begonnen und vollendet Jahre vor jenem Sonntag, an welchem sie die Tochter vor dem Gekreuzigten auf den Knien fand und sie mit leichter Mühe einem irdischen Bräutigam glaubte in die Arme führen zu können! Und nun: Statt der Erfüllung ihrer Pläne, welche ihr ein sicheres, sorgloses Leben schaffen sollten, die furchtbare Ungewißheit eines nach eigenen, unerbittlichen Gesetzen ablaufenden Weltgeschehens; statt der Möglichkeit, ihrer Tochter bei ihrem Weibwerden als überlegen beratende Freundin zur Seite zu stehen, die Wahrscheinlichkeit schlimmster Erfahrungen, welche sie, die 305 Zurückgebliebene, nicht kannte, geschweige denn abzuwenden vermochte. Durch den Schleier der Tränen hindurch sieht sie das liebliche Wesen mit der Seele von ihrer Seele, dem Blut von ihrem Blute in eine Ferne entrückt, die kein Wunsch durchdringt, und einem Schicksal anheimgegeben, das keine Bitten lindern; und sie fühlt die allem menschlichen Zusammenhang und -klang feindlich gesinnte auflösende Macht eines unbekannten höheren Waltens mit solcher Stärke, daß sie sich innerlich bereits auch von ihrem Gatten losgerissen weiß und es ohne hinzublicken empfindet, wie sehr auch er sie über dem ihnen gemeinsam gehörenden Kinde vergißt . . . Mag er seinen Schmerz im Wein ertränken! Sie wollte, sie könnte es auch tun . . .

Da kommt vom offenen Fenster her ein Buchfink auf den Tisch geflogen und spaziert, die Brosamen aufpickend, zwischen ihnen hin und her. Sind sie nicht mehr lebendige Menschen, sondern in ihrem Gram zu farbigen Bildsäulen erstarrt? Aus klugen Augen blickt das Tierchen, das sein Schwänzlein auf und nieder bewegt, immer wieder zu ihnen hin. Bis es plötzlich die Flügel hebt und in die blaue Ferne hinausflattert, wo am blauduftigen Himmel weiße Wolken segeln und wo irgendwo Ellenor, ihr Kind, weilt, sei es noch auf Erden oder schon in jenem Dasein, das auf dieses folgt . . .

Daß sie doch dem kleinen Vogel aus der todesstillen Burg, wo alles der Verlorenen gedenkt, einen Gruß hätten mitgeben können! Der Graf stiert aus geröteten Augen in seinen Becher; die Gräfin schluchzt in ihr Spitzentüchlein hinein . . . .

Ellenor! Ellenor! 306

 


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