Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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42. Stromfahrt

Unter dem Sternenhimmel gleiten Fluß und Floß.

Selbst bis in ihre Träume hinein fühlen sie den Wettstreit der Wellen mit, die sich unter dem mühelos schwimmenden Balkenschiff heben und senken. Während um ihre schlafenden 197 Stirnen der kühle Atem einer ungeheuren Schlange weht, die sich durch ihr vorbestimmtes Erdenbett ohne Ende in die himmlische Ferne hineinwälzt, werden sie von tausend unsichtbaren Schultern, die neben- und durcheinander nach oben stoßen und sich gegenseitig die Last abnehmen, mit all ihrer Habe rastlos durch die Nacht getragen. Und wie sie des Morgens die Augen öffnen, schieben sich die hügeligen Ufer, welche Wirklichkeit sind, nicht anders ihnen entgegen und an ihnen vorbei, als noch eben im Reiche des Schlummers die Wunschbilder ihres unruhigen Blutes.

Alix lagert vorn auf dem Floß. Wie sie sich zum erstenmal aufstützt und umschaut, gewahrt sie, fast als etwas Neues, die im hintern Teile aus den Kisten und Ballen hochgetürmte Brücke, auf deren Stufen die jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen liegen und ebenfalls zum Bewußtsein des Tages erwachen. Zuoberst ist das größte der Kreuze, die sie bei sich haben, neben der Muttergottesfahne aufgepflanzt: Stephan lehnt sitzend den Rücken daran und schaut aus müdem Antlitz, welchem die Morgenröte des östlichen Himmels den Schein des Lebens aufmalt, weit ihrer lautlosen, schweigenden Fahrt voraus, dem Schicksal entgegen, das sein Glaube über so viele hoffende Herzen heraufbeschworen hat; und neben ihm thront, die Hände um ihre Knie geschlungen, die Königin Ellenor, welche, sobald sie erschien, bei ihm die erste Stelle einnahm und seither nicht mehr von seiner Seite gewichen ist.

Alix denkt nach . . . Wie darf sie sich beklagen, wo sie zuerst heimliche Untreue geübt hatte an dem, der sie der schwülen heimatlichen Enge entriß und ihr den Weg in die Weite wies? Und woher weiß sie denn so sicher, daß Stephan nicht sie, sondern Ellenor liebt, sofern er überhaupt der Liebe fähig ist? Hat sie 198 ihn nicht vor dem Ansturm der wahnsinnigen Weiber beschützt, während Ellenor gleichgültig neben ihm stand? Und war das, was sie für sich und Stephan fürchtete, nicht wieder jenes Furchtbare, das sie aus der elterlichen Burg vertrieb? Wahrlich, sie sind, alle zusammen, der Berg Golgatha, der durch die Zeiten schwimmt! Sie tragen bereits im eigenen Busen, was sie erst im heiligen Lande zu erfahren glaubten: das Leiden des Menschensohnes und die Sehnsucht nach Erlösung! Das Leben – das erkennt sie jetzt – ist wie dieser Strom: tausend freie Wellen, in ein einziges Bett der Notwendigkeit gebannt. Man will, was man will; aber man tut zuletzt, was man muß . . .

Unterdessen schaut Stephan, um dessen Schultern im Morgenwind die Muttergottesfahne fächelt, wohl mit seinen leiblichen Augen in die Ferne; vor den innern des Geistes aber prüft er Ellenor, die doch zu seiner Rechten sitzt. Warum ist ihm seit einiger Zeit das Gefühl zurückgekehrt, als ob alles, was sie jemals zu ihm sagte, nicht wahr sei? Als ob sie im Grunde etwas ganz anderes wolle als er? Aber kennt der Mensch jemals sich selber? Kennt denn er sich und weiß, daß er niemals in seinem Fühlen und Wollen sich ändern wird? Da bemerkt er vorn auf dem Floß Alix. Warum nur hat sie so fern von ihm die Nacht verbracht? Es gab eine Zeit, als sie noch auf dem Ochsenwagen fuhren, wo sie neben ihm saß und er darüber ein leises Glück empfand . . .

Neben Alix hat sich Eustachius aufgerichtet und wendet sich ihr halb zu. Seine Glieder sind steif von der Morgenkühle: seine Augen lesen erst in ihrem Antlitz, das sinnend an Stephan hängt und von ihm jetzt ebenfalls einen Blick empfängt; und verschieben sich dann, in der gleichen Blickrichtung, um ein 199 kleines zu Ellenor, deren Seele stumm das Frührot des Ostens in sich eintrinkt. Hatte ihm Stephan nicht Alix weggenommen und sie dann wieder achtlos beiseite geschoben, als dieses goldblonde Mädchen kam und erklärte, sie sei seine Königin? Aber kann denn ein Mädchen von vornherein wissen, wessen Königin es einmal sein wird? Darüber entscheidet das Leben.

Eustachius sieht nicht ein, warum nicht er Ellenor lieben sollte, wo sie doch unter ihrer lichten Schönheit eben jene dunkle Lebenskraft birgt, welche auch er in sich fühlt und gerade mit ihr zusammen zu einem heißen Brande möchte auflodern lassen; und er hat auch nichts dagegen, daß Alix sich zu Stephan hingezogen fühlt, wenn ihr doch im Tiefsten ihrer Seele vor dem Leben graut und sie nichts Höheres kennt, als wie dieser fromme Knabe die Welt zu fliehen und sich vor dem Kreuz darniederzuwerfen. In Ellenor ahnt er jene, vorerst noch im Jugendschlummer liegende sinnenstarke Weiblichkeit, wie er sie bei der Gräfin, der er die alten Liebesmären vortrug, in reifer Entfaltung gesehen hatte und vor deren Angriff er wohl nur deshalb bewahrt blieb, weil sie damals schon Alix' Vater liebte! Und siehe: Jetzt treffen auch ihre Blicke forschend die seinen; und ohne daß sie mit einer Miene sich verrieten, bleiben sie wiederum so lange ineinander verstrahlt, bis er dieses Hin und Her von banger Frage und verlangender Antwort nicht mehr aushält.

Ein schwerer Alp drückt ihm das Haupt nachdenklich in die Hand und gleichzeitig den Blick über die runde Schnittfläche verschwimmenden Baumstämme hinweg, auf welcher deutlich die Jahresringe zu lesen sind, bis tief in die leichtgetrübten, graugrünen Wogen hinunter . . . Aber Ellenor ist nun einmal 200 die Königin! Alle im Heer wissen, daß sie zu Stephan gehört! Und hat Alix nicht ihm sich anvertraut, als sie aus der Heimat floh? Vielleicht trägt an der ganzen Verwirrung, die über sie hereingebrochen ist, nur jener halb aufreizende, halb abschreckende Tanz der verzückten Weiber schuld! Von ihm ist ein Zauber auf sie übergegangen, der sie mit allem Besitz der Seele unzufrieden sein läßt und sie endlos verführen will, nach Neuem zu greifen . . .

Eustachius fühlt mehr, als daß er es sieht, wie Alix' Wange sich der seinen beigesellt. Auch sie schaut mit aufgestütztem Ellenbogen den Luftbläschen zu, welche vor ihnen in den durcheinander und übereinander gleitenden Wassern in unerschöpflichem Spiele quirlend emporsteigen und spurlos zerstieben, sobald sie an der so eifrig erstrebten Wellenoberfläche angekommen sind. Und es schwant ihnen beiden, als zeige das in einem Bilde das Streben der Menschen an, welche sich ebenfalls aus den Verkettungen des Daseins nach Erlösung sehnen, wo doch die Erlösung nur um den Preis des Selbstopfers zu erlangen ist . . .

Da steht auf einmal die Sonne rot über den Bergen. Von den Rebhügeln zur Linken rinnt es hernieder wie Ströme Blutes, die auch den Strom, welchem sie sich anvertraut haben, in ein purpurnes Gewoge verwandeln. Sie treiben mitten darin, nur um Handbreite geschieden von dieser schrecklichen, langsam zu goldigem Licht sich verklärenden, ihre Kleider und Leiber süß umduftenden Schönheit des südlichen Morgens.

So fahren sie mit ihrem Kreuz und mit ihrem Glauben und mit all ihrer wehen Sehnsucht der heißen Provence entgegen. 201

 


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