Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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31. Franz der Schwermütige

Warum eigentlich zieht er immer noch seiner Wege, den hohen, schneebedeckten Alpen entgegen, hinter denen das Land Italien liegt, mit der ewigen Stadt Rom und umspült von dem blauen Meer, aus welchem irgendein gottgesandtes Schiff sie an die Gestade des heiligen Landes tragen soll?

Wo immer er mit seiner finstern Stirn, der großen Nase und den bittern Lippen hinkommt, flieht alles entsetzt auseinander, als läse ein jeder an ihm wie in einem Spiegel, was er immer eindeutiger aus den Gesichtern der Gaffer liest: daß Betrug und Treulosigkeit Hand in Hand diese Welt verwalten. Ihn, den armen Zimmermannsgesellen, hat seine Liebste verraten; der leere Königswagen – wo mag er jetzt über die Hügel schwanken? – führt Hunderte von gläubigen Kindern hinters Licht, welche von ihm ihren frommen Anführer beherbergt glauben, während er doch schon längst in einem verlorenen Buchenwäldchen den Würmern zum Fraße fiel; und diese kreuzfahrende Jugend selbst, soweit sie sich nicht aus elenden, irregeleiteten Unmündigen zusammensetzt, treibt mit jedem Tage weniger der reine, fromme Wille nach des Erlösers Grab, als die dunkle Sucht nach den Abenteuern dieser Erde und ihres eigenen, erdgeborenen Herzens. Wie eine trübe Welle wälzen sich die Scharen der Jünglinge und Mädchen von Land zu Land: die Glut des Geistes, welche die meisten Heimat und Elternhaus aufgeben ließ, hat sich ihnen unter den Mühsalen der Reise längst in ein brünstiges Schwelen verwandelt, das sie nur noch deshalb vorwärts treibt, weil sie 354 nicht mehr zurück können; und wie auch der klarste Bergbach, wenn er auf seinem heftigen Zutalströmen die Hänge aufwühlt, immer größere Mengen Schmutz loslöst und mit sich fortreißt, lange bevor er im Morast zu einer toten Ruhe kommt, so schließen sich diesen von ihrer eigenen Sehnsucht Verführten alle diejenigen an, die den lichten Glauben hassen und die finsteren Begierden, in welchen sie allein leben, auch in denen zu entfachen suchen, die eben deshalb zum Wanderstab griffen, um ihnen zu entfliehen.

Franz wandert auf einem Bergrücken fürbas und beschaut links und rechts das Land mit seinen hintereinandergeschichteten Höhenzügen, über welche nach dem Gewittertag unerschöpflich die gewaltigen graublauen Wolkenwogen dahinrollen, zwischen lichter Sonnenahnung immer wieder die Täler mit nasser Trübsal erfüllend und die Hügel mit feuchten Nebelfetzen umhüllend. Ist nicht dieses das wahre Antlitz der Welt? So drängen, eine nach der andern, die Menschenwellen durch dieses Dasein. Was bedeutet die Aussicht auf Gott mehr als ein Fleckchen blauen Himmels in diesem unaufhörlichen Getriebe von Schatten? Ein Hauch – und alles ist vorübergeweht; niemand weiß wohin.

Verzweiflung steht am Ende alles Denkens. Die Menschen zerfleischen sich seit dem Anbeginn der Tage: sie zerstören selbst dann ein Heiligstes ihrer Seele, wenn sie sich in heißer Liebe gegenseitig an ihre Brust reißen und damit doch nur den Willen jenes alten Urwirbels erfüllen, der selbst seine hellsten Sterne eines Tages in sich zurückschlingt, um deren neue gebären zu können. So gehen auch diese Knaben und Mädchen – das wird Franz immer deutlicher – nichts anderem als der allgemeine Vernichtung entgegen, die dadurch, daß sie ihren Willen immer 355 mehr vom Himmel zur Erde ablenkt, schon ihre Schatten in ihre Gemüter vorauswirft. Wer aber darf alsdann auf eine Auferstehung im ewigen Lichte hoffen?

Christus war auch nur ein Zimmermannssohn; aber er ist nicht Christus. Was hilft es diesen Verirrten, daß er ihnen zu Hilfe kommen will? Sie lassen sich heute aus einer Not helfen und lachen morgen, wenn es ihnen wieder gut geht, aller Not. Und wenn er ihnen ernst zuredet, sie möchten in ihre Heimat zurückkehren und ihrem Gott nicht mit Vermessenheit, sondern in Demut dienen, so kehren sie sich von ihm ab, weil es ihnen mehr behagt, ihrem einmal entfesselten dunklen Drange als lichter Erkenntnis zu leben.

Und so läßt er sich denn von dem Strome mit fortziehen, da er ihn doch nicht zu bannen weiß. Er ist kein Gewaltiger des Wortes, der die Menschen erschüttern könnte: in ihm lebt nur die mit jedem Tage zunehmende Voraussicht auf das Ende, dem diese Unglücklichen nicht nur entgegengehen, sondern das aus ihnen selber hervorwächst; und die schweigende Trauer darüber, daß keine Macht der Erde es wird abwenden können. Und überdies: Ist er nicht selber von der dunklen Neugierde erfüllt, wie dieses Ende aussehen wird?

Er sieht nicht nur keine Treue mehr in dieser Welt; er ist auch überzeugt, daß sie niemals in ihr gefunden wurde. Er schaut den Knaben und Mädchen, wo er sie begegnet, nur noch deshalb in die Augen, um aus ihren Blicken zu lesen, wie lange sie schon unterwegs sind. Er kennt nachgerade alle Abstufungen und Übergänge von der frommen Glut der Sehnsucht zur frechen Glut der Lüsternheit und sieht diese ganze Jugend wie ein Menschheitsmeteor aus dem Himmel ihrer gläubigen Gedanken langsam in die Hölle jener räuberischen Triebe niedersinken, 356 die alle Natur außerhalb des Menschen erfüllt und mit welcher der todgeweihte Mensch selber durch sein zwischen Gott und Teufel in schmerzlicher Mitte schwebendes Wesen unlösbar verknüpft ist . . .

 


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