Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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33. Rast am Waldsee

So fahren sie nun schon seit Tagen dahin – gefolgt von einem immer größeren Troß von Wagen und Karren, an denen die Kreuze und Fahnen wie Feldzeichen festgebunden sind; und umgeben von einer stets wachsenden Schar von Knaben und Mädchen, die abwechselnd bald aufsitzen, bald zu Fuß gehen –: nach Süden, nach Süden . . .

152 Ellenor thront neben Stephan unter dem Reifendach und schaut, über die breiten Rücken der beiden Ochsen und ihre hoch ausgreifenden Hörner hinwegzielend, in die Ferne. Sie ist es längst müde geworden, den Staub, der sich auf ihr schönes grünes Kleid setzt, mit ihren feinen weißen Fingern abzuklopfen; und sie wirft auch nicht mehr prüfende Seitenblicke auf Stephan, welcher in seinem grauen Schaffell ihr in dem Maße weniger bäurisch erscheint, als sie selber sich weniger vornehm vorkommt. Sie sieht jetzt an ihm nur noch den Blumenkranz, welcher, täglich von den Mädchen erneuert, sein bleiches Haupt schmückt und sie wie ein Spiegelbild desjenigen anmutet, den sie um ihre eigenen Schläfen fühlt: und so mit ihm in gleicher Art gekrönt, weiß sie sich je länger je mehr mit ihm zum gleichen Schicksal hochgefürstet.

Soeben hat Stephan das Zeichen zum Anhalten gegeben. Die Straße, die schon seit Stunden durch Wald führte, legt sich der Uferlinie eines in dunkelgrünem Tannenschweigen eingebetteten Sees so dicht an, als wollte sie selber die Wanderer zu kühler Rast und Lustbarkeit verlocken. Und schon stehen die Wagen und Karren verlassen in ihren Geleisen, während die jugendlichen Kreuzfahrer unter Gespritze und Gelächter dem seichten Strande entlang waten und sich Hitze und Schweiß des langen Marsches abkühlen und abspülen.

Auch Stephan und Ellenor sind von ihrem Königswagen abgestiegen, wandern zusammen dem Ufer nach, von allen scheu gegrüßt, und schwenken zuletzt auf eine halbinselartig vorspringende Landzunge hinaus. Es ist, als ob sie sich nur deshalb von den andern absonderten, um sich für eine kurze Zeit auch in ihrem Geiste außerhalb der Verkettung der Ereignisse zu stellen. Ellenor fühlt, daß das stundenlange, tagelange Schweigen gebrochen werden wird; und Stephan bricht es . . .

153 »Wie gefällt dir die Reise nach dem heiligen Land, Schwester, seit aus dem Spiel Ernst geworden ist?«

»Aus dem Spiel?« Ellenor senkt beschämt den Blick.

»Ein Spiel war es für dich, als du mit deinen Freundinnen heimlich von Hause fortrittest –«

»Und wenn auch? . . . Ist es nicht manchmal so, daß der Ernst wie ein Spiel anhebt?« erwidert sie, tritt auf eine Felsenkanzel hinaus und schaut in das klare Wasser hinab.

»Manchmal! Ja!« hört sie Stephans Stimme hinter sich.

Und sie denkt an den jungen Ritter: wie er ihr den Falken brachte, der ihr so zahm auf dem behandschuhten Zeigefinger saß. Und wie er nichts anderes wollte, als daß auch sie sich von ihm eine Kette anlegen ließ und sich dazu verstand, geblendet ein Leben lang ihm aus der Hand zu fressen und keinen höheren Flug der Sehnsucht mehr zu wagen, als sein Wille ihr zu tun erlaubte! Und um sie dazu zu bringen, hatte er sich mit ihren eigenen Eltern ins Einvernehmen gesetzt und hatten sie alle den Ring einer heimlichen Verschwörung um sie gezogen . . .

Da sieht sie unten in der spiegelnden Flut neben ihrem dunklen Abbild dasjenige Stephans, der neben sie getreten ist. Erscheint ihr dieser Jüngling fremder als der junge Ritter? Er erscheint ihr weniger fremd. Sucht er nicht schon bei Lebzeiten den Weg zu jenem großen Rätsel, an dessen Pforte alle Menschen am Tage ihres Todes anpochen? Und warum anders floh sie Vater, Mutter, Freier, als weil bei ihnen der Glaube an die Güter dieses Lebens stärker war als der Glaube daran, daß alle diese irdische Habe eines Tages wie ein zerrissenes Kleid von der Seele abfallen wird?

»Hast du Heimweh, Schwester?«

154 Sie empfängt diese Worte dicht neben sich, unmittelbar in ihr Ohr; und sieht zugleich unten im Wasser, an Stephans Spiegelbild, seine Lippen sich bewegen.

»Nach jener Heimat, nach der auch du Heimweh hast! Sonst nach keiner andern mehr . . .«

Sie wendet sich entschlossen um. Und nicht im dunklen Widerschein der Wasserfläche, sondern droben im Licht, Auge in Auge, begegnen sich jetzt ihre Seelen. Und sie spürt, wie er ihr Innerstes prüft . . .

»Ich wußte es, daß dieses Heimweh siegen würde . . . Man kann Königin nicht werden; nur als Königin sich bewähren . . . Du tust es!«

Ellenor fühlt unter seinen Blicken ein tiefes Glück; nicht des Stolzes, sondern der Demut. Mit den Freundinnen, die von ihr abfielen, ist ihr auch jenes kindisch-kecke Wesen fremd geworden, das ihr sonst noch zuweilen eigen war: sie weiß jetzt, daß dieser fast verstockt schweigsame Knabe mit heißem Verlangen demselben Ziel entgegenstrebt, das ihr in ihren Mädchenträumen als unfaßbare Vereinigung mit dem Göttlichen vorschwebte. Und sie legt, seinen vertrauenden Blick aushaltend, schlicht ihre Hand in die seine.

»Unser Wille war gleichgeartet. Darum auch führte das Schicksal uns zusammen; und von jenen fort, die uns leiblich am nächsten stehen . . . Von dir, Stephan, geht sogar die Sage, daß nicht eine menschliche Stimme, sondern ein göttliches Schreiben dich zu unserm großen Zuge aufrief! – Oder ist es nicht so?«

Er lächelt sanft in ihre neugierige Frage hinein; und seine Hand legt sich auf das Schaffell, dort wo das Herz ist. Wohlverwahrt trägt er die Pergamentrolle bei sich! Aber nicht sie 155 ist es, was ihn und sein Heer – und auch Ellenor – von den übrigen Menschen unterscheidet; sondern der anders gerichtete eigene Wille, der Quell im Herzen.

»Ich mußte weder Vater noch Mutter verlassen; mir wies die Sehnsucht nach dem göttlichen Vater und der himmlischen Mutter den Weg. Und tiefer, als du die äußere Trennung von deinen Nächsten, empfinde ich die innere Verschiedenheit zwischen den Menschen! Viele halten dieses Leben für wirklich – und Tod und Jenseits für einen bloßen Traum! Wenn wir aber bei unserer letzten Stunde angelangt sind, wird es nicht umgekehrt sein? Dann sind die andern die Blinden; und wir werden uns als die Sehenden erweisen. Und diese unsere Voraussicht ist es auch, die uns zu Füßen dessen treibt, der in unser vergängliches Leben hinein die ewige Botschaft der Liebe trug; und nach der heiligen Erde, die diese seine Füße traten . . . Komm, Schwester!«

Jetzt ist es Stephan, der seine Hand wie aufmunternd in die Ellenors legt und auf der schmalen Felsenzunge nach dem Ufer zurückzuschreiten beginnt. Ellenor folgt ihm geneigten Hauptes, überwältigt von der Kraft seiner Führerschaft; und unten auf dem glatten Wasserspiegel sieht sie, wie in einer andern Welt, ihre Schattenbilder mit ihnen wandern. Das Rot der Rosen der beiden Stirnkränze winkt fast schwarz aus der Tiefe herauf.

Sie bemerken kaum, wie die zwölf Paladine, welche ohne jeden Befehl den Zugang zu der Halbinsel abgesperrt hielten, ihnen das Geleite zum Wagen hinauf geben. Ahnten die Knaben, daß sie sich einmal, fern von Straßenstaub und Karrengerassel, zu ernster Einkehr und Aussprache von den andern abscheiden wollten? Sie hangen mit den Blicken an ihnen 156 als an ihren Führern, von deren Wohlergehen letzten Endes das Wohlergehen aller abhangen wird.

Bei den Ochsen steht der Bauer Christian, bereits wieder fahrtbereit, und schaut aus seinem braunen, zerquälten Bartgesicht bald auf das nahende Königspaar, bald erstaunt in den Wagen hinein, wo auf der zweiten Querbank eben Eustachius und Alix ihren Platz eingenommen haben. Sie tragen frischgeflochtene Kränze von weißen Wasserrosen, aus denen ihnen noch kühle Tropfen über Augen und Wangen herabrieseln; und gegen die Sonne blinzelnd lachen sie Stephan und Ellenor fast feindselig ins Gesicht. Spielen sie schon heimlich König und Königin? Merkst du etwas vom Lauf der Welt, Christian?

Seit in jener Mondnacht Ellenor zum Heere stieß und mit keinem andern Rechte, als weil sie sich für eine Königin ausgab, den Platz an Stephans Seite und immer mehr auch in Stephans Herzen einnahm, hat Alix sich reuig zu Eustachius zurückgefunden; und Eustachius nähert sich ihr um so lieber wieder, als Ellenor bis jetzt seine Aufmerksamkeiten und Bemühungen um sie mit keiner größern Holdseligkeit belohnte, als sie sie im Bewußtsein ihrer Königinnenpflichten allen gegenüber zur Schau trägt. Warum soll nicht auch er mit aller Deutlichkeit merken lassen, daß ihm ein liebendes Herz gehört, wo doch die andern immer mehr den Weg zusammen finden und sich die Freude aneinander gegenseitig in die Augen leuchten? Wahrlich: Oft dreht einem das Schicksal den Blick noch zur rechten Zeit auf das Gute, das man bereits besitzt, und macht einen sehend dafür.

Alle sind inzwischen wieder aufgestiegen oder haben sich doch um die Fuhrwerke geschart. Die Ochsen ziehen an, die Reise geht weiter: für ihre Augen die gleiche wie früher; und doch 157 für ihre Herzen nicht mehr die gleiche. Mögen sie auch stundenlang, tagelang kein Wort miteinander wechseln, sondern nur stumm-erwartungsvoll in die Ferne schauen: Ellenor glaubt jetzt zu wissen, daß sie Stephan nicht bloß beigesellt, sondern innerlichst verbunden ist; und Stephan will nicht länger daran zweifeln, daß der Zufall, der sie zusammenführte, das Werkzeug einer tiefen Bestimmung war.

Seltsam ist dieses Erdenleben! Man streut Samen aus und weiß nicht, was einem als Ernte zurückkommt; und vieles, das einem das Jahr bringt, erkennt man nicht einmal als Ernte. Wie weit liegt es schon zurück, daß er seine beiden Kameraden Markus und Lukas dem Heere voraussandte, ihm immer neue Glaubensstreiter zu werben! Wo sind sie geblieben, daß er nie etwas von ihren Erfolgen hörte? Was waren ihnen für Erlebnisse beschieden? Vergebens sucht er mit solchen Fragen das den Sinnen gegebene Bild der Welt zu durchdringen und die Kräfte zu erschauen, die hinter ihm wirksam sind.

Auf Stephan lastet das Gefühl, eine Wirkung ausgelöst zu haben, die schon lange viel weiter reicht, als er selber es weiß; und die bange Ahnung beschleicht ihn, er möchte die von ihm erregten Wellen, wenn sie zu ihm zurückkehren, nicht bestehen können. Und während sie abermals – wie nun schon so oft – in einen golden bewölkten Abend hineinrollen und den auf den Wagen Sitzenden die Rücken, den Nebenherwandernden die Schenkel zu schmerzen anfangen, spürt auch Ellenor, wie von ihrem Zuge ein immer breiterer Strom ausgeht und sie als ein selbstgeschaffenes Schicksal, das sich an ihnen erfüllen wird, unerbittlich umgibt. Ihnen selber ist längst Leitung und Lenkung aus den Händen genommen und bleibt mit jedem Tage deutlicher nur das eine übrig: zu dulden . . . 158

 


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