Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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17. Die Leichenschänder

Sie schleppen sich abendlich müde dem Stadttor zu.

In ihrem Rücken droht aus schwarzem Gewölk die zum Bersten angesammelte Kraft eines schwülen Sommertages. Wie oft schon sind sie in ähnlicher Erschöpfung, mit matt geschulterten Kreuzen und Fahnen, mit heißen Stirnen und dürren Lippen, der Ruhestätte für die Nacht entgegengewankt!

Da ragen neben ihnen über einer Mauer, wie eine schwarzgrüne Ehrenwache des Todes, schlanke, spitzwipfelige Zypressen regungslos in die von Dunst und Staub schwere Luft.

84 »Ist das ein Friedhof?« fragt Gertrud und läßt über den eingeschlossenen, unweit der Stadt in der freien Landschaft gelegenen Ort prüfend ihre Blicke hinschweifen.

»Still!« ruft Albrecht und lauscht. Und die ganze Schar Knaben und Mädchen bleibt nacheinander stehen und horcht über die Mauer hinüber und durch die ästereichen Stämme der Zypressen hindurch. Drinnen werden Menschenstimmen hörbar; hackendes Geräusch von Pickeln, schürfendes von Schaufeln –

Ein schwefliger Blitz flammt über die weite Ebene hin. Donnerkrachen entstürzt dem Himmel, in ein schütterndes, vielfach widerhallendes Rollen auseinanderfließend. Aber noch immer fällt kein Tropfen Regen auf die versengten Fluren, die wie in Durst und Heiserkeit daliegen.

Und von drinnen wieder das Hacken und Schürfen. Und jetzt auf einmal eine gierig überschnappende Stimme: »Rascher! Rascher! Sonst löscht der Sturm die Feuer aus!« Und plötzlich ein dunkles Geschnalze, wie es der Haß vor Befriedigung über sein erreichtes Ziel ausstößt.

Albrecht hält sich nicht mehr länger, reckt die Arme hoch und schwingt sich auf die Mauer hinauf. Und während seine in der Luft um das Gleichgewicht strampelnden Beine plötzlich ruhig werden, als staunten sie in ihrer Art über das, was vorn die Blicke wahrnehmen, sieht er, sich festklammernd und die keuchende Brust auspressend, während ihm vor Anstrengung und Entsetzen die Augen aus den Höhlen treten – und riecht er, zwischen den Bäumen dahergeweht – Hätte er die Hände frei, er würde sich die Nase zudrücken –

Dominikanermönche umstehen mit grimmig flackernden Blicken ein braun aufgewühltes Familiengrab. Fünf unkenntliche, von der mütterlichen Erde schon halb verdaute Menschenleiber 85 werden von den Henkersknechten mit Haken aus der entblößten Tiefe heraufgezerrt, mit Ketten umwunden und der Mauerpforte zugeschleift – »Fort mit den heimlichen Ketzern, auf den Scheiterhaufen!« Und die Mönche rennen und huschen mit schlotternden Kutten und beschwörend vor sich hingestreckten kleinen Kreuzen dem Zug der Henker voraus und hinterher.

Ein neuer, wild knatternder Blitz zerreißt das Gewölk, während Albrecht sich wieder von der Mauer herunterläßt. Und schon kommt weiter vorn die Rotte aus dem Friedhof hervorgestürmt und zerrt die fünf auf der Straße gleitenden, kollernden, hopsenden faulen Fleischklumpen mit vereinten Kräften eilends dem Stadttore zu. Und die Kinder, im Banne des noch nicht begriffenen Gräßlichen, hasten hintendrein, wie angezogen von einem finstern Wirbel des Geschehens.

»Es sind Ketzerleichen, die verbrannt werden!« ruft Albrecht; und durch die Schar pflanzt sich das Wort »Ketzer! Ketzer!« fort. Gertrud muß sich an Albrecht festhalten; und während sie ihre schmerzenden Füße zu rascherer Gangart zwingen, treffen sich ihre Blicke in einem wortlosen Entsetzen: aber ohne Aufenthalt schreiten sie mit all den andern durch das Stadttor hindurch und in die von dem übermächtig aufziehenden Gewitter bis zur fahlen Düsternis verdunkelten Gassen hinein. Sie bleiben immer den laufenden Mönchen auf den Fersen, mögen sie sich auch da und dort anstoßen und auf dem im Wege liegenden Unrat ausglitschen – oder sind es abgerissene Stücke der voraufgeschleiften halbverwesten Menschenleiber?

Plötzlich tut sich ein großer, von Volk wimmelnder Platz vor ihnen auf. Sie erblicken am Ende des lebendigen Schachtes, welcher sich den Pfaffen mit ihren toten Opfern öffnet, einen riesigen Reisighaufen und über ihm, an ein und derselben Stange 86 festgebunden, ein Weib im Armsünderhemd und einen weißen Mann, der fast wie ein bestellter Gaukler über der Menge steht. »Wer ist der Weiße?« – »Ein Ketzer, der vor acht Tagen im Kerker starb. Sie haben ihn in Kalk gelegt!« Da werfen die Henker die fünf vollends herangeholten Leichname mit großen Gabeln auf den Holzstoß hinauf; und jetzt wird, im Namen des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes, an drei Orten zugleich das Reisig angezündet.

Ein dritter, furchtbar lohender Blitz schießt – als wollte der Himmel eine Hölle gebären – krachend über die Stadt hin. Aber noch bevor der Donner verrollt ist, fängt die Ketzerin unter den aufzüngelnden Flammen an zu schreien, zu brüllen, zu kreischen und mit allen Gliedern an ihren Banden zu zerren: und siehe, diese lockern sich, weil sie in der Eile nicht fest genug geknotet wurden; und auf dem Brett, auf dem sie steht, dreht sie sich um die Stange herum und bringt bald einmal auch den weißbestäubten Toten in Bewegung. »Sie tanzen! Sie tanzen miteinander! Die Hexe mit dem Ketzer!« jubeln mehrere Stimmen aus der Menge, welche das Geprassel des Feuers mit einem immer lauteren Gelächter übertönt; und in der Tat sieht es so aus, als ob die beiden Verurteilten, der bereits Tote und die noch Lebende, mit nach rückwärts ausgestreckten Händen gezwungenermaßen sich festhielten und, gegenseitig sich meidend, um die Stange herum einen widerwilligen Reigen aufführten.

»Wir wollen nie mehr mit den andern zusammen in eine Stadt hineingehen!« flüstert Gertrud bleich, indem sie Albrecht fest bei der Hand faßt, ihre Blicke aber unverwandt auf den Scheiterhaufen gerichtet hält. Wie toll knattert das Feuer durch das Reisig und bald auch durch die Holzscheiter empor, während droben der weiße Tote mit fast geschäftsmäßiger Gleichgültigkeit 87 seinen Tanz ausführt, das verbrennende Weib aber mit allen Anzeichen, Gebärden und Lauten tödlichen Entsetzens sich von ihm loszumachen sucht; und selbst in die fünf unkenntlichen, halbverwesten Leichname, die auf den dürren Ästen liegen, kommt von Zeit zu Zeit, wenn der Zug neu auflodernder Flammen sie ergreift oder wenn sie an einer bereits verkohlten Stelle einbrechen, eine aufjuckende Bewegung herein, als gäben sie dem Totentanz über ihnen verständnisinnige Zeichen eines verwandten Schicksals und äfften selber ein Leben nach, das sie längst nicht mehr haben und auch nicht mehr zu haben wünschen. Die Menge aber vergißt über diesem lächerlichen Anblick alles andere und bricht immer mehr in ein frohlockendes Geheul aus, das jede auf dem Scheiterhaufen erfolgende Veränderung sofort wie in einem tönenden Echo widerspiegelt.

Da knallt senkrecht ein Blitz in den Palast herab, der gerade hinter dem Scheiterhaufen sich erhebt; und während unter dem erderschütternden Krachen der geblendete Pöbel jäh verstummend wieder in die Höhe schaut, schlagen auch schon die roten Flammen zum Dache hinaus. Alles schreit, stürmt durcheinander, ruft nach Wasser, hat den Kopf verloren; und nur die jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen, die sich in einen Laubengang hineingedrückt haben, sehen beides: das riesige Feuer, das der Himmel wie zum Hohne der Menschen angezündet hat; und den kleinen Scheiterhaufen davor, in dessen auslohender Glut der Tanz einer Sterbenden mit einem Toten zu Ende gekommen ist, weil beide jetzt gleich braun gebrannt an der Stange hangen. Und schon kommt ein fürchterliches Brausen über die Dächer dahergeprasselt; und wie mit unsäglicher Verachtung rauscht eine Hagel- und Regenflut herab, welche beide Feuer in weißem Dampf und bald einmal in schwarzem Rauch aufqualmen läßt 88 und aus ihm auf die fassungslos durcheinanderfliehenden Menschen einen unerträglichen Gestank niederschlägt.

Und Blitz auf Blitz zuckt in die Erde hinein; an einem zweiten und kurz darauf noch an einem dritten Orte brennt die von Schreckensrufen durchgellte Stadt. Und während alles hin und her hastet, um Hab und Gut besorgt, starren sich die Kreuzfahrerkinder unter den Arkaden, die nichts zu verlieren haben, mit sprachlosem Grauen in die weitaufgerissenen Augen. Gertrud aber prüft in ihren Gedanken die Zukunft und hebt in zweifelndem Gebet ihre Blicke zu Albrecht auf –

»Was wird eines Tages mit uns geschehen, lieber Herr?«

 


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