Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

44. Das blutige Kreuz

O Glut des Nachmittags!

Wie angedorrte Zweige sitzen die Jünglinge und Knaben zurückgelehnt auf den Kisten und Warenballen, um das Kreuz und um die Fahne herum. Wie welke Blumen liegen die Mädchen vorn auf den Stämmen des Floßes und lassen ihre 203 braunen Arme, nach Kühlung begierig, in die strömenden Wellen hinabhangen. Niemand singt, niemand spricht: kaum daß sie atmen.

Die Hügel links und rechts umflimmern sie mit schwülem Sonnendunst. Dann und wann schöpfen hohle Hände das Wasser des Flusses; aber es stillt den Durst nicht und mildert auch die Hitze nicht, vor der es kein schattiges Obdach gibt: die Kleider sind warm, das Holz heiß, Eisenteile glühend. Die Jünglinge möchten sich am liebsten in die Flut stürzen und neben dem Floß herschwimmen; aber der Patron erlaubt es nicht.

So sitzen oder liegen sie, starren aus fast schwarzgebrannten, schweißbeperlten Gesichtern die vorübergleitenden Schlösser an und kümmern sich kaum darum, daß jetzt Türme und Mauern einer Stadt sichtbar werden. Die Schiffsleute aber springen plötzlich empor, reden laut miteinander und zeigen nach vorn: dort wimmelt der Strom von Kähnen, die von Bewaffneten angefüllt sind, welche ihnen offensichtlich den Durchpaß wehren sollen. Auch die Kinder werden jetzt lebendig und sehen verwundert, wie sie in ein Netz quergespannter dicker Ketten hineintreiben und wie aus den Booten lange Haken nach ihnen ausgreifen, sich in die Baumstämme des Floßes einschlagen und sie ans Ufer ziehen, wo in Haufen das Volk steht, schreit und fuchtelt.

Von seinen Paladinen umringt, überblickt Stephan vom Kreuz aus das lärmige Gewühl einer am Strand immer dichter sich stoßenden Menschheit, deren Worte und Gebärden ihm so fremd sind, als ob es schon Heiden wären. Mit einem Ruck, daß alle sich gegenseitig festhalten müssen, stößt das Floß auf den Sand; die Knaben und Mädchen können nichts anderes denken, als daß sie aussteigen sollen, und wollen schon auf 204 den festen Boden springen. Auch die Schiffsleute, die einige von ihnen verängstigt ausfragen, zucken bloß die Achseln: sie wissen selber nicht, was der kriegerische Aufwand zu bedeuten hat –

»Halt!« ruft da Stephan, von der obersten Kiste herunter, über die Köpfe der Verwirrten hinweg; und so stark ist seine sonst so sanfte Stimme, daß sie lauter als das Brausen des Flusses tönt und die Männer und Frauen am Strande nicht weniger bannt als die junge Kreuzfahrerschar, die sich plötzlich wieder daran erinnert, daß sie einen Führer hat. Stephan aber sieht, wie alle an seinem Munde hangen, und bemerkt zugleich, wie von dem nahen, etwas höher gelegenen Stadttor ein paar verspätete Neugierige den Hang heruntergerannt kommen, um in der bereits dichtgedrängten Menge auch noch einen guten Platz zum Schauen zu erhaschen. Und mit einer Handbewegung über seine Schar hin fährt er fort: »Wer will frommen Christen, die nach Jerusalem fahren, den Weg versperren?«

»Hilf, heiliges Grab!« schreit da Eustachius, greift nach der Muttergottesfahne und schwenkt sie breit, so daß alle das Jesusknäblein darauf sehen. Nichts ist mehr zu hören als das Rauschen des Stromes – und jetzt das Geräusch von zwölf Schwertern, die aus der Scheide zischen und in der Luft funkeln. Die zwölf Paladine haben sich um ihren König geschart; ihre steilen Schilde gleißen wie eine Mauer aus Erz in der Sonne. Will diese Jugend mit der Übermacht reisiger Knechte wirklich den Kampf wagen?

Vom Ufer her antwortet ein Trompetenstoß; und wie vor einem goldenen Gestrahle teilt sich vor den schmetternden Tönen die bunte Menschenmenge. Neben dem Bläser aber, welcher eben die wagrecht gehaltene Trompete, von der ein farbig besticktes Tuch herabhängt, langsam sinken läßt, steht ein 205 in den Landesfarben gekleideter Herold. Und er beginnt in Gegenwart der ihn mit ernsten Mienen umgebenden Ratsherren laut und deutlich ein Pergament zu verlesen.

»Befehl des Königs von Frankreich! Wo immer in meinem Lande jene verblendete Jugend angetroffen wird, welche jetzt allüberall mit tollkühner Verwegenheit sich aufmacht, ein Unternehmen ins Werk zu setzen, dessen Undurchführbarkeit schon stärkere Arme, mutigere Herzen und weisere Köpfe haben einsehen müssen, ist sie anzuhalten und –«

»Stephan, dein Brief an den König von Frankreich!« rufen fast gleichzeitig Alix und Ellenor mit heller Stimme. Die Paladine aber zeigen mit ihren Schwertern zu ihrem Führer empor – »Unser Herr Christus selber hat ihm den Brief überreicht, als er ihn zur Fahrt ins heilige Land aufforderte!« schreit einer von ihnen. Und alles auf dem Floße und am Ufer lärmt wild durcheinander: »Den Brief an den König von Frankreich! – Ein Brief an den König? – Den Brief! Den Brief!«

Stephan, der jäh in sein Wams gegriffen hat, zieht jetzt langsam und feierlich eine Pergamentrolle hervor. Er streckt sie hoch vor sich hin: ein rotes Siegel hängt daran; und seine und aller Augen sind auf das Siegel gerichtet. Hunderte von offenen Mäulern scheinen es in sich einschnappen zu wollen – »Was ist das? Was zeigt er herum?«

»Dieses ist das Schreiben, das ein Pilger mir übergab; seine Hand aber – ich sah es deutlich – trug das Wundmal des Nagels! ›Unser Herr‹, sprach er, ›gebietet darin dem König von Frankreich, dir wenigstens den Weg zum heiligen Lande zu ebnen, den er selber nicht zu Ende ging!‹ So höre denn, König von Frankreich, das Wort unseres Heilandes! Ich löse das Siegel und öffne die Botschaft –«

206 Das Wachs zerbröckelt in Stephans Jünglingsfaust, die Schnur zerreißt. Gleichzeitig ist er von der Brücke herabgestiegen und entrollt das Pergament, den Andringenden die Innenseite zukehrend, damit sie sehen und lesen können. Muß göttliche Schrift nicht von selber sprechen? Was zaudert ihr? Lest, ihr Schergen! Lies, Herold! Lest, ihr alle, alle, alle!

Die Vordersten prallen zurück. Ein erstickter Schrei gurgelt auf; noch einer, und dann mehrere: Hände erheben sich wie zum Schutze; entsetzte Gesichter drehen sich ab mit fliehenden Augen; Nacken und Rücken der Auseinanderstiebenden stürzen sich auf die hinteren Reihen und bringen eine nach der andern zum Wenden, Wanken, Weichen. Rufe des Schreckens verbreiten sich und flößen auch jenen Angst ein, die ihre Ursache nicht mehr zu erkennen vermögen –

Was ist geschehen? Was geschieht noch, daß die Menschen, forteilend, mit jeder Herzschlagspanne den leeren Kreis vergrößern, in dessen Mitte die weggeworfene Trompete mit dem liliengestickten Prunktuch liegt? Verlassen breitet sich das Ufer; und schon tönt das Geschrei der Auseinanderfliehenden schwächer. »Gott will es!« rufen die zwölf Paladine, schmettern die Schwerter an ihre Schilde und machen sich wie zur Verfolgung des geschlagenen Gegners auf.

Auch Stephan ist vom Floß ans Land gesprungen, das göttliche Schreiben immerfort wie ein Banner hochhaltend. Ein kalter Schauder überläuft ihn und will ihm alle Kraft rauben; und doch wieder fühlt er um sich ein warmes Fächeln wie von Engelsflügeln, den Beistand himmlischer Boten. Er begreift nichts: er sieht nur die Wirkung, die unbeschreibliche Wirkung, daß alle Widersacher zerstreut sind und daß selbst die Kriegsknechte in den Kähnen sich in die Knie geworfen haben und beten.

207 »Auf, ihr frommen Pilger!« jauchzt er in wildem Triumphe. »Der Herr, der das Meer teilen und die Wasser wie Mauern wird stehen lassen, seht, er hat die Mauern der Menschen gespalten; der Herr hat geholfen. Hier geht unser Weg! Auf, nach Jerusalem!«

Und er dringt, das offene Pergament wie eine Beschwörung in der Faust, vom Ufer landeinwärts; und alle die Knaben und Mädchen, die ihre Bündel aufgerafft und nach den Kreuzen und Fahnen gegriffen haben, folgen ihm, während die Schiffer stumm glotzend auf dem Floß zurückbleiben. Voll blinden Vertrauens schreiten die jungen Kreuzfahrer ihrem Führer nach, unten an der Stadt entlang, in deren hochgelegenem Tor eben die letzten der fliehenden Bürger verschwinden; und sie hören hastig die Zugbrücke in die Höhe ächzen, als ob ein gefährliches Heer sich heranwälzte, wo sie doch fast alle waffenlos sind und friedlich unterhalb der Mauern vorbei- und weiterziehen. Schon ist die Hitze des Tages gebrochen: schweigend wandern sie, immer Stephan mit seinem Briefe voraus, in die beginnende Kühle des Abends hinein; und auch vor der nahenden Nacht haben sie diesmal keine Furcht, denn sie wissen sich im besonderen Schutze des Himmels, welcher sich hinwölbt mit seiner glitzernden Paradiesesherrlichkeit über Land und Meer –

Da taumelt Stephan und fällt bewußtlos ins trockene Heidegras. Alle eilen herzu, sehen, daß er kein Wort mehr über die Lippen bringt, und gewahren im ungewissen Dämmerlicht mit grenzenlosem Staunen das offen neben ihm liegende Pergament. Es steht nichts anderes darauf als, mit einem in Blut getauchten Finger in zwei Strichen hingemalt, ein großes, furchtbares, schwarzrotes Kreuz . . . 208

 


 << zurück weiter >>