Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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39. Gerolds Traum

Sonntägliche Kirchenglocken läuten in den weißduftigen, sonneseligen Septembermorgen hinein. Wie eingebettet in den weichen Wellen des hellgoldenen Lichtes rollen die fromm dröhnenden Erzklänge über Land, auf der Suche nach Menschen, die sie zum Gotteshaus rufen, nach Herzen, die sie zu stiller Andacht bewegen können. Mehr noch, als nur dir Leiber der 220 Gläubigen zusammenführen, möchten sie den Einzelnen in sich selber versammeln und ihm jenes feinere Gehör der Seele eröffnen für die Schwingungen göttlichen Lebens, welche aus Lust und Leid eine in sich selber selige Harmonie aufbauen . . .

Ein junger Held reitet langsam durch das Geläute, das ein angegilbter Buchenwald eben so still in sich aufnimmt, als er sich während Monaten am Lichte des Sommers sattgetrunken hat, allmählich das Grün der Hoffnung in das festliche Gold der Erfüllung und Vollendung verwandelnd. Der leichte Helm sitzt ihm stahlgrau auf dem Rücken; sein scharfes Schwert hängt von der linken Hüfte an der Flanke des Rosses, sein guter Schild auf der andern Seite vom Sattel herab; und während seine linke Hand die Zügel lenkt, die rechte sich mit trotziger Faust in die Seite eingestemmt erhält, schaut er unter wirrblondem Haupthaar aus einem jugendlichen und doch nicht mehr jungen Gesicht vor sich hin, als blickte er forschend der Herkunft der Töne entgegen und möchte mit träumendem Geiste noch andere Hindernisse als nur das welke Laubwerk des Waldes durchbrechen. Die Greuel des miterlebten Glaubenskrieges weben nachwirkend noch immer einen blutigen Schleier vor seinem geistigen Auge und verwehren ihm den Ausblick in jene lichte Ferne, in welcher Gott wohnt.

Wiederum ist es die Nacht, welche ihm das so lange verfolgte rothaarige Mädchen wie mit einem Hohngelächter der Hölle tot vor die Füße warf, was sich für ihn von dem Wirbel dunkelbewegter Auftritte in einem schmerzhaft klaren Erinnerungsbilde abhebt; und er durchlebt noch einmal die düstere Brautfahrt nach dem Grabe mit der geliebten Toten im Sattel und entsinnt sich dabei sämtlicher Zwischenfälle, bis er sie endlich der kalten, feuchten Erde statt seinem jugendlich warmen Leibe 221 anvermählt hatte. Die Raserei des Christenglaubens, als deren Opfer er Isa betrachten mußte, machte ihn damals für immer zum heimlichen Feinde der Kirche und zum stillen Zweifler an Gottes Güte; und hätte er nicht das Wissen um die Liebe einer schönen, reifen Frau in Kopf und Herz getragen, seinem jugendlichen Blick wäre die Welt als Finsternis ohne alles Licht vorgekommen. Wie er jetzt aus dem gelb durchleuchteten Walde heraus in die warme Sonne reitet und das hochgelegene Städtchen mit dem Kirchturm vor sich sieht, von welchem her eben die letzten summenden Klänge verhallen, zielen seine Blicke an dem Gotteshaus vorbei in die Ferne und wird er sich bewußt, daß er nichts mehr mit den Menschen gemein hat, die jetzt auf Dombänken sitzen: über alles dunkle Herdengefühl hinweg will sich seine Seele zu der ihm vom Schicksal bestimmten Gefährtin heimfinden, um bei ihr, nur bei ihr auszuruhen von den Stürmen der Reise.

Gerold ist von seinem heutigen Ritt wider Gewohnheit früh müde geworden und empfindet ein so dringendes Bedürfnis, sich auszustrecken, daß er abspringt, das Pferd an einem Baume anbindet und sich ins trockene Gras wirft, um sich ganz seinen Gedanken hingeben zu können. Er hat keine Ahnung davon, daß diese ihm längst als unheimliche Wesen, die seine Mannheit untergraben, auf Schritt und Tritt gefolgt sind, um jetzt, da er sich in Freiheit und Sicherheit glaubt, erst recht über ihn herzufallen. Kaum lehnt er sich an den Stamm zurück, das dunkle, weißduftig übersonnte Umrißbild des in seiner Höhe ragenden Städtchens vor sich, so ist es ihm, als zerrisse die nach den letzten Glockentönen eingetretene Stille des blauen Himmels wie eine riesige Weltseifenblase, um aus ihrem platzenden Innern nicht frommes Geläute, sondern wiederum das ungeheure Gekreische 222 der Mordgier und Todesnot herbrechen zu lassen, das er in jener furchtbaren Nacht unvergeßlich in sich aufnahm.

Und immer neue Hallen dröhnenden Entsetzens öffnen sich hintereinander, in einer unermeßlichen Gegenwart und, gleich dunklen Kellern, in die Abgründe der Vergangenheit hinein; und steil von oben fließt ein ewiges Licht herab, welches sich in tausend Schattenwesen teilt und trübt und unter ihnen zu einem Meere der Finsternis zusammenrinnt. Wird er nach oben sich erheben können oder in die Tiefe geschleudert werden? Wird seine Seele der Vergangenheit anheimfallen, die die Hölle ist, oder in der aus Glanz und Dunkelheit gemischten Gegenwart die Kraft finden, sich in den Himmel der Zukunft hineinzuschwingen, wo die Dinge, noch ungeboren für diese Welt, in den Gedanken Gottes leben? Aber wie darf er fragen oder gar hadern als Geschöpf, wo es das Schicksal des Schöpfers selber zu sein scheint, ewig sein reines Leben in die Wirklichkeit auszuströmen, in welcher alles lichte Gute und Vollkommene unvermeidlich zum Mangelhaften und Bösartigen sich verdüstert, aber eben damit den dunklen Hintergrund bildet, auf welchem das Göttliche, das Gute um so mehr als solches erkannt wird! Und wie dürfte der Mensch müde werden, das Gute zu wollen, wo auch Gott trotz allem nicht müde wird, das Gute zu schaffen?

Und siehe: Taucht nicht eben jetzt aus all dem Wirbel der in die Vergangenheit absinkenden Zerstörung wieder eines der Geschöpfe auf in jener Reinheit, in welcher es einst aus der Hand seines Schöpfers hervorging? Vor ihm, zwischen seinen aufgestemmten Füßen, kauert auf einmal Isa, legt ihre Arme quer mit ineinandergeschlungenen Händen auf seine Knie und schaut aus ihren blauen Augen gläubig und glücklich zu ihm empor, umflammt von ihrem zu Gold verklärten roten Haar und 223 erleuchtet von der schneeigen Weiße ihrer Kehle. Und gleichzeitig verstummt das Tosen der Hölle unter ihm wie ein glühend prasselndes Metall, dem plötzlich die klare Form aufgeprägt worden ist: vor dem Wunder der Persönlichkeit muß alles bloß Trieb- und Herdenhafte in ein wesenloses Nichts versinken!

Und in einer heiligen Stille sieht und hört er nicht mehr die Welt vor sich, sondern in sich das tiefe, von einem süßen, göttlichen Klingen durchzogene Land der eigenen Seele. In seine sanften Gefilde hinein führt ein Pfad, langsam nach einer Höhe ansteigend – und auf der Höhe sitzt, wartend am Wege, Frau Adelheid: sie trägt ihr dunkelblaues Gewand, aus welchem mattweiß ihr Hals aufsteigt, und beugt sich mit zwischen den Knien ineinandergefalteten Händen ihm entgegen, ganz nur noch sehnsüchtige Trauer der dunklen Augen und schwarzen Locken! Und jetzt spürt er, wie auch Isa sie erblickt hat, sie ihm mit der Hand zeigt und mit einer leisen, innigen Stimme voll Dankbarkeit ihm zuflüstert, so daß er ihren warmen Atem fühlt: »Sie hat dich zu mir gesandt – nun will ich dich ihr zuführen!«

Aber wie er sich voll tiefen Entzückens und in einem schweren, reifen Glücke erheben will, kann er sich nicht von der Stelle rühren. Ist es so schwierig oder gar unmöglich, eine Strecke des Lebensweges zum zweitenmal zurückzulegen? Wird nichts, was einmal Erinnerung geworden ist, je wieder zu der Wirklichkeit werden, die es einst war? Umsonst spricht Isa auf ihn ein, faßt ihn bei der Hand, am Knie an; ja, will ihn, der gelähmt auf der Erde liegt, mit Gewalt jenem Ziele zustoßen, nach welchem ihn sein eigenes Verlangen hinreißt – – –

Gerold erwacht und gewahrt vor sich den Kopf eines jungen, weißen Lammes, das ihn bald treuherzig aus dunkel-sanften, gelb durchhellten Augen anschaut, bald sich an seinen Knien reibt. 224 Er schrickt aus seiner in sich zusammengesunkenen Haltung auf und zurück, worüber das scheue Tier sich so entsetzt, daß es in Sätzen davonhüpft und sich wieder seiner Herde anschließt, die ganz in der Nähe, das Herbstgras abweidend, vorüberzieht. Jenseits der Talmulde aber ragt und verbreitet sich, unverändert im nachmittäglichen Sonnendunst, das bläuliche Schattenbild des Städtchens.

Wie lange mag er geschlafen und geträumt haben? Noch wie trunken von der Fülle seines innern Erlebens schaut er den Tieren nach. Wo ist Isa? Wo ist Frau Adelheid? Was für ein Geheimnis lebt in diesen Tierseelen, die durch ihr Dasein demselben letzten Tage, aber mit soviel tieferer Demut entgegengehen? Er weiß auf alle diese Fragen keine Antwort. Er fühlt nur stärker als jemals ein wundersames Verbundensein alles Lebens und vermutet, es werde seine Verschiedenheit in der Erscheinung nicht weit unter die sichtbare Oberfläche hinabreichen.

Und vor sein geistiges Auge treten, an Stelle der am Wiesenhang unter dem Walde durch verschwindenden Herde, die Scharen der Jünglinge und Mädchen, welche er einst in ähnlicher gemeinsamer Trift dem heiligen Lande hat entgegenwandern sehen. Wo mögen sie jetzt angelangt sein auf ihrer Fahrt und in ihrem Schicksal? Und wie lange wird es noch dauern, bis auch sie erkennen, hinter was für einem Wahnbild sie herziehen, um darum doch nicht minder an jenem letzten Ziele anzukommen, wo der laute Traum dieser Welt versinkt und man in das Reich der Seele zurückkehrt, wie er es soeben im Traume vorgekostet hat?

Da hört er aus der Landschaft feine, schrille Pfeifentöne. Drüben über der Talmulde kommt ein Fähnlein froher Burschen zum Stadttor hinausgezogen, zu irgendeinem sonntäglichen Feste. Wie klein und nichtig sehen sie aus, während sie in das von 225 heimlicher Fäulnisgärung durchhauchte herbstliche Gelände hinuntermarschieren! Nachdem ihre Gestalten schon längst in den Bäumen verschwunden sind, tönen immer noch die Pfeifen als leise kichernde Lockung durch die Welt, um alles, was Füße hat, zum Tanzen zu bringen.

Gerold erhebt sich und schwingt sich in den Sattel. Wohin wird ihn letzten Endes die in seinem Herzen lebendige Lockung führen? Er reitet, zwischen früchtebehangenen Ästen hindurch, zuerst in die Talsohle hinunter und dann jenseits wieder einen Bergbuckel hinauf, nach der Stadt, wo er gute Unterkunft zu finden hofft. Aber die fröhlichen Pfeifer, die ihm doch geradeswegs entgegenzukommen schienen, bleiben unsichtbar, sind wie vom Erdboden verschwunden, so sehr er sich auch nach ihnen umschaut.

Nur ihr Pfeifen lebt noch: Es prickelt beständig irgendwo aufreizend in der goldenen Herbstluft, als stießen närrische Geisterhände an die sich rötenden Äpfel, um zu sehen, wie bald sie fallen werden. Rings lockert sich die Herrlichkeit des verglühten Sommers zum Aufbruch in die winterliche Vernichtung hinein: abgebröckelt ist die stolze Gläubigkeit, mit welcher im Frühling tausend Blüten in ihr Dasein traten. Nun geht es mit allem Lebendigen der letzten Stunde entgegen . . .

 


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