Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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9. Wüstenritt

Kamele, die durch die Wüste ziehen . . .

Sobald Stephan aus seiner Kopfumhüllung heraus den weiten, von Sonnenglut flimmernden Sand überblickt, in dessen geronnenen Kräuselwellen die Füße seines eigenen, weich dahinwatenden Reittieres versinken, sieht er vor sich die wie Schiffe vorwärtsschaukelnden andern braungelben Ungeheuer, zwischen deren Höckern die weißvermummten Gestalten der arabischen Händler sitzen und ihre blitzenden Lanzen in den dunstigblauen Himmel emporstrecken.

Ihn umlodert leise die brennende Luft, die Mensch und Erde in einen dumpfen Mittagsschlummer hineinfächelt und alles Lebendige in jenem blinden Schicksalsglauben gebannt erhält, in welchem nur noch das triebhafte Tier die seinem dunklen 287 Drange vorgezeichnete Straße sucht, jedes lichtere Bewußtsein aber träumend mit seiner eigenen Tiefe verschmilzt . . .

Plötzlich erwächst ihm aus der eigenen Spannung heraus die tastende Frage: Ist nicht die Welt von einer unendlichen Bosheit erfüllt? Er spürt, daß jetzt jedes Insekt, das ihren Zug umschwirrt, den Stachel aufrichtet, um sein Gift zu verspritzen. Und er wundert sich, daß er in sich selber keinerlei Stachel vorfindet, sondern ohne jeden Willen zum Handeln ganz nur Ergebung ist.

Immer wieder muß er vor dem falschen Glutgeflimmer der weiten, gelben Sandebene die Augen schließen. Und dann schweben vor seiner der Vergangenheit zugekehrten Erinnerung unversehens tausend Gestalten auf und ab: die zahllosen gläubigen Kinder, die niemand anders als er in Elend und Untergang hineinführte! Warum? Vielleicht, weil die Sonne eines Frühlingstages süßer schien als sonst; weil ihre jungen Leben gerade an der Reihe waren, durch eine kurze Gegenwart des Daseins hindurch in die Vernichtung hinabzuwirbeln? Er weiß es nicht; und er kann es auch nicht wissen. Genug, daß er tat, wozu er sich berufen fühlte.

Und abermals ruht sein Blick auf der fernen, eintönig flachen, kaum je von felsig-dürren Hügelzügen aufgeworfenen Horizontlinie, deren Dort in einem beständigen unmerklichen Übergange zum Hier wird, das ihnen unter den Hufen der Kamele weggleitet. Ja, ist es nicht zuletzt – trotz dem Schwanken seines Tieres –, als ob er selber unbeweglich im dunklen Grunde seiner Seele ruhte, während die ganze übrige Welt an ihm vorbeiflimmert, vorbeifächelt, vorbeiglüht? Nur ab und zu zerrt und reißt ein unbegreifliches Etwas an ihm, um ihn aus seiner Erstarrung in diesen allgemeinen Tanz des Werdens hineinzuflechten . . .

Da sieht er auf einmal wieder die junge Mohrenfürstin auf der nachthimmelüberglitzerten Dachzinne vor sich, über deren Glieder das Mondlicht, über deren Seele die Laune hinspielte. O, was für ein Grauen erfaßte ihn davor, sich in diesen Strudel des Blutes hineinzustürzen, mit seinem ganzen Ich nur noch ein willenloses Blatt in dem Sturm und Strom der Gefühle zu sein! Wahrlich, dann erst wäre er sich rettungslos verloren vorgekommen, wenn er nicht mehr auf dem festgegründeten Altar seiner Andacht das Bildnis Gottes angebetet, sondern selber an seinem unergründlichen, feurig daher- und dahinwehenden Leben mit teilgenommen hätte! Und abermals spürt er in sich den Widerstand, den er ihrer Lockung siegreich entgegesetzte.

Und dennoch: Wäre er wirklich verloren gewesen? Verläuft nicht alles Erleben, das gewollte so gut wie das nichtgewollte, in denselben ehernen Bahnen und nach denselben unerbittlichen Gesetzen, nach welchen die Sonne am Himmel auf und ab schwingt und in den Oasen die Frucht aus den welkenden Blättern hervorquillt? Auch er darf sich einem höheren Walten eingefügt wissen, dem gegenüber es völlig gleichgültig ist, was für Gedanken er sich macht und was für Wünsche ihn erfüllen. Was wird jetzt aus ihm werden? Wohin führen ihn diese dunklen Heiden, deren Sprache er nicht versteht? Er weiß es nicht; aber er will es auch nicht mehr wissen. Zum erstenmal fühlt er in der mittäglichen Sonnenglut das Glück, daß er sich darum nicht zu sorgen braucht. Und träumend bettet er seine Seele, wie in eine Wiege, in dieses volle, reife, süße Gefühl.

Er ist ein Glied in der Kette, die vor ihm und hinter ihm weiterläuft. Was formt sich wohl jeder der Reiter während der stundenlangen Einsamkeit für lockende Bilder in seinem Innern? 289 Träumt er von dem blauen Hafen, wo die Wogen schaumgekrönt aus der Unendlichkeit angerauscht kommen? Oder von köstlichen Gärten mit saftigen Früchten, durch die man sich gerne zu der mühseligen Karawanenstraße abseitslocken ließe? Gleichviel: Er bleibt doch in der Reihe; schiebt sie weiter vorwärts; wird selber von ihr weiter vorwärtsgeschoben. Ein jeder tut, was auch er jetzt tut; und er tut, was alle andern . . .

Und immer wieder sieht Stephan aus der Umhüllung, die sie ihm um Kopf und Schultern geworfen haben, dasselbe Bild vor sich, ob er die Augen geöffnet hält oder vor dem wehenden Gluthauch des afrikanischen Himmels die geröteten Lider schließt. Es ist das Bild einer blinden, lautlosen Demut, unter dem er sich seiner allein noch bewußt wird. Er weiß, daß nicht nur die Wesen, sondern auch die Ereignisse sich in dieser Weise folgen –

Kamele, die durch die Wüste ziehn . . .

 


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