Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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26. Stephan und Ellenor

Wie Stephan und Ellenor aus ihrer Betäubung erwachen, sehen sie sich allein auf weitem Feld. Die wenigen Knaben und Mädchen, die mit ihnen in die Stadt eingedrungen waren, wie sie in der Kirche des Todes oder in den Gassen des Mordes übernachtet hatten und bei Anbruch des Tages in wildem 136 Entsetzen wieder aus ihren Mauern davonflohen, sind nirgends mehr sichtbar. Und wenn nicht die Stadt selbst unfern in furchtbarer Stille sich breitete, sie wären versucht zu glauben, daß sie alles nur träumten.

Die schon wieder kräftig herabbrennende Sonne, in deren Gestrahle man weder an vergangene noch an künftige Nächte denkt, zeigt ihnen den Weg. Sie lassen die Stadt zur Seite und bald einmal in ihrem Rücken liegen und wenden sich in dem unbestimmten Vorsatz, fortan alle Behausungen der Menschen zu fliehen, einem nahen Gebirgszuge zu. Der immer heftigere Wunsch, endlich einmal das Meer zu erreichen und diesem verwüsteten Lande zu entrinnen, muß vorübergehend dem dunklen Drange nach augenblicklicher Flucht und Zurückgezogenheit weichen, wenn sie gleich nicht verhindern können, daß die Erinnerung an das Erlebte ihnen in jede Einsamkeit nachfolgt.

Was ist aus dem jugendlich gläubigen, jugendlich verwegenen Kreuzritterheer und aus seiner stolzen Kreuzfahrt geworden? Versprengt irren jetzt die Kinder, einzeln oder in schwachen Trüppchen, auf den Straßen hin und wieder, den Weg nach der Küste erfragend und angstvoll bemüht, dem feinmaschigen Netz der Vernichtung zu entgehen, welches jenes andere, päpstliche Kreuzheer im Kampfe gegen die Ketzer über die Gegend ausgespannt hat. Wo sie diesen Horden begegnen, denen noch am Mittag die Blutspritzer vom nächtlichen Morden her im Gesicht stehen, vermeinen sie eher menschgewordene Teufel vor sich zu sehen als christliche Glaubenskämpfer; und die Hohnworte, mit denen ihnen dieser und jener »Gute Reise nach Jerusalem« wünscht und ihnen fast drohend zu bedenken gibt, daß die Ketzer schlimmere Feinde der Kirche seien als die Heiden, 137 die überhaupt nichts von Gott wüßten, klingen in ihren erschreckten Ohren wie ein Grollen der Hölle nach.

All ihre Erfahrungen und Abenteuer sucht Stephan sich zu vergegenwärtigen und nachzufühlen, während er selber als ein machtloser Flüchtling den Bergen zuwandert. Was wird ihnen noch bevorstehen, bis sie endlich auf dem Wasser schwimmen und sich nur in der Hand Gottes, statt derjenigen verruchter Menschen wissen dürfen? Wird er sein Heer, das wohl größeren Zuzug erhielt, als er zu ermessen vermag, überhaupt je wieder versammelt sehen, so daß er es in seiner ganzen Stärke nach dem heiligen Lande führen kann? Er kommt sich wie ein entthronter König vor, der mit seiner Königin davonflieht, und nicht weiß, wann er vom Schicksal wieder in seine Rechte eingesetzt wird, die allein ihm auch die Erfüllung seiner Pflichten gestatten.

Ellenor schreitet, ebenfalls wortlos, an seiner Seite und fragt sich in ihrem Herzen immer nur das eine: Wo ist Eustachius? Der furchtbare Verdacht, den Stephan in jener Nacht nach der Ketzerverbrennung auf sie warf, hat ihm ihr Herz vollends entfremdet: um so treuer bewahrte sie die sanften, verstehenden Worte des einstigen Klosterschülers, die ihr schon deshalb ein Trost waren, weil auch er sich erschüttert zeigte in seinem Glauben an die Kirche, die er doch vor kurzem noch so glühend verteidigt hatte; so daß sie in ihrer Verwirrung nicht mehr allein stand. Oder ist es wirklich die Luft dieses Landes, die einen jeden früher oder später zum Ketzer macht, indem sie ihn von all dem abfallen läßt, was ihm einst heilig war? Vielleicht doch! Denn wie hätte sie sonst so schlecht sein können, daß sie bereits im Stillen hoffte, Eustachius' Herz der milden, gütigen Alix, welche gleich ihr niemand mehr außer dem selbstgewählten Gefährten hatte, abspenstig zu machen und sich selber 138 zuzuwenden? Aber leben Eustachius und Alix überhaupt noch; und wird sie Alix jemals wiedersehen, um vor ihr stille, inbrünstige Abbitte leisten zu dürfen?

Die Sonne zwingt sie endlich zu der gewohnten Mittagsrast. Aber auch jetzt sitzen sie wortlos nebeneinander im Schatten eines Baumes, vergessen selbst den Hunger, der ihre Eingeweide zernagt, und sind ein jedes nur mit der Qual seiner Seele beschäftigt. Während Stephan vergebens versucht, von Ellenor, der er sich näher denn je fühlt, einen verzeihenden Blick aufzufangen, sieht sie ihn, wenn er sich so in seinen eigenen Gedanken verliert, endgültig von all dem Schimmer entkleidet, mit welchem ihn ihre jugendliche Begeisterung in den Tagen umwoben hatte, wo er der König der zahllos ihm zuströmenden Kinderscharen war und sie neben ihm auf dem Ochsenwagen saß, um dem Jubel der gläubigen Knaben und Mädchen ein Vorbild biblischer Einfachheit und Genügsamkeit zu geben. Was ist er anderes als ein magerer, graubleicher, von seiner Sehnsucht gepeitschter und von seinem Mißtrauen gepeinigter Bauernbursche, vor welchem ihr gleich beim ersten Anblick eine innere Stimme sagte, daß sie nicht zu ihm passe?

Sie wandern weiter und kommen noch im Laufe des Nachmittags in die Berge hinein, deren Hügellinien sie den ganzen Tag vor und neben sich gehabt haben. Bei einem einsamen Gehöft reicht man ihnen auf ihre Bitten etwas Ziegenmilch und bestaunt, während sie abwechselnd aus dem schmutzigen Becken trinken, mit spöttischen Mienen die Kreuze, die sie auf ihrer Brust tragen – »So, also ihr seid jetzt zwei von jenen jungen Narren, die nach dem heiligen Lande wandern wollen!« brummt der ältere der beiden bärtigen Hirten und geht langsam um sie herum, um sie von allen Seiten zu betrachten. Da 139 fragen sie nicht erst um Obdach für die Nacht, sondern ziehen weiter, bis sie gegen Abend sich der Kuppe eines Hügels nähern, die ihnen, wie nun schon mehrmals, die sicherste Stätte zu sein scheint, um den neuen Tag abzuwarten.

Doch während sie so dasitzen und in die über der weiten, dunstigen Ebene rot verglühende Sonne hineinschauen, kehrt nicht der Friede der nahenden Nacht in ihre Seelen ein, sondern es erheben sich wieder in der Stille der Betrachtung alle die erlebten Schrecknisse vor ihnen, als dunkle Rätsel, die ihre Lösung fordern. Das Gotteshaus, in welchem sie, ohne es zu wissen, mit Tausenden menschlicher Leichen zusammen gerastet und neben ihrem ewigen Todesschlummer den kurzen, immer wieder dem Erwachen weichenden Schlaf des Lebens geschlafen hatten, weitet sich vor ihren Blicken zum großen Schlachthaus dieser Welt, in welcher aller tröstliche Sinn, den vergängliche Weisheit jemals in sie hineinzudichten suchte, der tieferen Erfahrung sich als ein Wahnsinn erweist. Wozu überhaupt ist in ihnen das Licht des Geistes entzündet worden, wenn sie doch eines Tages nicht anders als das Gras zu ihren Füßen vergehen werden? Und wieviel von dem, was die Kirche vom jenseitigen Leben erzählt, mag wirklich wahr sein, wo auch mit dem Übrigen, das sie verkündet, ihre Taten so wenig übereinstimmen?

Draußen im grenzenlosen Raum beginnt ein Stern nach dem andern sein Geflimmer. In der scharfen Ätherklarheit des Firmamentes formen die Nebelflecke hingestäubter Gestirne ganze Gebirge und Talmulden, in deren Tiefe sich der Blick verliert –: Wird nicht, für fühlende Augen und Ohren, das Entsetzen dieser Erde von einem millionenfachen Echo aus der Unendlichkeit zurückgeworfen? Als ein ungeheures Triebwerk 140 der ewigen Selbstzermalmung entschleiert sich das Leben vor ihnen, das sie je länger je weniger verstehen und dem sie sich doch je länger je unentrinnbarer verhaftet fühlen, in dumpfer Verzweiflung davon überzeugt, daß ihr eigenes Schicksal von dem Schicksal der Welt nicht verschieden sein wird.

Auf einmal öffnet Stephan den Mund wie zu einem langen, gräßlichen Schrei; aber er bleibt stumm, im Innersten erstickt, überwältigt, und deutet nur mit der ausgestreckten Rechten in das glitzernde Weltall hinein, als stünde dort, auf seinem finstern Grunde, die Erkenntnis geschrieben, die ihm die Seele zerreißt –

»Glaubst du noch,« fragt er endlich mit heiserer Stimme, »daß Gott und Teufel wirklich einander feindliche Gewalten sind, wo doch diejenigen, die für Gott kämpfen, sich von soviel Teuflischem erfüllt zeigen?«

Ellenor betrachtet ihn mit tiefem Entsetzen und zugleich mit blutendem Mitleid. Das ist das Mißtrauen, das ihn zuerst ihr gegenüber erfüllte: Nun wirft er es auf Gott selber! Und es ist, als fasse er nur den Gedanken, der aus seiner Frage in ihr aufkeimen will, in Worte, indem er fortfährt:

»Wenn Gott der allmächtige Schöpfer ist, hat er dann nicht auch das Böse geschaffen? Steht nicht geschrieben, daß der strahlendste der Engel, die er doch selber schuf, von ihm abfiel und zum Fürsten der Finsternis wurde? Ließ er es also nicht selber zu, daß ein Teil des Geschaffenen sich gegen ihn empörte und daß darum ewig seine Schöpfung und damit er selber sich in Krämpfen windet?«

Da kehrt sich Ellenor schaudernd von seinem dunkel glänzenden Fieberblick ab und starrt, plötzlich auch sie, wie in einen unendlichen Kerker hinein. Wenn Gott nicht nur der ewige 141 Schöpfer, sondern auch der ewige Vernichter ist, wo gibt es da noch eine Zuflucht für die in Verzweiflung ringende Seele? Und sie wird sich dunkel bewußt, daß ihr Kinderglaube, der ihr bisher wie eine Schutzmauer die tötenden Pfeile der Erkenntnis fernhielt, in dieser schlimmsten Stunde von ihr weichen will – und was dann?

»Christus, Gottes Sohn, hat uns Menschen von der Sünde dieser Welt erlöst!« flüstert sie leise, wie zu ihrer eigenen Bestätigung und Bekräftigung.

»Ja!« lacht Stephan wild heraus. »Als er am Kreuze hing, da hat er sich selber von dieser Welt erlöst und uns gezeigt, wie auch wir einst von ihr erlöst sein werden: wenn wir ebenfalls irgendwo und irgendwie am Kreuze hangen!«

»So glaubst du nicht mehr daran, daß diejenigen, die seinen Willen tun, ins Paradies kommen, die Bösen aber in die Hölle?« Ellenors Atem keucht, ihre Pulse fliegen; und sie faltet beschwörend ihre Hände vor ihm.

»Wer sollte noch länger eine Lehre glauben können, wenn gerade ihre Bekenner beständig das Gegenteil tun von dem, was sie fordert? Es ist nicht anders: Seligkeit und Verdammnis müssen im Schöpfer selber liegen, unlösbar miteinander verbunden, gleichwie in der Brust eines jeden seiner Geschöpfe . . . Spürst du es nicht? . . . Und darum: Wo sollten wir nach dem Tode hinkommen, als wieder in Seligkeit und Verdammnis hinein? Ewig! Ewig!?«

»Stephan, du bist ein Ketzer geworden!« schreit Ellenor auf, als schaute sie vor sich in ein Gebäude, das sich selber in der Flamme verzehrt, die es erleuchtet. Und aufschluchzend wendet sie sich von ihm weg, wie um sich davor zu bewahren, daß das scharfe Licht, das von ihm in sie übergeblitzt ist, auch in ihr 142 zum verderblichen Feuer ausschlage. Und in der tiefsten Verlassenheit ihres Herzens kostet sie jene Verzweiflung durch, die selbst Christus nicht erspart blieb und aus welcher nur die Gnade zu Gott zurückführt.

Stephan aber sagt nichts mehr, sondern schaut, die Hände um die Knie geschlungen, in das nächtliche Weltall hinaus, wo das ewige Werden und Vergehen mit den Gestirnen langsam sein leuchtendes Ballspiel treibt.

Also das ist das Los des Menschen nach dem Tode: Entweder wiederum in Seligkeit und Verdammnis hineingeraten, wie immer sie auch beschaffen sein mag; oder letzten Endes sich im Nichts verlieren? Wie sehr wünschte seine ermattete Seele, daß sie das zweite hoffen dürfte! Aber wo hätte bei der Allgegenwart Gottes das Nichts Raum als in den Gedanken törichter Menschen? Er glaubt das Märchen von Paradies und Hölle nicht mehr! Auch drüben gibt es, so wenig wie hier, ein Entweder-Oder! Stets nur ein Zugleich, ein Zugleich!

Da hört er wieder neben sich das Schluchzen Ellenors; und ihre gläubigen Worte klingen ihm abermals in der Seele nach: »Christus, Gottes Sohn, hat uns Menschen von der Sünde dieser Welt erlöst!« Und auf einmal steht groß und mild die Einsicht vor ihm: Ist es nicht vielleicht doch wahr? Liegt nicht die Erlösung schon darin, daß der Mensch sich des ewigen Zwiespaltes von Güte und Grausamkeit, Seligkeit und Verdammnis bewußt wird und sich mit seinem eigenen freien Willen um so klarer für das eine oder das andere entscheiden kann? Wozu anders denn reisen sie nach dem heiligen Lande, als um unter dem Himmel und in der Luft, wo der Sohn Gottes lebte und wandelte, Erleuchtung zu finden über die Schöpfung Gottes?

Während Ellenor, nachdem sie lange in völliger Auflösung 143 geweint hatte, sich vom stillenden Schlummer umfangen läßt, bohrt sich Stephans Geist noch im Traume mit eben derselben Kraft in die unergründliche Tiefe des Lebensrätsels, mit welcher er einst die vielen tausend Kinder zur Fahrt in die heilige Ferne aufrief und begeisterte. Sollte es nicht möglich sein, die Wahrheit zu erkennen, auch wenn die Lehren der Kirche, die durch ihre gleichzeitigen Taten eher widerlegt als bestätigt werden, mehr Irrtum als Wahrheit enthielten? O, wenn sie sich nicht schon auf der Fahrt nach Christi Grab befänden, sie müßten noch heute dahin aufbrechen! Nicht kleiner, nur immer größer ist ihre Sehnsucht geworden, seit sie ihre irdische Heimat verließen!

Ellenor jedoch sieht in den Bildern des Schlafes den jungen Mönch vor sich stehen; und ihre Lippen flüstern den Namen Eustachius. In jener Nacht der Zweifel hatte er sich ihr genähert, nicht, wie Stephan, sich von ihr entfernt: er hatte den Glauben an sie sich auch dann noch bewahrt, nachdem in ihnen alle Lust zum kraftvollen Leben, welche eine Zeitlang so lockend vor ihren Augen stand, durch die grauenvollen Erlebnisse ertötet worden war. Und so naht sich ihm jetzt ihre Seele als ihrem letzten sicheren Hort und ohne eine Ahnung davon, daß er auf dieser Welt nur noch in ihren Gedanken lebt, während er selber längst eine strahlende Antwort auf alle die Fragen erhalten hat, an denen sich ihre in der dunklen Zeitlichkeit befangenen Gedanken wundscheuern.

Wie aber Ellenor über dem kühl fallenden Tau der Morgendämmerung als erste erwacht und Stephan neben sich noch in tiefem Schlafe liegen sieht, da blickt sie, von der Seite her über ihn gebeugt, lange und nachdenklich in sein abgehärmtes Jünglingsgesicht, das schon ein männlicher Wille durchfurcht und 144 nach dem innern Seelenbild schneidet. Wenn sie außer Eustachius niemand mehr hat, dem sie sich ganz erschließen könnte: wen hat denn er noch auf dieser Welt außer ihr? Hat er Alix nicht ebensogut verloren, wie sie Eustachius; und wie dürfte sie sich einbilden wollen, daß sein Verlust kleiner sei als der ihre? Und sie empfindet es auf einmal als schlichte Forderung der Gegenwart, daß sie beide die in ihre Reihe gerissenen Lücken schließen, indem sie sich gegenseitig in jener Barmherzigkeit einander zuwenden, die vielleicht verwandt ist mit der Liebe, die Christus predigte; und die warme, mütterliche Bereitschaft quillt in ihr auf, ihm in seinem Seelenkampfe an ihrer Brust eben jene Zuflucht zu gewähren, wenn er sie heischen sollte, wie sie selber sie bei Eustachius zu finden gehofft hatte . . .

 


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