Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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34. Gerold der Kundschafter

Nun sitzt er wieder seit Tagen im Sattel. Ist das der kürzeste Weg, um nach der Küste zu reiten? Er reitet dorthin, wo er das rothaarige Mädchen zu finden glaubt . . .

Sein Leib schmerzt ihn nicht mehr; aber die Seele tut ihm weh. Wenn er in der Verwirrung seines Herzens vom Pferd geschleudert wurde, was mögen ihr alles für Gefahren drohen, falls sie in einem ähnlichen Zustande der Unrast die Welt durchstürmt? Und daß ihre Flucht am andern Morgen ein Zeichen der Liebe, nicht des Hasses war, das ist ihm längst so gewiß geworden, als er immer noch den sanften Druck der um seinen Nacken gelegten Arme empfindet und ihr an seiner Brust entschlummerndes Haupt vor sich sieht.

Zu rasch nach dem Abschied von seiner großen Freundin war ihm dieses Erlebnis geworden, als daß er schon nach ihrem Wort hätte handeln können; nun aber erkennt er sein Versäumnis und bereut es. Und weil er nicht weiß, in welcher der vielen Scharen des vielarmig durch das Land sich wälzenden Kreuzzuges das liebe Mädchen dahinwandert, gilt seine Sorge und Aufmerksamkeit aller Gefahr überhaupt, die dem ahnungslosen Kinderheer drohen könnte, und wird er auf seinem schnellen Pferde, das ihn bald an die Spitze des Zuges bringt, zu einem Kundschafter, der alles ausforscht, ob er gleich nicht weiß, wem er es melden soll. Wo immer er in Stadt und Dorf als einzelner junger Ritter von höfischem Benehmen an die Türen klopft, da wird ihm gerne aufgetan und für eine Nacht Atzung und 159 Obdach dargeboten; und während ihm alle Frauen heimlich ihr Herz schenken und mit ihrer lauten Überzeugung nicht zurückhalten, daß von so tapfern Glaubensstreitern, wie er einer sei, gewißlich das heilige Grab zurückerobert werde (womit eine bessere Zeit für die Menschen, die es überall bitter nötig hätten, anbrechen müsse!), versteht er es geschickt, den Männern die Neuigkeiten des Ortes wie des Tages zu entlocken, und überlegt er bei allem, was er erfährt, immer nur, was für eine Rückwirkung es allenfalls auf sein Mädchen haben könnte, das er irgendwo in dem ihm im Rücken folgenden Zuge weiß – und doch nicht weiß.

In einer Stadt vernimmt er, der König werde ein Gebot erlassen, daß alle kreuzfahrenden Kinder aufgegriffen und zu ihren Eltern heimgebracht werden . . . Und er sieht bereits zwei Häscher seiner Liebsten in die roten Flechten langen; und hört sie in Verzweiflung schreien, weil sie nun einmal nach Jerusalem und nicht nach Hause will. Oder gilt der Ruf ihres Herzens etwa ihm? Fürchtet sie nicht so sehr die Umkehr, als die Männer, die sie dazu zwingen wollen? Hier ist er! Heraus mit dem Schwert und Galopp . . . Getrost! Er sitzt bequem in der Halle eines Patrizierhauses, vor einem weingefüllten Pokal und im Kreise teilnehmend verwunderter Gesichter.

Aber von nun an äugt er immer doppelt scharf aus, wenn er von ferne reisige Leute erblickt . . . Du lieber Himmel! Der König wird nicht genug Kriegsknechte haben, um all die Scharen zu verhaften, die da auf den Straßen einherfluten. Und was werden sie wohl mit dem alten Mönche dort anfangen wollen, welcher mit einer Kinderschar, die sich zum Teil noch an seiner Kutte festhält, des Weges gezogen kommt? . . . »Gott zum Gruß, alter Knabe! Und viel Freude in 160 Jerusalem!« ruft er ihm zu, während er sein Pferd anhält und wieder einmal prüfend die Jünglinge und Mädchen an sich vorbeiziehen läßt.

Auf einem Dorf draußen erzählt ein Händler von ganzen Scharen tollwütiger Weiber, welche in wilden Bußtänzen nackt von Ort zu Ort zögen und sich selber die Rücken blutig peitschten dabei . . . Und schon sieht er sie in einem braunen Hohlweg des Waldes dahergetobt kommen, seinem Mädchen entgegen, welches mit dem Bündelchen in der Hand sich von der andern Seite naht! Kann sie ihnen ausweichen? Oder wird sie in ihre tolle Raserei mit hereingezogen werden und ein schlimmeres Schicksal finden bei ihren Geschlechtsgenossinnen als in seinen Armen? Im letzten Augenblick rennt sie das steile Bord hinauf, wo er auf seinem Rosse ihrer wartet, sie mit starkem Arm vor sich in den Sattel schwingt und wie der Teufel mit ihr abreitet . . . Doch halt! Er hockt ja mit stinkenden Bauern zusammen in einer dunklen Schenke und fühlt, wie ihnen bei dem unheimlichen Bericht eine Gänsehaut den Rücken hinunterläuft.

Aber wo immer er jetzt von einer der Anhöhen aus, die er der Fernsicht wegen mit Vorliebe aufsucht, im Tale drunten eine Kreuzfahrerschar erblickt, muß er denken: Was würden diese frommen Knaben und Mädchen tun, wenn ihnen plötzlich ein Rudel wahnsinniger Weiber entgegengerast käme und sie in ihrem Höllenrausch hereinzerren wollte? Zum Beispiel dort der feste Gewalthaufe mit den drei Ochsengespannen und der kriegerisch bewaffneten Jugend? – »Auf dem vordersten Wagen soll der König Stephan sitzen!« hört er einen der Bauern raunen, die in langen Reihen auf dem Hügelrücken stehen und dem stillen, zähen Zuge des Glaubens folgen, der sich zu ihren Füßen einer hoffnungsvollen Ferne entgegenbewegt. Aber er 161 spürt nicht die mindeste Lust, hinunterzutraben und dem heiligen Knaben seine Huldigung darzubringen! Er fürchtet, er möchte ihn um sich behalten wollen. Ihm genügt, daß seine scharfen Augen in der Schar kein rothaariges Mädel entdeckt haben.

Und endlich vernimmt er eines Abends von drei fahrenden Schülern, daß er schon am nächsten Tage die Grenze erreichen werde, wo die Herrschaft des Königs von Frankreich aufhöre und diejenige des Grafen Raimund von Toulouse, des mächtigsten Herrn in der Provence, ihren Anfang nehmen würde, wenn nur nicht in diesem Lande ein wilder Krieg gegen die teuflische Ketzerei entbrannt wäre und Weg und Steg unsicher machte . . . Er stutzt. O, wie könnte er den Gedanken ertragen, daß Isa allein und unbeschützt in diese Greuel fiel? Wäre es möglich, daß sie eines Tages ihr Entsetzen und ihre Not zum Himmel schrie, ohne daß Gott ihn, ihren Ritter, den Ruf hören und ihr zu Hilfe eilen ließ? Und was könnte er allein ausrichten, wenn ihm nicht tapfere Kameraden zu Hilfe kamen, wie etwa dort die vier Knappen, die ihren Herrinnen so stolz vorausreiten, als läge alle Entscheidung nur noch in ihrer Hand? . . . Unwillkürlich hat er sein Pferd herumgerissen, hackt ihm die Sporen in die Weichen und sprengt in scharfem Trab davon – die Straße, auf der er dahergeritten kam, wieder zurück.

Wenn er dem jugendlichen Kreuzheer zuletzt eine beträchtliche Strecke vorausgeeilt war, so will er jetzt wieder zu ihm stoßen und an seinen Kerntruppen so weit hinaufreiten, bis er sein Mädchen gefunden hat. Und findet er es nicht bei der Hauptschar, so wird er eben die Nebenscharen absuchen! Denn will er noch nach Jerusalem fahren und seine Seele retten? Er will einen Menschen retten . . . 162

 


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