Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

30. Die Ketzerhöhle

Stephan liegt plötzlich wach und sieht über sich am morgenbleichen Himmel die Sterne glitzern.

Da hört er an seiner Seite etwas sich bewegen. Ellenor, die eben im Schlafe sich ihm zugekehrt hat, streckt verlangend die Arme aus und flüstert, geschlossenen Auges, aus halboffenen Lippen leise Worte: »Eustachius! Eustachius! . . .«

Er richtet sich auf und wirft einen Blick über das tief schlummernde Heer der jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen, um sich zu vergewissern, ob er wirklich erwacht ist. Wie, sie durfte als Königin ihn an seine Königspflicht erinnern – und in ihrem Herzen sehnt sie sich immer noch nach Eustachius? Aber freilich: hat nicht auch er lange Zeit die braune, sanfte Alix in der Seele getragen?

Stephan springt entschlossen auf seine Füße. In wie vielen dieser schlafbefangenen Knaben und Mädchen mag jetzt ebenfalls das klare Wollen des Tages den angesammelten Anfechtungen der Nacht erliegen und von heimlich wühlenden Wünschen vergiftet werden? Und als erster, der zum Bewußtsein des neuen Tages durchgedrungen ist, ruft er laut, wie in der Frühzeit ihrer Reise, über die gleich Larven an den Wiesenhang gebetteten Brüder und Schwestern hinweg, damit aus ihnen abermals der beschwingte Schmetterling des Geistes sich erhebe: »Gelobt sei Jesus Christus –«

»In Ewigkeit, Amen!« antwortet unweit, aus Schlummer und Decke zugleich sich entwirrend, ein Knabe. Und plötzlich 168 steht auch Ellenor neben ihm und ruft, mit klaren Augen nach der Morgenröte über den Bergen ausschauend: »In Ewigkeit, Amen!« Ist es möglich? fragt er sich. Nacht und Traum scheinen von ihr abgefallen zu sein wie ein Kleid, das mit dem wahren Wesen des Menschen nichts zu tun hat. Und er glaubte ihr innerstes Wesen durchschaut zu haben?

Inzwischen ist das ganze Lager lebendig geworden; und alle Jünglinge und Mädchen blicken fragend zu ihm als zu ihrem Anführer empor, um seine Anordnungen entgegenzunehmen. Werden sie weiterziehen? Werden sie noch einen Tag in dieser Einsamkeit verweilen, um sich von den Anstrengungen der mühseligen Flucht vollends zu erholen? Stephan entscheidet sich für das letztere – aber nicht, weil er es für das Richtige hielte; sondern nur, weil er noch einmal mit Ellenor allein sein möchte! Er hat den wilden Wunsch nach einer Aussprache und läßt hinter ihm alle andern Rücksichten zurücktreten.

Auch die Hirten sind erwacht, melken ihre Ziegen und verteilen, wie am Abend vorher, gutmütig die Milch unter die Kinder. Und alsbald nachher weiß Stephan es so zu richten, daß er mit Ellenor, die harmlos an seiner Seite schreitet, sich allmählich von den Hütten entfernt, als wollten sie sich zu ihrem Vergnügen in der Umgegend ergehen. Aber je mehr sie von den übrigen Kindern weg und in die Einsamkeit hinein geraten, um so finsterer bewölkt sich seine Stirne und um so heißer martert ihn die Eifersucht auf Eustachius, von welchem sie doch beide nicht wissen, ob er überhaupt noch unter den Lebenden weilt; ja, er dringt zuletzt so ungestümen Schrittes voran, als läge das Ziel, dem er entgegensteuert, irgendwo in der Außenwelt, wo es doch nirgends anders als in ihm selber liegt –

»Jetzt denkst du gewiß wieder an all das Furchtbare, das 169 wir erlebt haben!« sucht Ellenor das drückende Schweigen zu brechen, indem sie sanft und gütig mit ihrer Hand nach seiner Hand greift.

»Wie kannst du noch lange fragen, was für mich das Furchtbarste ist?« herrscht Stephan sie an, indem er ihr dunkle Blicke des Hasses zuschießt. »Liebst du nicht Eustachius!«

Ellenor prallt zurück, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten. Das darf er ihr vorwerfen, wo doch auch seine Seele sich eine Zeitlang so weit von ihr entfernt hatte? Gab sie ihm seither nicht mehr als genug Beweise dafür, daß sie trotz allem zu ihm gehört? War nicht sie es, die ihm erst gestern noch den Glauben an seine Sendung und die Kraft zu seiner hohen Pflicht neu erweckte, als er in seiner Verzagtheit nahe daran war, sich und sie alle einem ungewissen Schicksal zu überlassen? Sie beschleunigt auf einmal ihre Schritte: jetzt ist sie es, die ihm, ohne zu wissen wohin, mit bitteren Gefühlen vorauseilt.

Stephan folgt ihr auf dem Fuße nach. Während er immer noch seine eigenen herben Worte hört und fühlt, wie sie den Stachel reuevollen Selbstvorwurfs mit jeder Minute tiefer in sein Herz schlagen, umwerben seine Gefühle die wie fliehend vor ihm herwandernde Gestalt Ellenors mit der Glut unsichtbarer Flammen. Ist sie nicht soviel schöner als Alix? Wie konnte er nur seine Gedanken auf Alix werfen, der so wenig königliche Größe eignete? Oder will er jetzt nur deshalb ihr Herz allein besitzen, weil er erkannt hat, daß sie in sich den bessern Teil seines Wesens bewahrte?

Doch Ellenors bedrängte Jugend wendet sich mit keinem Blicke nach ihm zurück, sondern trägt, unter dem Schilde eines feindseligen Schweigens, ihr beleidigtes Empfinden stumm durch die gebirgige Landschaft dahin. Die Alphütten, 170 in deren Nähe sie nächtigten, liegen längst unter und hinter ihnen; sie steigen auf einem schmalen, rauhen Pfad allmählich den stotzigen, zerklüfteten Felsenhang hinan, von welchem sich nur spärliche Steineichen abheben. Und das kahle, da und dort in dunklen Höhleneingängen sich spaltende oder zu schreckhaften Felsenfratzen geformte graue Gestein, zwischen dem die verkrüppelten Bäume nur mit letzter Anstrengung ihren Saft dem Boden zu entreißen vermögen, glüht von der Seite immer heißer die Strahlen der Sonne zurück und umfängt ihre Stirnen mit einem sengenden Hauch.

Plötzlich wirft Ellenor trotzig das Haupt in den Nacken und springt von dem Pfad ab in die Wildnis des Hanges hinauf; sie weicht damit einer erneuten Frage aus, die sie auf Stephans Lippen brennen fühlt. Stephan, der ihr erbittert nacheilt, hat Mühe, den Abstand zwischen sich und dem Mädchen, das gleich einem gehetzten Wild immer rascher durch Gestrüpp und Geröll vorwärtskeucht, allmählich zu verringern: aber wie er eben die Hand nach ihrem Gewand ausstrecken will, bleibt Ellenor, die Nutzlosigkeit einer weitern Flucht einsehend, auf den knirschenden Steintrümmern von selber stehen, dreht sich mit drohend erhobenen Händen nach ihm herum und funkelt ihn aus Augen an, in welchen er die empörte Gegenfrage nach seinem Begehren liest und zugleich den harten Willen erkennt, sich bis auf das äußerste zu verteidigen. Ohne sich zu berühren, halten sie regungslos einander gegenüber auf dem öden Berghang und bohren ihre von Liebe und Haß zugleich glühenden Blicke ineinander.

»Heute morgen hast du im Traume nach Eustachius gerufen!«

»Ich?« Ihr ist, als sei sie sich selber zum Rätsel geworden.

»Ja, du!«

171 »Aber sind wir denn im Schlafe wir selbst?« fragt sie erstaunt und erschrickt darüber, daß ihr Entschluß, tapfer zu Stephan zu halten, noch nicht in die Tiefe ihres Wesens gedrungen sein sollte.

»Wer glaubst du daß wir sonst seien?«

»Ich weiß es nicht. Aber daß ich dich liebe – und inniger als du denkst! –, das dürften dir in diesen Tagen genugsam meine wachen Worte bezeugt haben!« Freilich, was hilft alles Beteuern, wenn er den im Schlaf getanen Aussprüchen mehr Beweiskraft beimißt?

»So wäre auch das eine Lüge, daß Morgenträume das Wahre verkünden? – Du meinst vielleicht, der Schlaf sei in unserm Wesen was der Keller in einem Haus, wo man auch gelegentlich eingeschmuggeltes Gut aufstapelt, zu dem man sich nicht zu bekennen wagt? – Aber ist es deswegen nicht da?«

»Ich meine, daß wir nur für das verantwortlich gemacht werden sollten, was wir bei klarem Bewußtsein tun und sagen! – Habe ich dir ein einziges Mal vorgeworfen, daß du Alix liebst? Und konnte es doch wievielen deiner Blicke und Worte entnehmen! – Hast du nicht gefühlt in diesen Tagen, daß ich mehr mit dir litt, als mit irgendeinem andern, und darum auch dich am meisten liebe?«

Da dringt ein fernbrüllendes Stöhnen aus der Erde herauf und drängt sich als ein unsichtbares Etwas so wuchtig zwischen sie hinein, daß sie beide je einen Schritt zurücktreten und sich voller Entsetzen umschauen. Eine finstere Höhlenspalte klafft in der Nähe – und jetzt quillt der furchtbare Laut abermals und, wie es ihnen vorkommt, gerade aus ihr an das heiß flimmernde Tageslicht empor: diesmal heller, ähnlich wie ein Gekreisch von Menschen, das aber durch das Widerhallen des 172 Tones an den unterirdischen Gewölben zu einem jämmerlichen Geheul auseinanderfließt . . . »Ein Tier? Ein Ungetüm?« ruft Ellenor erbleichend. Und ohne ein weiteres Wort fassen sie sich plötzlich bei den Händen und rennen – nun nicht mehr Jäger und Wild, sondern zwei gleicherweise Verfolgte und vor dem unbekannten Feind rasch sich Verbündende – in zielloser Flucht solange die Halde hinauf, bis sie sich zuletzt auf einem schmalen, fast eben verlaufenden Bergrücken angelangt sehen und atemlos keuchend stehen bleiben.

Da bricht das Schreien abermals und noch stärker aus dem Berge hervor; und zwar scheint es diesmal deutlich unter ihren Füßen aus der Tiefe herauszustoßen . . . »Hier ist die Hölle!« stammelt Stephan, dem sich unter einem kalten Schauder die Haare sträuben; und Ellenor, deren irre Blicke furchtsam umherschweifen, zeigt auf einmal nach vorn und flüstert heiser: »Dort ist schon der Rauch!« Über jäh abstürzenden Felsklippen türmt vor ihnen ein schwarzer Qualm seine schweren Ballen in die sonnige Luft empor; und jetzt sehen sie sogar kleinere Rauchsäulen ganz in ihrer Nähe aus dem Felsgeklüfte aufsteigen, so daß es ist, als hätten sie den Bannkreis eines dunklen Zaubers betreten, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Aber das Unbegreifliche schreckt sie nicht ab, sondern reizt sie erst recht, sein Geheimnis zu lösen. Wiederum sich gegenseitig führend, schreiten sie in der Richtung des Rauches über den in der Sonne flimmernden Bergrücken dahin; und wie sie jetzt in den Schatten treten, den die immer höher steigende Rauchsäule herabwirft, hören sie durch das Gestöhne und Gebrülle, das beständig aus der Tiefe an ihr Ohr schlägt, immer deutlicher erkennbar wildes Gelächter und dazwischen ein Geklirre wie von Waffen – »Das sind die Teufel mit ihren 173 Gabeln!« raunt Stephan. Doch selbst jetzt bleiben sie nicht stehen, sondern schleichen sich, wenn auch langsamer und vorsichtig, Armlänge für Armlänge vorwärts, bis sie zuletzt, der Rauchsäule gerade gegenüber, auf den Rand einer felsigen Schlucht hinausgelangen, in deren oberstem Ende, nur ein wenig tiefer als ihr eigener Standpunkt, sich ihren Augen ein unerwartetes Schauspiel darbietet.

Vor einem zurückliegenden, dunkel überwölbten Höhleneingang schwelt ein niedriger Holzstoß, auf dem grinsende Kriegsknechte die einen stets neues Reisig nachschichten, die andern immer wieder die durchbrechenden Flammen mit bereitgehaltenem Wasser zu einem erstickenden Rauche dämpfen, welcher, soweit er sich nicht in den Himmel erhebt, langsam unter dem oben vorstehenden Gefelse der Höhle in das Berginnere hineinkriecht. Heftiger und immer heftiger dringt jetzt das Schreien und Jammern aus der Grotte, als wäre der Berg ein lebendes Ungeheuer, das im Kreißen liegt; und während sich Stephan noch fragt, warum wohl von dem qualmenden Feuer aus je eine Reihe Söldner längs der beiden Wände des schachtartigen Zugangs aufgestellt sind bis dort, wo er unvermittelt über der Tobeltiefe abbricht, stürmt auch schon, durch das schwarzgelbe Gequalme und die aufsprühenden Scheiter hindurch, mit verzweifelten Gebärden ein Erstickender aus der Höhle hervor. Sofort erhebt die Horde ein teuflisches Gebrülle, schrill überklungen von der kreischenden Stimme des Bischofs, der auf einer nahen Felsenkanzel Fluch und Verdammnis auf den Sünder herabschwört; und während der Unglückliche, der von allen diesen Verwünschungen nichts hört, zwischen den gierig wartenden Kriegsknechten hindurchrennt, blitzen auf beiden Seiten nacheinander ihre Schwerter, Äxte, Dolche auf und 174 nieder, bis er zuletzt keinen andern Ausweg mehr findet als vielfach verwundet, den Sprung ins Bodenlose hinaus: und schon fliegt er mit langsam umwirbelnden Gliedern durch die Luft, auf die Felsschroffen hinunter, und verschwindet im Abgrund.

»Das sind Ketzer, die sich hier verborgen gehalten haben, die jetzt aus den Höhlen herausgeräuchert werden!« flüstert Stephan. Er kniet mit Ellenor zusammen hinter einem Felsblock und hat allmählich den Sinn der ganzen Veranstaltung begriffen.

»Aber sind es nicht auch Menschen, für die Christus, so gut wie für die andern, gestorben ist?« versetzt Ellenor, bleich und entgeistert, und bedeckt sich schaudernd die Augen, um ihnen den Anblick des nächsten Opfers zu ersparen.

»Vielleicht daß sie Christus verleugnen! Wie könnte er da für sie gestorben sein?« spricht Stephan neben ihr, in die Nacht ihrer Seele hinein. »Sieh doch: Die Henker tragen wie wir ein Kreuz aufgeheftet, nur ein rotes!«

Und es ist ihnen, als ob die beiden weißen Streifen auf ihrer Brust, nach denen ihre Finger tasten, vor schmerzlicher Scham sich ebenfalls röten und wie ein glühender Vorwurf sich in ihr Fleisch einbrennen müßten.

Aber sie mögen sich lange abwenden, um nichts mehr zu sehen: Erneutes Geschrei reißt ihnen den Kopf wieder herum und lenkt ihre Blicke auf drei Edelfrauen, welche, dem langsamen Erstickungstod jeden andern vorziehend, aus dem Rauch hervorgebrochen sind und, noch bevor sie den Abgrund erreichen, unter Schlag, Hieb und Stich der Mörder tödlich getroffen zusammensinken. Die Kerle, die zu äußerst stehen, schleppen sie wie geschlachtete Tiere vollends an den Rand und stoßen die 175 veratmenden, ausblutenden Körper mit einem Fußtritt und unter wollüstigem Gejauchze ins Leere hinaus; dann schauen sie ihnen, noch die rot triefenden Mordwaffen in der Faust, mit glotzender Neugier auf ihrer Luftreise nach und grunzen laut und schlagen sich die Knie vor Vergnügen, wie die weiten bauschigen Gewänder auseinanderflattern und die Vernichtung unter einem lächerlichen Anblick verbergen. Sind sie nicht, so gut wie der eifrige Bischof auf seiner Felsenkanzel, bloß die verantwortungslosen Schergen einer höheren Macht, die selber diese sinnlose Vernichtung will und unter immer neuen Masken betreibt?

Ellenor ist mit einem Wehlaut des Mitfühlens aus ihrer vorgebeugt spähenden Haltung hinter den Block zurückgesunken; Stephan zerrt sie vollends zu sich, damit sie von drunten nicht gesehen werden, und neigt sich erschüttert über sie. Und während erneutes Opfergeschrei und Henkergebrüll das ununterbrochen aus dem Berginnern hallende Gestöhne der Erstickenden übertönt und ihnen beweist, daß drunten weitergemordet wird, schauen sie sich mit dem heißen, verzweifelten Wunsche in Auge und Seele, vor dieser grauenhaften Welt jedes ins andere hineinfliehen zu können, um nichts mehr von ihr wissen zu müssen: leidenschaftliches Begehren und eifersüchtiges Mißtrauen des werdenden Mannes so gut wie die weiblichen Gefühle der Kränkung und der Abwehr schmelzen in ihnen beiden in ein Nichts hin vor der Glut des Entsetzens über das allgemeine Menschsein, an dem sie mit teilhaben! Endlich findet Stephan die Kraft, sich aufzuraffen und auch Ellenor auf die Füße und mit sich fort zu ziehen; und durch den dumpf heraufhallenden unterirdischen Jammer, der von Zeit zu Zeit in den gellenden Todesschreien der Niedergemetzelten wie ein Sturzbach der Qual überbordet, schreiten sie, standhaft gegen einen Bann 176 ankämpfend, der sie wieder nach dem Ort des Schreckens locken und ebenfalls in die Vernichtung hereinreißen möchte, den schmalen, verödeten Bergrücken zurück: aber von den da und dort dem Boden entsteigenden Räuchlein, welche in dem weitverzweigten Höhlengebiet auch durch jene Ritzen weiterkrochen, in denen die blind nach einem Ausgang Suchenden elend hangen blieben, werden sie selbst dann noch an die Greuel des Glaubenshasses erinnert, wie sie das Geschrei und das Gestöhne der Sterbenden mehr nur in der nachklingenden Einbildung als in Wirklichkeit vernehmen.

Wieviele Stunden und Minuten mögen verflossen sein, seit sie in diesem Bezirk teuflischen Geschehens jede Zeitrechnung verloren? Während sie wieder den Steineichenhang schräg hinuntersteigen und zuletzt durch Ginsterbüsche das Hirtendorf hinten im Talkessel liegen sehen, neigt sich die Sonne bereits merklich den Berghäuptern des westlichen Horizontes entgegen; und wenn auch ihre ausgeglühten Körper immer noch nichts von Hunger und Durst wissen, so kommen doch ihre Seelen allmählich zum Bewußtsein ihrer selbst zurück. Hinter und unter ihnen liegt alles Nächtliche, auch die nächtlichen Abgründe ihres eigenen Wesens, überwunden von ihrem Willen zur Treue im Geiste, durch die sie allein sich über diese Welt hinauszuheben vermögen.

Plötzlich steht Stephan still, schaut in den milden, grünlich-bleichen Abendhimmel hinaus und hebt ihm die Arme entgegen, als riefe er denjenigen an, der diese bittere Welt nur dazu geschaffen hat, damit das, was göttlich ist im Menschen, sich in ihrer Überwindung bewähre. Ellenor aber hängt mit ihren Blicken an seinen Lippen und spürt, wie sie die Gefühle formen, die auch ihr im Herzen glühen und Ausdruck ihres gläubigen Willens 177 werden möchten: daß es keinen Haß und keine Greuel in diesem Erdendasein gibt, die nicht durch eine noch größere Liebe besiegt und gesühnt werden könnten! Und sie fühlen sich wieder, wie zur Zeit ihrer ersten Begegnung, als Bruder und Schwester, welche vereint ihre Sehnsucht an das Ziel voraussenden, von dem sie sich noch so weit entfernt wissen.

»Und ich durfte zweifeln an dir, mein Gott?« spricht der bleiche Jüngling im Schaffell in den Abend hinein. »Ja, niemand anders als uns, die Jugend, hast du erwählt, den Glauben an dich, den Gott der Liebe, wiederherzustellen; und nirgends sonst als im heiligen Lande, wo du im Fleische unter uns gewandelt bist, kann uns die Erleuchtung werden und die Kraft erwachsen, um in dieser Welt des Hasses deine reine Lehre zu predigen! Ich will nie mehr murren, daß du diese schwere Aufgabe auf meine schwachen Schultern gelegt hast, und ausharren, bis ich dort, wo deine Füße einst den Boden berührten, auch das Wehen deines Geistes um meine Stirne fühle . . .«

In dieser hohen Fassung schreiten sie talwärts. Sie reden nichts mehr miteinander: nur ihre Hände berühren sich zuweilen wie aus einem Traume heraus; und dann streifen Ellenors Blicke das Antlitz Stephans, der in die Ferne schaut. Wenn einst Moses seinem Volke die Tafeln des Gesetzes vom Berge Sinai herunterbrachte, hat nicht auch er sich in den unmenschlichen Schrecknissen dieses Tages die erneute Überzeugung dessen geholt, was der gequälten Menschheit nottut, sowie in sich selber das Bewußtsein seiner eigenen hohen Sendung vertieft, sie dem ewigen Frieden entgegenzuführen?

Da bemerken sie, wie drunten in dem Lager, wo die aufgepflanzten Kreuzbanner wehen, eine Bewegung entsteht: die Knaben und Mädchen, die sie schon schmerzlich vermißten, 178 haben sie entdeckt und kommen ihnen in jubelnden Schar entgegengeeilt. Mit den Gefühlen eines Vaters, welcher sich trennend und schützend zwischen die Welt und seine Familie stellt, umfaßt Stephan sie mit Blicken; und indem er den Zeigefinger auf die Lippen legt, gibt er auch Ellenor zu verstehen, daß sie die Erlebnisse dieses Tages beschweigen wollen – oder ist es nicht die erste Tat der Liebe, daß sie den Taten des Hasses keine Stimme leiht? Das Gold der Abendsonne verklärt und umduftet ihre Gestalten, während sie wieder unter ihre Schicksalsgefährten treten, sich von ihnen als Zeichen des Glaubens an ihre Führung frische Kränze aufs Haupt drücken lassen und in hoffnungsvollen Gesprächen mit ihnen zu den armseligen Hirtenhütten zurückwandern, bei denen sie noch ein zweites Mal die Nacht verbringen werden.

 


 << zurück weiter >>