Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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37. Die Geburtstagsfeier

Auf der Terrasse, auf welcher eben der Tisch fertig gedeckt worden ist, damit in der angenehmen Kühle des Sommerabends würdig der Geburtstag des reichen Tuchhändlers und Bankherrn Thomas Pankraz Guyer gefeiert werden kann, steht, über die Brüstung gebeugt, Magdalena, seine noch junge Ehefrau, und belauscht mit lustigen Augen ihre drei festtäglich gekleideten Kinder, einen Knaben und zwei Mädchen, wie sie sich drunten im Gärtchen auf der Stadtmauer eifrig besprechen.

»Also morgen! – Aber wer von uns geht?« fragt als Ältester der zwölfjährige Gebhart.

371 Die beiden jüngern Geschwister schweigen.

»Nun? Jemand von uns wird gehen müssen! Das gehört sich doch . . . Zählen wir ab! – »Piff, paff, puff –«

»Nein!« wehrt sich die blonde Gisela mit dem schmalen Gesichtchen. »Da weiß man gleich, wen's trifft . . . Lieber mit »Elledi, pelledi –«

»Gut!« sagt Gebhart, wird aber auf einmal nachdenklich. Und wie ihm jetzt die Kinder ihre Fäustchen darstrecken, fängt er an, als gälte es eine schwarze Beschwörung: »Elledi, pelledi, ribedi-rapp – ribedi, rabedi, knoll!«

Beim ersten Gang wird Giselas eine Faust niedergeschlagen; dann die Inges. Dann die zweite Inges – sie ist ganz pausbäckiger Jubel: sie muß nicht gehen! Endlich die zweite Giselas – hurra, auch sie darf zu Hause bleiben! Gebhart ist selber der vom Schicksal Erwählte und wendet sich mit rotem Kopf ab, während die Schwestern ihn auslachen.

»Kinder!« ruft da die Mutter von oben herunter. »Es ist Zeit, um ins Bett zu gehen.«

Das fährt wie ein Blitz sowohl in die Schadenfreude als in die Betrübnis hinein; und es dauert nicht lange, so stehen die drei kleinen Verschwörer auf der Terrasse, um der Mutter Gutenacht zu sagen.

Sie tut, als wüßte sie von nichts.

»Gebhart, du könntest heute bei Tisch helfen den Wein einschenken! Willst du?« Er nickt stumm und steht in seinem blauen Pagengewand wie ein unglücklicher Prinz da. »Die Mädchen aber gehen jetzt schlafen. Verstanden?«

Gisela und Inge verschwinden; mit dem löblichen Vorsatz, sich irgendwo zu verstecken und dann zur ungelegensten Zeit wieder aufzutauchen. Gebhart aber träumt vor sich hin: Will 372 er jetzt kein »Bubi« mehr sein, sondern anfangen, sich als Jüngling zu bewähren, so muß er morgen das Kreuz nehmen und hinter den schmutzigen Kindern herlaufen! Da gibt's nichts anderes! Und es gefiele ihm doch soviel besser zu Hause bei seiner schönen Mutter . . .

»Hör mal, Gebhart! – Sobald einer der Gäste einen leeren Becher hat –«

»Also zum Beispiel Onkel Kuno –«

»– so füllst du ihm nach. Mit der rechten Hand hältst du den Krug; mit der Linken darfst du ihn unten etwas stützen. – Und hier hast du ein sauberes Tuch: damit kannst du die Brosamen vom Tisch wischen! – Und wenn du siehst, daß einer etwas tun will, das du ihm abnehmen und selber tun könntest, so besinn dich nicht lange! – Ein rechter Page muß den hohen Herrschaften alles von den Augen ablesen . . .«

Doch jetzt tritt mit Würde auf die Terrasse heraus der gefeierte Vater, in Begleitung zweier geladener Freunde. Da ist Onkel Kuno, der Stadtschreiber, der so wunderliche Verse macht; und da Onkel Friedrich, der die großen Schleudermaschinen baut, mit welchen man auf dreihundert Fuß den Feinden Steinkugeln an die Schädel schmeißen kann. Und sie setzen sich alle erwartungsvoll hin: blicken zuerst in die Ferne mit dem spiegelnden See und den goldduftenden Höhenzügen; und dann auf den Tisch in der Erwägung, womit man sie wohl traktieren werde.

Und die Mägde kommen mit Platten und Schüsseln daher. die sie selber anbieten; und mit Zinnkrügen voll Wein, welche ihnen Jung Gebhart abnimmt und mit vor Anstrengung glühenden Wangen zu den Bechern der Gäste hochhebt. Schon sind die blauen Bachforellen hinuntergeschwemmt: da läßt ein 373 mächtiger knusperiger Braten den Gastgeber empfinden, daß es wohl der Mühe wert war, wiederum ein Lebensjahr hinter sich zu bringen, selbst wenn es das vierzigste ist. Und bereits wird, beim dritten Becher, die abendliche Frische des licht zu Häupten sich wölbenden Himmels äußerst wohltuend vermerkt, als Gegensatz zu der zunehmenden inneren Wärme.

Die Hausfrau aber verfolgt mit Feldherrnblicken den richtigen Ablauf dieser Schmauseschlacht, in welcher die Köpfe der Kämpfer allmählich mit der Farbe des Weines wetteifern. Nur wenn sie zwischenhinein die Augen auf ihrem Sohn Gebhart ruhen läßt, der sich mit krampfhaftem Eifer unentbehrlich zu machen bemüht, vertiefen sich unter einem heimlichen Lächeln die Grübchen in ihren Wangen, werden zwischen ihren vollen Lippen vergnügt die gesunden Zähne sichtbar und sträußen sich über den sonnigen Augen übermütig die Wimpern empor. Daß ihr geliebter Mann das Essen und Trinken dem Reden vorzieht, vermerkt sie mit ganz besonderm Wohlgefallen als den besten Beweis seiner guten Laune: denn gelegentliche Verstimmungen seines sonst so heitern Gemütes pflegen sich bei ihm regelmäßig so zu äußern, daß er erklärt, der Wein bekomme seinem ohnehin feurigen Herzen nicht; und daß er gerade dann gegen seine zur größern Hälfte nur in der Einbildung bestehende Fettleibigkeit einen peinlichen Feldzug glaubt eröffnen zu müssen, wenn es gilt, den Kunstgebilden der Küche die geziemende Ehre zu erweisen.

Da gerät dem Onkel Friedrich ein zu großer Bissen in den Mund. Aber wie er das Fett, das ihm in den Bart läuft, wegwischen will, hat jung Gebhart auch schon dienstbeflissen den Weinkrug auf den Boden gestellt und reibt ihm mit seinem Tuch tüchtig ein paarmal unter der Nase hin und her. – »Gebhart, was machst du da?« ruft die Mutter entsetzt. – »Aber du hast 374 doch gesagt: wenn einer etwas tun will, das ich ihm abnehmen kann –«

Doch schon ergreift der Onkel Kuno das Glas, um endlich seinen Trinkspruch anzubringen und ihn und sich selber damit zu adeln, daß er allen rasch über den peinlichen Zwischenfall hinweghilft. Und so ruft er denn, das betretene Staunen in ein erlösendes Gelächter verwandelnd:

»Hoch lebe unser Thomas Pankraz Guyer!
Ein Reim drauf macht mir Sorgen. Meint ihr? – Hui, er
Stellt sich schon ein, dem Jubilar zu künden,
Daß stets die Freundschaft weiß den Reim zu finden.«

Wie ihm aber Jung Gebhart, der sich schon wieder bereitgestellt hat, voll Eifer den immer leeren Becher vollschenken will, überwallt das prunkvolle Gefäß; und der Onkel Kuno hat den Wein, bevor er ihn zu den Lippen führen kann, auf den Hosen und erhält seine Gutmütigkeit durch ein nasses Gefühl quittiert.

Als ein Unglücklicher, dem auch gar nichts mehr gelingen will, stürzt Gebhart auf seine Mutter zu und fällt ihr weinend um den Hals. Aber schon werden die bedauernden Blicke der Gäste von ihm abgelenkt, da die Magd Frida wieder herauskommt, in ihrer ganzen stolzen Größe auf einer Platte ein wunderliches Etwas vor sich hertragend; und an ihrer Jüppe sich festhaltend benutzen Gisela und Inge die Gelegenheit, im Nachthemdchen unter triumphierendem Geschrei noch einmal auf der Bildfläche zu erscheinen. »Der Bauer Xaver schickt in dieser Honigwabe dem gestrengen Herrn Guyer seinen untertänigsten Geburtstagsgruß, zum Dank für nachsichtige Stundung des Zinses!« verkündet Frida mit Wichtigkeit. »Er wollte die 375 Wabe schon am Vormittag abgeben; aber da habe er ein Trüpplein verirrter Kreuzfahrerkinder begegnet und sie zuerst auf den rechten Weg führen müssen.«

Bei diesen Worten schluchzt Jung Gebhart im Arm Frau Magdalenens aufs neue auf. Inge aber, wie sie ihren Bruder so jämmerlich heulen sieht, nimmt den Finger aus dem Mund, mit welchem sie sich von der seltenen Süßigkeit bereits eine Probe geholt hat, und ruft: »Etsch! Du mußt morgen ins heilige Land; und wir essen ganz allein die liebe Honigwabe!« Und Gisela steht daneben, leckt sich die Lippen ab und lacht aus schelmischen Augen.

»Was hör' ich da vom heiligen Land?« fährt der festfeiernde Vater mit Donnerstimme dazwischen. »Ich werde euch mit dem Stock die Landkarte von Palästina auf den Hintern zeichnen, damit ihr den Weg nicht verfehlt!«

»Ich will doch gar nicht hingehen!« schreit Gebhart an der Brust seiner schönen Mutter, die ihn in seiner Verzweiflung mit starken Armen liebevoll umfangen hält.

»Nein, ihr wollt ja alle nur ein Stück Honigwabe!« lacht Frau Magdalene gütig. »Aber dann verschwindet ihr und kommt nicht wieder . . . Hier! – Gebhart zuerst, weil er der Mundschenk war –«

»Nein mir zuerst!« ruft Inge und schnappt ihm das Stück mit ihrer entschlossenen kleinen Faust vor der Nase weg. – »Nein, mir!« stürzt sich Gisela begierig in den Kampf und will es Inge entreißen. – »Mir gehört es!« wehrt sich Gebhart mit einem Mute, als stände er bereits mitten in der Schlacht mit den Ungläubigen –

Und während Onkel Friedrich und Onkel Kuno sich den Bauch halten vor Lachen, wälzen sich die drei Rangen 376 übereinander und durcheinander und umspinnen sich die zerzausenden Hände und die zerzausten Haare immer mehr mit klebrigen Honigfäden, wobei das Wabenstückchen, um das sie sich raufen, längst nicht mehr vorhanden ist.

»Da siehst du«, lacht die Mutter, »was für ein heiliges Land sie am meisten reizt!«

»Magdalena, ich glaube, es wäre nun genug!« bemerkt der Vater mit erzwungenem Ernste.

»Kinder, Kinder, so seid doch artig! – Vorwärts, hinaus, zu Bett . . . – Aber Thomas, du dürftest auch einmal ein Machtwort sprechen!«

»Das kannst du besser! . . . Kinder, zum Donnerwetter jetzt . . . – Aber Magdalena, so mach doch einmal deine mütterliche Autorität geltend!«

»Also Kinder, ihr hört doch, was Vater sagt? – Wie? Was? Ihr wollt nicht? – – Frida, nehmt sie alle zusammen beim Wickel!«

Und so geschieht es von seiten der blühenden Magd; und unter viel Geschrei von seiten der Kinder. Und verschwunden sind sie alle miteinander.

Nachdem dermaßen der Schauplatz gesäubert ist, überreicht die Hausfrau einem jeden der Gäste sein Stück Wabe; und sie essen es mit spitzen Fingern und mit andächtigem Genuß. Und holdselig lächelnd schenkt ihnen jetzt die Wirtin selber einen alten, schweren, süßen Wein dazu ein, so daß sie, wie am Anfang, so nun auch zum Schluß das Reden ganz vergessen. Nur einen dankbaren Blick senden sie, wohlig berauscht, dann und wann zum bleichen Abendhimmel empor, in welchem ein erstes goldenes Flimmern und Funkeln anhebt.

»Tja, mit dem heiligen Land!« bricht zuletzt der glückessatte 377 Jubilar das Schweigen. »Ist es nicht viel besser, man wartet bei einer Kanne Wein geruhsam, bis das heilige Land zu einem kommt?«

Die beiden Onkel Kuno und Friedrich erachten ein würdiges Kopfnicken nachgerade als hinlängliche Zustimmung. Frau Magdalena aber, welche von dem Wein nur genippt hat, lächelt ihr vergnügtes Lächeln: sie ist auf ihre Art selig, wenn die andern es auf eine andere sind, und sieht gelassen dem natürlichen Ende der Festlichkeit entgegen. Und wie endlich ihr Mann die beiden Zechkumpane mit der Ampel vors Haus hinunter begleitet hat und, zurückgekehrt, wieder unter der Türe erscheint, sitzt sie auf der Armlehne seines hochragenden Ehrenstuhles, hält zu seinem angenehmen Erstaunen eine Laute vor ihrer Brust und singt mit wohllautender Stimme ein altes Liebeslied in die nächtliche Landschaft hinaus.

Wahrlich: Über See und Gebirge glitzern jetzt die Sterne so zahllos und herrlich, wie man es im heiligen Lande nicht schöner haben kann! Aber ob dort auch ein liebes Weib zu finden wäre, welches die ewige Jugend in der Seele trägt, sie wie einen Schatz kaum sich selber eingesteht und nur in einem Liede, das sie unbelauscht zu singen glaubt und noch schöner als mit zwanzig Jahren singt, verstohlen auffunkeln läßt? Thomas Pankraz Guyer wartet mit einem behaglichen Schmunzeln, bis seine Frau, die er ganz der nächtlichen Ferne hingegeben sieht, auf der Laute die letzten Akkorde gegriffen hat; dann tritt er mit einem leichten Räuspern wieder auf die Terrasse hinaus, setzt sich neben sie in seinen Sessel und legt den Arm um ihren Rücken.

»Was war das eigentlich mit Gebhart und dem heiligen Land?« fragt er endlich gemächlich, während er noch den letzten Tönen ihres Liedes nachstaunt. »Ich bin ja durchaus der 378 Meinung, daß die Familie sich auf christlicher Grundlage aufbauen soll – Aber deswegen brauchen die Rangen doch nicht gleich nach Palästina zu laufen . . .«

»Narreteien! Nichts weiter!« beruhigt sie ihn und blickt dann ihrerseits nachdenklich in die Nacht hinaus. »Solange keine dunkleren Wünsche in ihnen erwachen, besteht keine Gefahr –«

»Wieso?« gähnt er, bereits ordentlich festmüde.

»Nun, glaubst du nicht auch, daß jedenfalls die ältern der Knaben und Mädchen, die da so unselig durch alle Lande streifen, unbewußt etwas anderes treibt als frommer Eifer? – Aber daß das bei unsern Kindern möglichst lange schlummern bleibt, dafür haben wir ja gesorgt.«

»Nämlich?«

»Gott, wie du alles vergißt! Seit wir hier im neuen Hause wohnen, schlafen doch Gebhart und Gisela nicht mehr in der gleichen Stube. Und ich habe ihnen auch gesagt, es schicke sich nicht, daß sie einander im Nachthemdchen sehen . . .«

»Aber dich, du kluge Magdalena, möchte ich jetzt gern so vor mir sehen«, scherzt der Jubilar und streckt und reckt seine Glieder im Sessel. »Und mich auch . . . Weiß Gott, mich auch!«

Da steht sie auf, lacht und gibt ihm einen freundschaftlichen Klaps. »Aber Thomas! – Schäme dich!«

»Tja, es war ein schöner Tag!« versichert er dankbar noch einmal, indem er sich mit Mühe ebenfalls auf die Füße zwingt. »Komm! Gehen wir schlafen . . .«


Mitten in der Nacht erwacht Jung Gebhart. Er atmet erleichtert auf, wie er sich zu Gemüte führt, daß er nun nicht nach dem heiligen Lande ziehen muß; und seine Gedanken fangen an, sich wieder mit jenen Dingen zu beschäftigen, die ihm schon 379 seit einiger Zeit im Sinne liegen. Plötzlich ist er in seinen Überlegungen auf einem Punkte angelangt, über den er sich unbedingt mit Gisela besprechen muß.

Ohne viel Säumens springt er aus dem Bett, um über den Flur zu ihrem Gemach zu laufen und zu sehen, ob sie nicht auch wach liegt. Doch halt: Hat nicht Mutter gesagt, es schicke sich nicht, daß sie sich im Nachthemd sehen? Dem ist bald abgeholfen, denkt er; zieht sich das Hemd über den Kopf aus und wirft es hinter sich auf sein Lager.

So begibt er sich zu Gisela und klopft leise an ihre Türe. Und siehe: Auch Gisela liegt wach in ihrer einsamen Schlafstube! Sie dachte eben darüber nach, wie hübsch es doch war, als sie noch mit ihrem Bruder zusammenliegen durfte und sich mit ihm über alles besprechen konnte, was ihr gerade durch ihr Mädchenköpfchen fuhr –

»Bist du's, Gebhart?«

»Ja, ich bin's.«

»Wart nur, ich öffne gleich. Ich muß nur erst mein Hemd ausziehen! Mutter hat doch gesagt, es schicke sich nicht, daß wir uns im Hemd sehen –«

Dann geht die Türe auf. Und Gisela steht wie eine junge Waldelfe in der Spalte.

»Was willst du?«

»Du, Gisi – glaubst du auch noch daran, daß der Storch die Kinder bringt?«

»Nein, ich glaube es nicht mehr . . . Aber denke dir: Mutter glaubt noch daran!«

»So? – Dann wollen wir uns nichts merken lassen . . . Gute Nacht, schlaf wohl!«

»Gute Nacht . . .« 380

 


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