Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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28. Der Besuch beim lieben Gott

Er stößt den Spaten in das braune Erdreich des Gärtchens, welches, von einer Schlehdornhecke eingefriedet, auf der vorspringenden Felsenkuppe liegt. Dann wischt er sich mit dem braunen Kuttenärmel den letzten Schweiß von der tief durchfurchten, schon wieder sonnverbrannten Stirne und aus dem breitwallenden schwarzbraunen Bart. Und endlich wirft er einen Blick durch die Schlucht hinunter, wo zwischen Baumwipfeln die Straße sichtbar wird, während in der Ferne der hügelige Horizont ungebrochen über sie hinwegzieht . . .

338 Wieder ein Tag vorbei! Er läßt die Schaufel stehen und wendet sich nach der Klause, welche hinter ihm in die hohe Felswand eingehauen ist und sich nur durch die Türe und ein kleines Schutzdach verrät; und an einem vor ihr aus rohen Baumstämmen errichteten Gerüst läutet er mit der Glocke, die darin aufgehängt ist, Vesperzeit in den purpurnen Abend hinaus. Wie aus dem Amt des Tages entlassen, tritt er hierauf über die Schwelle, holt ein Stück Brot und einen hölzernen Becher heraus, den er ein paar Schritte seitwärts an einer leise sprudelnden Quelle füllt, und setzt sich auf das Bänklein vor der Türe.

So ißt und sinnt er vor der langsam erbleichenden Weite des Himmels, aus welcher golden das Heer der Sterne herzuglitzern beginnt; die Zwergtannen, die aufgebogen den Ritzen der Felsen entwachsen, über denen sein Gärtchen liegt, stehen mit ihren niedrigen Wipfeln immer schwärzer vor der hellen Ferne. Er ist müde von der Arbeit in seinem kleinen Acker, in welchem er den Grund für seine Bohnen und Erbsen umgestochen hat; aber er fühlt es schon jetzt mit trüber Gewißheit, daß die in allen Gliedern abgematteten Kräfte sich langsam wieder erholen und in sein Herz zurückkehren werden, um ihn in seinem Schlaf schwellend zu bedrängen und seine niedere Höhle mit blühenden Leibern zu bevölkern, die von seinem Leben haben wollen. Doch wo läge für ihn noch der Sinn, dieses Leben weiterzugeben, wo ihm einst die liebliche Beate, die sein Eheweib werden wollte, vom Schwarzen Tod in wenigen Stunden als eine bläulich verfärbte, eitertriefende Masse Fleisch vor die Füße geschleudert wurde?

Er steht auf und pfeift durch die Finger. Aber der Hund Knell, der mit seinem klugen Wolfsgesicht sonst jeden Abend zur Stelle ist, um seinen Bissen zu erschnappen und die Nachtwache anzutreten, wird nirgends sichtbar. Der Strolch! schilt er ihn 339 in Gedanken. Hinter welcher Hündin her mag er sich wieder verlaufen haben? Dann schlurpt er in das dunkle Innere der Klause hinein, wo das einzige Loch in der Felswand durch das ölgetränkte Pergament kaum noch ein letztes Leuchten von Licht hereinläßt. Er legt sich in seiner Einsamkeit auf das harte Lager, über welchem eine kurzgriffige, vielsträhnige Geißel mit scharfen Eisenklötzchen an den Schnur-Enden herabhängt, deckt sich mit der rauhen Decke zu und hofft auf den Schlaf, der ihm wieder für einige Stunden Vergessenheit bringen soll und von dem er fürchtet, daß er nicht kommen wird.

Die Sonne, die ihm tagsüber auf die Stirn gebrannt hat, fängt in seinem Blut an zu kochen. Bald fallen ihm die Augen zu, bald öffnet er sie; und zuletzt weiß er nicht mehr, ist, was er sieht, Traum oder Wirklichkeit. Weht nicht ein Windstoß die Türe auf? Oder öffnet sie das rosig schimmernde Weib, das mit prallen Brüsten und straffen Hüften hereingeschritten kommt und eine Schar lockender Evastöchter anführt, von denen eine jede andere Vorzüge des Leibes zur Schau trägt, würdig der Verjüngung in einem neuen Wesen und Leben? Sie nähern sich ihm wie Früchte an einem Zweige, den ein beginnender Sturm bewegt; aber sie schrecken im letzten Augenblicke immer wieder zurück, denn zwischen ihnen und seinem harten Bette liegt die schwarze Leiche Beates und haucht ihnen entgegen: Was ich bin, das werdet ihr werden! Und unter den Göttinnen zeigen sich überall grüne Teufelsfratzen am Boden, die mit stöhnend fauchenden Blasebälgen ein Feuer um ihre Füße entfachen: es flammt auf, wird im Steigen zur Bewegung der goldenen, immer wilder hin und her geworfenen Frauenleiber, welche gleich Gefäßen, die von ihrem eigenen süßen Inhalt trunken sind, auf ihn zutaumeln und doch jedesmal wieder vor seinen 340 begehrlichen Griffen – über die tote Beate hinweg – hohnlachend und aufreizend zurückfliehen.

Er hält es nicht mehr aus. Er ringt sich im Kampfe mit ihnen auf die Knie, tastet nach der Geißel an der Wand und reißt sie herunter. Aber nun gilt es noch, sich über die schwarze Leiche hinweg und durch die rosigweiß ineinanderwogenden lebendigen Leiber hindurch einen Weg zu bahnen bis zu dem Muttergottesbild mit dem Leichnam des Herrn auf den Knien! Dort vor der Qual der Unbefleckten wird er Mut und Kraft zur Marter seiner selbst finden und die schillernden Netze des Teufels zerreißen; dort wird ihm etwas wie reine, kühle Himmelsluft in seine irdische Hölle hereinfächeln –

Ein bellender Laut ruft ihn an. Er steht plötzlich erwacht vor seinem Lager, sieht in der offenen Türe etwas Dunkles sich bewegen und erkennt den Hund Knell, der schweifwedelnd auf ihn zukommt und sich neben ihm aufstellt: und da erscheint auch schon in der Türöffnung ein helles Flämmchen, dann noch eines, ein drittes, ein viertes und zuletzt ein fünftes und sechstes. Er sieht genau, daß die Flämmchen von Kerzen herrühren; und wie sie jetzt alle im Halbkreis um ihn herum erstrahlen, gewahrt er in ihrem Schein sechs müde Kindergesichter, die mit einem letzten frohen Glauben zu ihm aufschauen, während der Hund klug die Ohren spitzt, ihnen die rote Zunge herausstreckt und sie mit listig blinzelnden Augen und allen seinen weißen Zähnen anlacht.

»Du bist der liebe Gott!« lallt eines der Kinder. »Laß uns deine Engelein sein!«

Er sieht sie an und staunt. »So gebt mir eure Lichter!« sagt er dann so sanft, als es ihm möglich ist; und sie strecken ihm eines nach dem andern die weit heruntergebrannten Kerzen hin. Aber noch hat er sie nicht alle auf dem Wandbrett über seinem Lager 341 aufgestellt, wo sie in einer Reihe fromm weiterbrennen, so sind auch schon den übermüdeten Kleinen die Beinchen unter dem zu schwer gewordenen Körper weggeschmolzen; und wie er sich wieder umschaut, liegen sie zu einem Häufchen übereinandergeweht da und schlafen.

Er darf sie auf dem kalten Felsboden nicht liegen lassen: er holt aus einem Verschlage Heu, schichtet es in dichten Bündeln auf der harten Pritsche auf, legt einen der schlummernden kleinen Gottessucher nach dem andern hinein und breitet sorglich seine rauhe Decke über sie aus. Aber da fängt der Hund Knell an zu winseln, rennt nach der Türe, kommt wieder zurück und packt ihn beim Arm, und rennt dann abermals vor die Klause, bis er begreift: er nimmt seinen Bergstock zur Hand und tritt in die stille, von tausend Sternen durchflimmerte, von weicher Luft durchraunte Nacht hinaus. Und dem klugen Tiere folgend, stapft er in seinen schweren Holzschuhen auf der Felsentreppe unterhalb der Gartenkuppe im Zickzack in die Schlucht hinunter, gegen die Landstraße zu.

Schon hat er fast die ganze Schlucht durchschritten und sieht jenseits der Straße die Wiesen im blauen Dämmer liegen, da bleibt der voraustrottende Hund stehen und senkt die Schnauze: dort, wo der Schluchtpfad kaum abgezweigt ist, liegt noch ein Kind und schläft auf seinem eigenen Ärmchen. Und er nimmt es eben so ungeschickt als sorgfältig auf den Arm, umhüllt es halb mit seiner weiten Kutte und trägt es, bald einmal nicht nur Wärme mitteilend, sondern auch Wärme empfindend, behutsam als letztes in seine Klause hinauf. Was ist das für eine sonderbare Fügung, die ihn auf einmal zum Vater einer so großen Familie machen will?

Wie er eintritt, sind die sechs Kerzen über den sechs 342 schlafenden Engelein zu winzigen Stümpchen heruntergebrannt: er legt das siebente Kind zu den andern unter die Decke und entzündet, da ihm die Frühlingsnacht für so junges Blut zu kühl vorkommt, auf dem Herd ein gewaltiges, lustig loderndes Feuer. Dann schiebt er den einzigen, rohgezimmerten Stuhl neben das Lager, setzt sich darauf und schaut jedem einzelnen der Kinder in die unter den geschlossenen Lidern sicher und gläubig schlummernde Zuversicht hinein: zuerst sucht er unter ihnen Geschwister zu erkennen; dann wird er durch solche Überlegungen dazu verleitet, sich die Eltern vorzustellen; und zuletzt fühlt er sich bei jedem in jenen von Träumen der Kraft und der Sehnsucht geschwellten Augenblick zurück, der ihnen aus wunderbarer Seelenfülle heraus wunderbar das Leben gab. Ab und zu wirft er einen Holzklotz in die erlahmenden Flammen, damit das Feuer unterhalten bleibt und seinen kleinen Gästen genug Wärme spendet, die in dieser Nacht und für diese Nacht seine eigenen Kinder sind – würden diejenigen, die ihm Beate geschenkt hätte, nicht ganz ähnlich ausgesehen haben?

Und da geschieht noch ein anderes Wunder. Er sieht seine geliebte Beate nicht mehr als verfärbte Leiche vor sich liegen: je mehr sich der Morgen naht, um so deutlicher bewegt sich ihre einst so blühende Gestalt an dem Lager auf und ab und wacht mit ihm über den Kindern; und immer, wenn er sich besorgt zu fragen anfängt, woher ihm nur soviel vornehm gekleidete Jugend komme und was er wohl am Tage mit ihr anfangen solle, beruhigt er sich selber mit der Antwort: Beate wird das schon machen! Beate wird das schon ins Reine bringen! Wie endlich der erste Schein des Tages durch die Türe hereindringt, flackert das Feuer nur noch müde auf dem Herde, und die sechs Kerzen über den sieben Kindern sind längst erloschen; aber die Wänglein, 343 die unter ihnen auf dem Lager nebeneinander leuchten, haben das Rot eines so frischen Lebens angezündet, daß sie jeden Augenblick erwachen können. Da greift er nach seinem Holzkübel und schleicht sich leise hinaus, um die Ziege zu melken.

Wie er wieder mit der Milch zurückkommt, steht der Hund Knell mitten in der Felsenstube und streckt lachend die Zunge heraus; und die Kinder, die in ihren weißen Festtagskleidchen längst unter der rauhen, beißigen Decke hervorgekrochen sind, stehen um ihn herum, streicheln ihm den Kopf, flüstern ihm in die Ohren, tätscheln ihm den Rücken, zupfen ihn am Schwanz und liebkosen ihn als ihren lieben, getreuen Führer. Dem Himmel sei Dank, sie sind alle gesund und munter! Er verteilt mit dem Becher die Milch unter sie und schneidet ihnen das Brot vor; und während sie essen und trinken, erkundigt er sich so nebenbei, wie sie eigentlich heißen; und alsobald tönen ihm die Namen, mit Vergnügen herausgeschrien, von allen Seiten ins Ohr: »Mechthild! Irmgard! Barbara! Herbert! Veronika! Hansjakob! Annegretli!« Wie er sie aber fragt, wer denn er sei, rufen sie alle miteinander: »Du bist der liebe Gott!«

»Gut denn«, versetzt er; »wenn ich der liebe Gott bin und ihr meine Engelein sein wollt, so sollt ihr es auch lustig bei mir haben! Kommt mit heraus und seht, wie die Welt schön ist!« Schon stürmen sie vor ihm her nach der Türe, zusammen mit dem Hunde Knell, der vor Freude aufheult; und noch ist er selber nicht bis zur Schwelle gekommen, so sieht er schon, wie Mechthild in dem weichen Kräutergras einen seligen Purzelbaum schlägt. Wie er aber jetzt mit ihnen draußen im Grünen steht, so fassen sie sich bei den Händen, tanzen einen Ringelreihen um ihn herum und rufen in ihrem Übermut auf einmal erst leise, dann immer lauter und in festem Takt: »Du bist der liebe Gott! 344 Du bist der liebe Gott! Du bist der liebe Gott-Gott-Gott! Du bist der liebe Gott!«

Endlich lösen sie den Reigen, halb taumelnd von der plötzlich abgebrochenen Bewegung. »O weh, ich bin schmutzig!« ruft die kleine Mechthild, die sich bei ihrem Purzelbaum ein paar saftiggrüne Flecken geholt hat und sie jetzt auf einmal bemerkt. »Lieber Gott, ich muß ein neues Kleid haben!« Und schon fällt auch den andern Kindern ein, dies wäre vielleicht die beste Gelegenheit, sich die Erfüllung aller Wünsche zu sichern; und binnen kurzem verliert der liebliche Engelchor seine letzte himmlische Schüchternheit und jauchzt seine höchst irdischen Wünsche durcheinander: »Lieber Gott, gib mir ein Pferd! – Lieber Gott, ein Brüderchen! – Und mir ein Schwesterlein! – Lieber Gott, schenk mir deinen Hund! – Und ich möchte gern einen Falken haben! – Und ich ein Schweinchen! – Nein, lieber Gott, lieber eine Katze! . . .«

Da tönen aus der Schlucht herauf laute Stimmen; der Hund Knell spitzt die Ohren und brüllt so wütend los, daß der gute Waldbruder ihn am Fell zurückhalten muß. Auf den obersten Stufen des Felsenweges erscheinen die Gestalten dreier Männer: es sind gutgekleidete Dienstleute vornehmer Herren, von denen der vorderste mit einer erloschenen Kerze, die er in der Hand hält, wie mit einem Feldherrnstab auf die Kinder zeigt. Sie haben die Kerze unten beim Schluchteingang gefunden, wo das siebente Kind schlafend zurückgeblieben war, und sind dadurch auf die rechte Spur geführt worden.

Die Kinder springen den Ankömmlingen fröhlich entgegen und nennen sie zutraulich beim Namen; wie sie aber merken, daß der Besuch beim lieben Gott ein Ende hat, und hören, daß unten auf der Straße ein Wagen steht, um sie schleunigst wieder 345 nach Hause zu fahren, machen sie traurige Gesichter und fangen an zu weinen. Aber es hilft nichts: sie müssen, eines nach dem andern, dem lieben Gott das Händchen geben und ihm danken; dann werden sie in die Mitte genommen, und der Abstieg über die steinernen Stufen beginnt. Oben stehen der Einsiedler und der Hund Knell und schauen ihnen nach, bis sie in dem tiefen Buschgrün des Tobels verschwunden sind und in der Weite des jungen Tages nichts mehr von ihnen zu sehen oder zu hören ist.

Da greift der fromme Mann wieder nach seinem Spaten, welcher noch an derselben Stelle des Gartens steckt, wo er ihn gestern Abend eingestochen hat. Und er wendet wie tags zuvor bedächtig Scholle auf Scholle um: die Sonne brennt ihm immer heißer auf den gelichteten Schädel; und Schweißtropfen auf Schweißtropfen fällt ihm von der gefurchten braunen Stirn auf den schwarzbraunen Bart und in das aufgebrochene Erdreich. Aber öfter als sonst hält er heute mit der Arbeit inne und staunt in Gedanken verloren vor sich hin; und ein stilles Lächeln seiner fast unsichtbaren Lippen verrät, daß das Erlebnis der vergangenen Nacht seiner Erinnerung wie ein siebenfach funkelnder Edelstein eingesetzt ist, strahlend von einer sieghaften Seelenkraft gegen alle bösen Zauber der Unterwelt.

Wie er wieder einmal so dasteht und verschnauft, erblickt er in weiter Ferne einen rund überdachten Wagen, welcher langsam durch das Gefilde rollt, umgeben von Knaben und Mädchen und von einer Menge Andächtiger und Neugieriger gefolgt. Gehört diese Schar etwa zu jener kreuzfahrenden Jugend, von der jetzt die Sage geht, daß sie überall den Eltern davonläuft, um nach dem heiligen Lande zu ziehen? Und waren am Ende die süßen Kinder, die sich in seine Klause verirrten, von einem ähnlichen Wahne ergriffen gewesen? 346

 


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