Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

30. Das Liebesnest

Der Schweiß tropft ihnen von den Stirnen und rinnt über ihre Rücken. Seitdem die Kuh eines Tages tot umsank, ziehen und stoßen sie den Wagen des Königs von Jerusalem selber und lassen aus Furcht, ihr frommer Betrug könnte entdeckt werden, niemand aus der gläubigen Menge, die ihnen immer aufs neue das Geleite gibt, weder an die Deichsel noch an die Räder heran. Auch heute folgt ihnen unermüdlich das Volk und will Fäden aus dem Gewande des heiligen Knaben haben; und ob sie diese Reliquien auch noch so freigebig austeilen in der Hoffnung, sie möchten die Zudringlichen so am ehesten loswerden, es werden doch diejenigen, die abgehen, von den frisch Zuströmenden mehr als ersetzt.

349 Da hat der Himmel, der immer dichter blauschwarze Wolken über den lichtgrünen Laubwäldern zusammenballte, mit ihnen ein Einsehen. Schweflige Blitze zucken herab, rollende Donner zerreißen die lastende Sommerhitze; und dieselben großen Tropfen, die ihnen den heißen Nacken kühlen, treiben bald einmal, wie sie dichter und dichter fallen, den scheu andächtig nachtrottenden Menschenanhang in die Flucht. Sie ziehen den Wagen in einen Hohlweg hinein, wo die Regenflut wie aus Kübeln geworfen durch die jungen Blätter rauscht und der rasch aufgeweichte Boden bald einmal so grundlos wird, daß die Räder plötzlich unbeweglich im Kote stecken bleiben: gerade bevor sie den Wald wieder verlassen hätten.

»Jetzt machen wir, daß wir fortkommen!« ruft einer der Jünglinge, nachdem er sich überzeugt hat, daß sie allein sind; und sein Wort wirkt auf alle wie ein Zauberspruch, weil alle zur gleichen Zeit dasselbe denken. Flink wie Diebe reißen sie ihre Bündel aus dem Karren; und tropfnaß rennen alle durch den Wald davon, um irgendwo einen andern Weg zu suchen und auf ihm als harmloses Kreuzfahrertrüppchen eine weniger großartige Rolle zu spielen. Der verlassene Wagen aber steht eine Weile ganz allein da, trübselig die Deichsel aus dem Walde hervorstreckend, als zeigte er über die Talmulde hinweg nach dem trotzig-ummauert auf seiner Anhöhe liegenden Städtchen, wie nach einem Ziel, das er nicht mehr hat erreichen dürfen . . .

Da kommen durch denselben Wald Rupprecht und Marei einhergewandert. Die Kleider kleben ihnen nicht anders am Leibe, als in den regendurchklopften Wipfeln die jungen Blättchen aneinanderkleben; und ihre Glieder und ihr Leib treten mit allen Ecken und Rundungen deutlich durch das dürftige Gewand hervor, so daß sie sich gegenseitig auf einmal viel besser 350 sehen. Wie sehr sie aber aneinander Gefallen finden, das beweisen sie sich mit den lachenden Gesichtern, in denen nichts mehr von Ungemach und Müdigkeit geschrieben steht und aus denen das Kreuz eben so gründlich verschwunden ist, wie sie es längst von ihrer Brust entfernt haben.

»Ei sieh doch – ein verlassener Karren!« ruft Marei.

»Der mag uns als Unterschlupf dienen!« frohlockt Rupprecht. Und hopp! steigen sie hinein und ziehen und binden den in der Mitte geteilten Vorhang von innen wieder zu.

Wie lustig trommelt der Regen auf das Blahendach! Wie ganz von selbst trocknen die nassen Kleider zwischen der doppelten Glut ihrer beiden jungen, verliebten Körper! Und wo ihnen noch irgendein Wassertropfen auf der Haut liegt, da machen küssende Lippenpaare eine fröhliche Jagd auf ihn – wobei sie sich unter Scherzen und Lachen haschen und erraffen und das Spiel immer mehr in einen lustvollen Ernst übergeht. Und so erleben sie zuletzt selber ein süßes Gewitter und merken nur deshalb nicht, wie draußen der Regen aufgehört hat und das erlöste Land aus duftender Scholle aufatmet, weil sie unversehens in jenen holden Schlummer versunken sind, der die Belohnung aller gesunden Liebe ist . . .

Kaum aber ist das Donnerwetter weitergezogen und fängt der Himmel an, sich zu beruhigen, siehe, so kommen die Bürger des Städtchens, denen Vorausgeeilte die Ankunft des kindlichen Königs gemeldet haben, in hellen Scharen zu seinem Empfange in die Landschaft herausgeströmt. Die hohe Obrigkeit freilich gedenkt sich seiner in einer weniger freundlichen Weise anzunehmen: sie entschreitet als letzte mit allen ihren Schergen und in all ihrer Weisheit dem hohen Tore, um dieses verirrte Knäblein Nikolaus einzufangen, es in sicheren Gewahrsam zu bringen und 351 so, wie sie glaubt, dem immer mehr um sich greifenden Unfug des Kreuzfahrens ein jähes Ende zu bereiten. Da nun die Kundigen sehr bald den Wagen am Waldrand entdeckt und als den richtigen erkannt haben, aus dem verlassenen Eindruck, den er macht, aber nicht klug werden können, so strebt zwar die allgemeine Wallfahrt zielbewußt diesem einen Punkte entgegen, verlangsamt sich aber in demselben Maße, in welchem sie sich dem geheimnisvollen Gefährt nähern und die ehrfürchtige Scheu, die sie vor diesem die Welt durchziehenden jungen Friedenskönig erfüllt, über sie mächtig wird.

Immer mehr schwillt der Halbkreis von Menschen an, der sich in einiger Entfernung auf der Wiese um den Karren herumlagert und so lange, gegenseitig sich zurückhaltend, flüsternd und wispernd an seinem Rätsel herumrät, bis endlich ein paar von den Verwegensten die Deichsel anfassen und andere heimlich in die Speichen greifen, so daß das Gefährt allmählich wie von selbst in Gang gerät und zuletzt im Triumph immer schneller auf der Straße fortgezogen wird, den Ratsherren und Bütteln entgegen, die eben mit ihrer in allen Lagen sich bewährenden Amtsfeierlichkeit dahergeschritten kommen. Inzwischen sind Rupprecht und Marei über dem Schüttern und Schaukeln aufgewacht: sie suchen sich in dem Innern des Karrens mit erstaunt umherirrenden Blicken an das zu erinnern, was ihnen vor dem Einschlafen begegnete, und merken alsdald an dem Getrappel von Schritten und dem Stimmengemurmel, daß etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Endlich steckt Rupprecht seinen Kopf durch die Vorhangspalte und gewahrt die vielen Menschen, die ihrerseits mit erstaunten Ausrufen auf ihn zeigen, sowie die würdigen Amtspersonen, welche eben den Wagen erreicht haben und über seiner Erscheinung Maul und Augen aufsperren.

352 »Bist du der König von Jerusalem, der die Kinder nach dem heiligen Lande führen will?« tönt ihm die krächzende Stimme des beleibten Bürgermeisters entgegen.

»Ich bin kein König!« lacht Rupprecht sie an. »Und das heilige Land suche ich nicht erst, sondern habe es bereits gefunden . . . Hier ist mein heiliges Land!« deutet er auf Marei, welche eben mit einem schelmischen Lächeln ihre Grübchenwangen in die Vorhangspalte hereinschiebt. »Wir haben in diesem leeren Karren vor dem Regen Unterschlupf gesucht und sind ganz einfach ein Knecht und eine Magd, die auf die Heuernte ehrliche Arbeit erhoffen . . . Ist kein Bauer da, der unsere vier Arme brauchen kann?«

Und während ihnen ein in immer weiteren Kreisen losplatzendes Gelächter entgegenschallt, steigen sie aus und vernehmen zu ihrer eigenen Überraschung, was für eine himmlisch-fromme Wiege sie sich, ohne es zu wissen, für ihre irdisch-frohe Liebe ausgesucht haben. Von den Bauern aber, die sie anstaunen, als wären sie von den Sternen gefallen, will ein jeder sie für sich dingen, so daß sie nur zu wählen brauchen, in welcher Richtung sie durch das erfrischt grünende, würzig-kühl aufatmende Land ihrer gemeinsamen Arbeitsstätte zuwandern wollen. Sie werden mit einem gutmütig blickenden Graukopf einig, welchem die Hilfe ihrer jungen Kraft wohl zu statten kommt und dem sie sie auch gerne gönnen mögen; und während die Stadtbürger mit dem leeren Wagen als einziger Beute wieder in ihre Mauern zurückkehren, schreiten sie mit dem neuen Brotherrn glücklich und zufrieden durch die Felder, gerade dem weiten Himmelstor eines leuchtenden Regenbogens entgegen, den die durchbrechende Sonne mit allen Farben der Verheißung auf das in blau-grauen Dunst zerrinnende Gewölke malt . . . 353

 


 << zurück weiter >>