Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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39. Brigittes Irrsinn

Brigitte wandert und wandert wie im Fieber.

Bei keiner der Kindergruppen, die sie antrifft, bleibt sie länger, als bis sie sich vergewissert hat, daß die gesuchten Kleinen sich nicht unter ihr befinden; durch nichts läßt sie sich von der Überzeugung abbringen, daß auch sie»das Kreuz genommen haben« und daß ihr darum immer noch die Möglichkeit 383 offensteht, sie irgendwo in dem jugendlichen Heere – und vielleicht gerade dann, wenn sie sich dessen am wenigsten versieht – zu entdecken. Die ältern Knaben und Mädchen aber flieht sie, als ob sie von dem Bösen besessen wären: denn seit sie einmal, dem Laut von Stimmen folgend, ein glückliches Pärchen im Waldmoos liegend angetroffen hat, wird ihr der Blick mehr und mehr dafür geschärft, daß über diesen Reisefreundschaften alle frommen Gedanken verloren gehen und an ihre Stelle ein weltliches Gebaren tritt, welches den ihr anerzogenen strengen Grundsätzen vollständig widerspricht. Um so rückhaltloser wirft sie alle ihre Sehnsucht auf Christus als auf den einzigen Erwählten ihres Herzens und bemüht sich immer brünstiger, in Demut und Erniedrigung einherzuschreiten und sich in dem Maße selbst zu martern, als sie dereinst auf dem Grabe des Erlösers überirdischer Wonnen hofft teilhaftig zu werden.

Brigitte, wo hast du dein blaßblaues Haarband? Längst hinter dich in den Staub geworfen. Aber auf deiner armen, flachen Brust trägst du aus schmutzigen Leinwandstreifen, die du auf der Straße auflasest, das Kreuz. Und wie schön standen dir einst deine hellblonden Haare, die du dir wie ein Krönlein ums Haupt wandest! Jetzt umflattern sie dich als zerzauste Strähnen, die du wild in die Fäuste nimmst, um deine Tränen zu trocknen, wenn die Verzweiflung dich vor einem Kruzifix am Wege niederwirft. Und das Festgewand, das du zur Hochzeit deiner glücklicheren Schwester trugst, umschlottert es dich nicht als zerfetzte, abgeschossene, staubige Lumpen? Und die durchgelaufenen Schuhe, hast du sie nicht schon längst als unnütze Last von den schmerzenden Füßen geschlenkert?

Wer aber richtet alle diese Fragen an das vergessene alternde Mädchen, wenn nicht das Fünkchen ihrer eigenen Erinnerung, 384 das mit jedem Tage in der Nacht ihrer Seele kleiner und schwächer wird? Vergangenheit und Zukunft halten in ihr ununterbrochene Zwiesprache: was einst Wirklichkeit war, wird ihr zum bloßen, wesenlosen Traume; und die einstigen Träume fangen an, ihr wie eine zweite Wirklichkeit entgegenzuwachsen, entgegenzuleuchten. Sie muß nur auch selber ihnen entgegengehen und mit festem Entschluß nach ihnen greifen . . .

Da kommen auf einem Nebenwege wieder eine Anzahl Kinder daher. O, wie sie sich abermals die Augen ausschaut, ob nicht die sieben Kleinen, die ihrer Obhut entliefen, unter ihnen zu erkennen sind! Sie nähert sich den müde Dahintrippelnden mit ausgestreckten, vor Erregung zitternden Händen, als könnte zwischen ihnen der glühende Wunsch ihres Herzens zum Erlebnis gerinnen; und erregt doch bei ihnen nur Abscheu und Furcht.

»Seht dort! Eine Teufelin kommt! – Flieht! Flieht!«

Und während die kleinen Kreuzfahrer jäh auseinanderstieben, steht sie da, einsam, verlassen, und starrt ungläubig in die Weite: bis sie zuletzt in ein ruckweises und immer lauteres Lachen ausbricht, wie eine, die erkennt, daß sie sich geirrt hat, und sich doch selber darüber hinwegtäuschen will, weil sie sich schämt. Denn warum hat sie keine Kinder, wo alle andern Weiber Kinder haben? Oder hat sie es am Ende nur vergessen? Hielt nicht auch sie einmal von diesen süßen Kleinen eine jubelnde, leuchtende Schar in ihren Armen? Sie muß sie nur suchen, immer wieder suchen; und es kann nicht anders sein, sie wird sie eines Tages finden . . . 385

 


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