Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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47. Die Frauen von Genua

Genua, stolze Stadt mit Mauern und Türmen; überreich an Menschen, Palästen, Schiffen, Waren; berühmte Beherrscherin des Meeres, das sanfter in deine schirmend ausgreifenden Gestade hereinrauscht: Was sind von den Bergen für trübe Bächlein menschlichen Elends auf dich herabgeflossen?

Durch die Straßen, welche vor Jahrzehnten in Waffen starrten von dem Heere des Königs von Frankreich, bevor er gewaltig ausfuhr nach dem heiligen Lande, irren seit Tagen verschüchterte Knaben und Mädchen umher, mit zerlumptem Gewand, mit fiebrigen Augen und hohlen Wangen, mit stumm heischenden Händen und wundgelaufenen Füßen. Sie können nur mit einem Worte danken, wenn sie milde Gaben scheu an den Haustüren entgegennehmen: »Christus!«; und ihr erloschener Blick leuchtet nur bei einem Worte auf, wenn es zu ihnen gesprochen wird: »Jerusalem!« Wäre es möglich, daß göttliche Sehnsucht die Jugend fremder Völker so unberaten in die Ferne treibt? Oder haben die Barbaren die Alpen überstiegen und ist es nordische Kriegslist, daß sie die Kinder vorausschicken, um die Stadt zu verwirren und in der Verwirrung zu überfallen?

Der Rat beschließt: Ausgewiesen sollen alle werden bis zum Abend! Bleiben darf nur, wer abläßt vom Kreuzzuge.

412 Nun seht die Frauen von Genua! Sie streifen durch die Straßen mit mütterlichem Herzen, auch wenn ihr Leib noch kein Kindlein geboren hat. Und wo einer von ihnen ein Söhnchen oder Töchterchen durch den Tod entrissen wurde: hier schickt ihr der liebe Gott ein anderes! Sie strecken die Hände aus, sobald ein Trüppchen daherkommt; sie reden in die verhärmten Gesichtchen hinein mit einer Herzlichkeit, welche, dünkt es sie, in jeder Sprache sollte verstanden werden; und sie sind betrübt und begreifen es nicht, wenn ihrer Liebe ein Kopfschütteln ausweicht und aus heißen Blicken die Treue zu einem furchtbaren Schicksal spricht. »Um Christi willen!« beschwören sie die kleinen Kreuzfahrer; und oft faßt ein zaghaftes Händchen das Gewand der Retterin. »Um Christi willen!« schweigen die zusammengepreßten Lippen der älteren Knaben und Mädchen, die zu den Toren hinauswandern.

Am Abend gibt es in der Stadt keine Kreuzfahrer mehr. Aber fast in jedem Hause ist, vom Himmel geschenkt, ein neues Brüderchen oder Schwesterchen eingezogen, wird gebadet und gepflegt und zu Bett gebracht. Und am andern Tage gehen und stehen die wie im Paradies Aufgewachten um die neue Mutter, den neuen Vater herum, hangen mit den Augen unverwandt an ihren Augen und folgen jedem Wink mit der Rastlosigkeit einer ausgehungerten Seele und der Flinkheit abgemagerter Glieder. Und nach weitern sieben Tagen, wenn die Mutter oder der Bruder oder die Schwester fragen: »Wo ist Jerusalem?«, so strecken sie die Fingerchen nach dem Frager aus und lächeln: »Bei dir!«

Die andern, größern Kinder aber, in deren Seele ein unbeugsames Verlangen Wurzel geschlagen hat, schleppen sich, einander helfend, einander unterstützend, jeden Bissen 413 miteinander teilend, dem Meeresstrand entlang. Wo ist Jerusalem? Sie warten umsonst, daß die Flut sich teile; und nirgends will ein Schiff sie aufnehmen und über die blaue Unendlichkeit hinwegtragen. Kein Stern leuchtet ihnen des Nachts, wie den Königen aus dem Morgenland; und die Sterne des Meeres, die angeschwemmt am Ufer liegen und ihre Zacken so wunderlich bewegen, lassen sich nicht deuten. Wo ist Jerusalem? Sie werden erst selig sein, wenn sie das Kreuz des Erlösers umarmt und an ihm die Stelle geküßt haben, wo seine Füße bluteten . . .

 


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