Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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37. Im Rat von Marseille

Stille im Rat.

Der Septemberwind pfeift um die schweren Quadermauern des Palastes, und die Kühle des nahenden Herbstes macht sich bis in den vollbesetzten Saal hinein fühlbar. Mehrere Ratsherren reiben sich fröstelnd die Hände, während sie in Gedanken über das Gehörte auf den Hafen hinausblicken, wo das bewegte tiefblaue Wasser weiße Schaumkronen zeigt, die entstehen und vergehen. Ist es mit den Menschenleben anders? Braucht man deswegen viel Aufhebens zu machen?

Ein neuer Sprecher steht auf.

»Es sind viele Tausend Kinder. Die Ernte war schlecht; wir haben kein Brot für sie, wir können sie nicht bei uns behalten Und wenn wir auch könnten, so wollen wir doch nicht; denn sie verderben unsere Sitten und verlocken unsere eigene Jugend – und nicht nur die Jugend – zu heimlicher Unzucht. Meister Hugo erwirbt sich ein großes Verdienst um die löbliche Stadt Marseille, wenn er dieses unruhige Heer, das wie ein Heuschreckenschwarm über uns gekommen ist, mit seinen Schiffen nach dem heiligen Lande übersetzt . . .«

Von den hohen Wänden des Saales weht ein Schauer auf die Versammlung herab. Grauköpfe stieren vor sich hin, halten die Hände über dem Bauch verschlungen, folgen den hallenden Worten in Gedanken: so sitzen sie da, wenn sie gegen ein Todesurteil nichts einzuwenden haben. Sie haben auch jetzt nichts einzuwenden.

213 Vorn, zur Seite des Präsidentensessels, steht der Schiffspatron Hugo Ferreus, den der Rat zitiert hat. Sein hagerer, in ein eng anliegendes gelbes Wams gepreßter Körper ist so lang, daß der Kopf fast in eine Höhe mit dem des Bürgermeisters reicht, obschon seine gelben Stiefel eine Stufe tiefer aufgesetzt sind. Aus dem glattrasierten, schmalspitzen Gesicht mit dem kahlen Schädel zielt der Blick der zusammengekniffenen Augen über die beiden Hände, die die Mütze mit der Feder drehen, nach dem linken Fuße, während er, äußerlich ein Bild dienstfertiger Ergebenheit, aufmerksam den verschiedenen Rednern lauscht und ihre Wirkung auf den Rat verfolgt.

Eine andere Stimme tönt jetzt in dem kalten Saale, der jeden Klang schreckhaft vergrößert.

»Auch ich bin der Ansicht, daß man mit dieser törichten Schar Unmündiger, welche uns der Norden gesandt hat und die wie Ameisen in den Straßen und am Strande herumlaufen, so rasch als möglich abfährt. Wenn Meister Ferreus die Tollköpfe dorthin bringen will, wohin ihr ketzerischer Wille steht, so ist ihnen und uns geholfen; und von zwei Seiten wird Meister Ferreus aufrichtigen Dank ernten, wenn er selbst durch die in dieser Jahreszeit häufigen Stürme sich nicht abhalten läßt, sein edelmütiges Vorhaben auszuführen. Der Hauptgrund aber, warum wir in diesem Sinne Beschluß fassen können, dürfen und sollen, ist der, daß auch die heilige Kirche besagte törichte Schwärmerei, welche die vorgezeichneten sicheren Bahnen des Glaubens verläßt, verbürgten Nachrichten zufolge auf das strengste mißbilligt; ja, der heilige Vater soll sogar vor kurzem eine solche Schar landstreichender Kinder mitsamt ihrem Gelübde nach Hause geschickt haben, damit sie dort warten mögen, bis sie völlig trocken sind hinter den Ohren . . .«

214 Eine Bewegung der Erleichterung geht durch den Rat. Man befindet sich mit der Kirche und dem heiligen Vater in Übereinstimmung: da kann man zur Not auch etwas gegen das eigene Gewissen wagen! Denn wenn sie auch daran gewöhnt sind, sich mit vielem einverstanden zu erklären, so hat es sich doch hier um Kinder gehandelt, wie sie schließlich die meisten von ihnen selber besitzen. Jetzt aber bedauert ein jeder, sich bei gewissen Gefühlsregungen aufgehalten und in einer so ungefährlichen Sache nicht selber das Wort ergriffen zu haben.

Da erhebt sich ein junger Ratsherr. Er wird mit einem Räuspern des Unbehagens und dem vielfältigen Geräusch zufällig sich bewegender Füße empfangen. Was ist jetzt noch Nützliches oder Notwendiges vorzubringen?

». . . Soviel mir bekannt ist, treibt Meister Hugo Ferreus lediglich Handel mit Afrika. Es heißt etwas zu große Anforderungen an ihn stellen, wenn er die Kinder nach Palästina fahren und damit gänzlich von seinem gewohnten Kurs abweichen soll. Zum mindesten scheint es mir geboten, daß er hier auf der Stelle darüber befragt werde und seinerseits klare und bindende Auskunft gebe, was für einen Lohn er sich für seine Leistung ausbedingt, damit nicht etwa unsere gute Stadt sich nachher auf einmal exorbitanten Forderungen gegenübersieht –«

Totenstille im Rat. Deutlich ist das Brausen des Meeres hörbar, das tausende junger Seelen, die ihr Glaube treibt und ihre Sehnsucht lockt, ihrem Schicksal entgegentragen wird: es wäre in der Tat schlimm, wenn diese einfachste Lösung den Nachteil haben sollte, viel Geld zu kosten! Der junge Redner aber erkennt mit tiefer Verachtung, daß die Schlechtigkeit der Menschen höchstens durch ihren Eigennutz besiegt werden kann –

215 Da richten sich auch schon aller Blicke nach dem Präsidentensitz, wo der gelbe, glatzköpfige Riese steht und seine Mütze nicht mehr dreht, sondern unbeweglich in den Händen festhält. Er schaut nicht auf, sondern zuckt nur mit den Schultern: es ist eine Antwort vor aller Antwort, eine vorläufige Quittung für die Aufmerksamkeit des Saales, die er auf sich ruhen fühlt. Und er zuckt noch einmal und bringt zwischen harten, gelb blekenden Zähnen mit einem untertänigen Grinsen die krächzenden Worte hervor: »Um Gotteslohn kann man auch einmal nach Syrien fahren!«

Ein Schweigen höchster Spannung nimmt diesen Spruch entgegen, welchem man gerne erleichterten Gemütes Glauben schenken möchte. Soll man die Kinder vor dem sicheren Verderben retten – oder die Stadt vor Hungersnot und Ungemach bewahren? Wie könnte ihnen, den pflichtbewußten Räten der Stadt, die Wahl zweifelhaft sein? Dazu kommt: Wenn die Schiffe einmal den Hafen verlassen haben, sieht niemand mehr, wohin sie fahren . . .

Und der Bürgermeister ergreift das Wort, um ein so ungewöhnliches Angebot sofort festzunageln.

»Meister Hugo Ferreus will ohne Entgelt tun, worum ihn der Rat glaubte angehen zu müssen. Ich spreche ihm hiefür den Dank unserer Stadt aus und beantrage dem Rat, in diesem Sinne Beschluß zu fassen. Oder wird ein Gegenantrag gestellt?«

Abermals Stille. Niemand meldet sich; und es wäre auch nutzlos. Angenommen!

Da erhebt sich der junge Ratsherr von seinem Platze, schreitet langsam und aufrecht durch die Reihen hindurch und verläßt den Saal. Alle sehen ihm nach, auch wenn sie die Köpfe nicht 216 umdrehen: es ist, als trüge er ihr Gewissen mit sich hinaus. Aber sie sind ihm nicht gram darum . . .

»Also beschlossen vom Rate mit allen Stimmen bei einer Enthaltung! – Der Meister Hugo Ferreus anerbietet sich nicht nur, die verwahrlosten Scharen kreuzfahrender Kinder um Gottes Lohn nach Palästina überzusetzen, sondern er wird hierzu auch vom Rate einer löblichen Stadt Marseille in aller Form ermächtigt. – Die Sitzung ist aufgehoben.«

 


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