Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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33. Die Flucht aus dem Paradies

Es kommt kein Schiff.

Schon steht die Sonne mittäglich hoch und treibt sie immer wieder in den Bäumeschatten des Hügels hinaus. Und von dort treibt sie die Sorge unruhig wieder an den Strand des Eilands hinunter.

Drüben liegt menschenleer das Ufer, von welchem sie hergekommen sind. Gut haben sie den Ort gewählt, um vor jeder Verfolgung sicher zu sein! Nichts lebt hier als die quirlende Wellenfülle des Flußarmes, welcher nicht nur böse Menschen von ihnen fernhält, sondern auch sie vom Lande trennt und zu Gefangenen macht.

»Mir ist, als ob das Wasser immer noch stiege!« redet Gertrud vor sich hin, indem sie nach dem Zeichen ausschaut, das sie am Morgen einem Felsblock einritzte.

186 Sie versuchen es nicht mehr, hindurchzuwaten. Schon einige Male sind sie von dem kalten grauen Gewoge, das noch nach den Gletschern der Berge schmeckt, fast umgeworfen und immer wieder an den schmalen Sandstrand mit den Büschen zurückgetrieben worden. Immer barscher braust ihnen die Stimme des Stromes ins Ohr: Ihr habt euch noch nicht genug geliebt! Liebt euch weiter!

Zuerst lachten sie darüber und sanken sich jedesmal, kaum fühlten sie wieder festen Stand unter den Füßen, zum Kusse in die Arme. Allmählich aber dringt ihnen das unaufhörliche Rauschen wie eine Drohung in die erschütterte Seele; ja, sogar zuletzt, was das Schlimmste ist, im Tone einer erhabenen Gleichgültigkeit. Sollten sie zu ihrem Glücke nicht – wie sie zuerst dachten – auserkoren, sondern verdammt sein?

Sie haben sich jetzt endgültig auf den Hügel zurückgezogen, auf welchem sie die Nacht verbrachten, und äugen bald nach dem Ufer hinüber, ob nicht ein vertrauenswürdiger Mensch erscheine, bald wieder den Strom hinauf, ob nicht ein Schiff dahergeschwommen komme.

»Hier haben wir es eigentlich wie Adam und Eva im Paradies!« sucht Albrecht zu scherzen. Indem er ihre Lage mit einem selbstgewählten Sinn begabt, möchte er sie beide über die Wirklichkeit hinwegtäuschen.

»Ja!« versetzt Gertrud nachdenklich, während sie in ihren leeren Bündeln kramt. »Nur daß sie aus ihm vertrieben wurden, bevor sie erkannten, daß man es in ihm auf die Dauer nicht aushalten kann.«

»Hast du Hunger?« fragt Albrecht lachend; aber er selbst denkt schon seit einiger Zeit daran, wie er den seinen am besten stillen könnte. »So komm und hab mich lieb!«

187 Sie tut es; und auf einmal mit einer neuen, sonderbaren Innigkeit. Sollte ihnen nur die Wahl zwischen Tod und Tod, Verschmachten oder Ertrinken übrigbleiben? Dann wollen sie sich vorher alles das schenken, was sie sich schenken können, – zur Verschwendung. Und abermals vergessen sie die Welt um sich her.

Da springt Gertrud plötzlich empor, wie eine pflichtvergessene Magd. Ihr Gesicht ist bleich; sie atmet mühsam.

»Wenn gerade jetzt ein Boot vorübergefahren wäre?«

Und sie schauen sich flußabwärts die Augen aus, ob sie etwa über der Liebe das Leben versäumt haben.

Aber kein Schiff verschwand; und kein Schiff zeigt sich auch.

Nur immer glühender wird die Hitze, welche, wie über dem Lande zu beiden Seiten, so auch über der Insel liegt. Kaum wird sie noch gemildert durch den leichten Wind, in welchem die Luft die Bewegung des dahinströmenden Wassers nachzuahmen scheint.

Da fühlt sich Albrecht von der Ungewißheit ihres Schicksals auf einmal dermaßen bedrückt, daß er, als würde ihm damit in der Seele leichter, selbst die wenigen Kleider abwirft, die ihm noch zerfetzt am Leibe hangen. Und Gertrud, ohne sich zu besinnen, folgt seinem Beispiel und damit dem eigenen Bedürfnis, sich ihm, der sie nun ganz kennt, auch ganz zu zeigen. Und außerdem: Ist es in dieser warmen Nachmittagsluft nicht eine eigentliche Wonne, sich unmittelbar vom Atem des Himmels anhauchen zu lassen? So stehen sie denn vor einander da wie die beiden ersten Menschen, die selig erstaunt sind darüber, daß Gott sie geschaffen hat, und nicht ahnen, was alles von ihnen seinen Anfang nehmen soll.

»Jetzt erst kenne ich dich recht!« jubelt Albrecht. Und immer 188 wieder folgt er mit den Blicken dem süßen Linienspiel ihrer reifen Mädchenschönheit, das nur erst von dem großen Strom des Lebens kündet und noch nichts weiß von seinem dunklen Bruder, dem Strome der Vernichtung. Alle die Bewegungen ihres Körpers, der ihm als der erweiterte Ausdruck ihres Wesens erscheint, sind wie weiße, weiche Wellen vor dem bläulich-dunstig umwobenen Dunkelgrün der Büsche; und die Schatten der gezackten Blätter gleiten über ihre sonnenwarmen Glieder hin gleich Geisterhänden, die sich lautlos tastend eines einstigen Gutes erinnern.

Auch von Gertrud ist mit der Gewandung fürs erste jeder Druck abgefallen. Das flutende Licht und die fächelnde Luft lassen nicht nur ihren Leib, sondern auch ihre Seele aufatmen und gegen die unsichtbar herannahende Not noch einmal die Blitze des Übermutes versenden. Ihr ist, als könnte sie nach den Sternen greifen, wenn sie wollte; und wie um es zu versuchen, hebt sie ihre schlanken Arme nach den Ästen empor –

»Im Paradies gab es wenigstens einen Apfel!« lächelt sie Albrecht entgegen. »Hier ist keiner zu finden, den ich dir geben könnte!«

»Nicht?« ruft Albrecht. »Wo ich doch deren zwei sehe? Und wo du sie mir schon gegeben hast?«

Und er nähert sich ihr wie ein Pilger, der ein Wunder, das ihn beglückt hat, nachträglich noch anbetet, und küßt ihr ehrfürchtig erst die rechte, dann die linke Brust.

Sie jauchzt selig erschauernd in die Wipfel hinauf und fühlt den Ring seiner starken Arme wie ein Versprechen sich um ihre Gestalt legen. Gibt es einen Tod, wo es soviel Kraft gibt, die sie formen, durchdringen, neuschaffen will? Und wird sie in diesen Armen nicht immer wissen, daß sie lebt, und selber nichts 189 anderes mehr als ein demütig sich anschmiegendes Echo sein wollen?

Und so wandeln sie denn miteinander und lagern sich nebeneinander, als hätten sie wirklich ein Paradies betreten, wo sie doch nur das Paradies ihrer Herzen gefunden haben. Nur?!? Es ist das einzige Paradies, in welchem der Mensch jemals Heimatsrecht besaß und in das er, wenn ein gütiges Schicksal es so fügt, den Rückweg wieder finden kann. Nicht bloß die Kleider, sondern auch den ganzen Plunder von Vorstellungen haben sie von sich abgeworfen, mit welchem die Menschen sich gegenseitig ihr wahres Verhältnis zueinander verschleiern und sich selber hindern, an jenem harmlosen Daseinsglück teilzuhaben, das der Schöpfer jedem seiner Geschöpfe gnädig mit auf den Lebensweg gegeben hat.

Dazwischen freilich schauen sie immer wieder nach dem Schiff aus, das sie einer Glückseligkeit entreißen soll, die zu groß ist, als daß sie lange anhalten könnte. Aber die Sonne sinkt, der Abend graut; und wie sie jetzt allmählich verstohlen ihre Kleider wieder aufnehmen und anziehen, können sie nicht vermeiden, daß ihre Blicke sich bange Gedanken verraten und daß sie den kühlen Hauch der nahenden Nacht tiefer als nur in dem Schauder empfinden, der ihre Körper überläuft. Und die rauschende Stille, die sie eintönig umgibt, wird ihnen abermals zur beengenden Fessel, die sie sich durch keine Worte und nicht einmal mehr durch Gedanken von der Seele fernhalten können.

Sie suchen stumm die Hütte und das Laublager auf, das ihnen schon einmal willkommene Zufluchtsstätte war. Wieviel Wellen sind seither in das Meer, wieviel Zeit in die Ewigkeit geflossen? Ist ein Tag oder ein Leben vorbei? Sie wissen es nicht zu sagen. Und schweigend suchen sie ein jedes die Lippen 190 des andern; und indem sie ihre jungen Körper aneinander drängen, tun sie es diesmal nicht nur, um sich gegenseitig ihre Liebe zu versichern, sondern auch, um den in ihren Eingeweiden wühlenden Hunger zwischen sich zu ersticken. Und während sie darüber nachsinnen, wie lange sie sich noch so werden in den Armen halten dürfen, schieben sich, aus der Fülle des Erlebten nachklingend, immer deutlichere Erinnerungsbilder in die Pausen ihrer jugendlichen Verzückung hinein.

Gertrud sieht auf einmal die gütige Frau vor sich, unter deren milder Obhut sie aufwuchs. Du bist mir so lange eine treue Mutter gewesen! denkt sie bei sich. So will ich denn deinem Sohne zu allerletzt noch Mutter sein! Werden wir hier sterben müssen, so soll er an meiner Brust sterben und wähnen, der Tod sei nur ein holder Schlaf!

Und auch Albrecht sieht in Gedanken seine Mutter, wie sie ihm zum letztenmal in die Augen schaute. Leb wohl, Mutter! Ich danke dir, heute wie damals, daß du mich hast ziehen lassen! Was will ich noch mehr? Wenn ich jetzt den Tod finde, so habe ich doch zuerst das Leben gefunden. Ich bin glücklich! Ich bin wunschlos! Legt Trauerkränze auf die Gräber derer, die niemals leben durften!

Und während das Sternenheer einer lauen Sommernacht über die Erde heraufzieht, entschlummern sie unter dem Wiegenlied des dunkelbrausenden Stromes zu ihren Füßen und dem milden Wehen und Raunen des flimmernden Himmels zu ihren Häupten, für Stunden gleicherweise der Qual des Daseins wie der Wonne ihrer Liebe entrückt. Wie, wenn sie jetzt aus dieser selbstvergessenen Umarmung nicht mehr erwachten? Kein ungestilltes Wollen würde sie überleben und die Stätte unerfüllter Hoffnungen umkreisen. Sie hätten sich beide von dem großen 191 Feuer der Schöpfung durchlodert gefühlt und dürften, ermüdete Fackeln, auslöschen und untertauchen . . .

Plötzlich erkennt Gertrud, daß sie mit offenen Augen daliegt; daß ein lichter Tag voll Sonne über ihnen blaut; daß noch immer die Baumwipfel rauschen und der Strom sie umtost. Sie erhebt sich, wirft einen Blick auf Albrecht, der neben ihr einem tiefen Traume lauscht, und tritt vor die Hütte und auf den kahlen Felsen hinaus, wo sie schon so oft nach Rettung ausgespäht haben. Und was sieht sie, daß ungläubig ihre Augen sich weiten? Was naht sich dort oben durch Morgenduft und Wellengeflimmer?

»Ein Schiff! – Ein Schiff!«

Die Stimme versagt ihr. Wenn Albrecht, den ihr wild schreiender Ruf jäh aus dem Schlummer emporriß, nicht herbeigeeilt käme und sie stützte, sie würde in Schwindel und Schwäche zusammensinken. Das Glück, den geliebten Jüngling retten zu können, ist so überwältigend für sie, daß sie gar nicht an die eigene Rettung denkt: sie sieht allein die Mutter vor sich, der sie den Sohn zurückbringen wird!

Bald aber faßt sie sich und denkt nur noch daran, was sie jetzt selber tun müssen, um die mögliche Rettung zur wirklichen werden zu lassen. Zusammen werfen sie ihre lautesten Rufe der großen, dunkel und ruhig daherschwimmenden Barke entgegen, so daß ihnen die Augen aus den Höhlen treten und die Halsadern wie Stränge anschwellen; und bald dem einen, bald dem andern will in seiner Erschöpfung die Welt in Nacht versinken, so daß nicht nur die abgerissenen Zweige, die sie über den Köpfen schwingen, um die Aufmerksamkeit der Ankömmlinge auf sich zu lenken, sondern ihre Leiber selber wie im Taumel sich hin und her bewegen. Und siehe: Vorn im Schiffsschnabel 192 erhebt sich ein Mann in einer Mönchskutte und streckt, als zeige er auf sie, die Hand nach ihnen aus.

Sie stürmen miteinander den Hügel hinunter und am Strande zu der obersten, sandigen Inselspitze hinan, wo sie abermals in ein Rufen und Schreien ausbrechen. Wird man sie aufnehmen? Wird man sie aufnehmen können, wo dem Schiffe die Gefahr droht, an dem seichten Gestade sich festzurennen? Aber da steuert die Barke mit einer leichten Schwenkung auf die Insel zu – und die ganze Welt scheint ihnen in den süßen Farben neubescherten Daseinsglückes zu leuchten.

Schon auch erkennen sie, daß in dem Schiff bereits andere junge Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen Aufnahme gefunden haben. Warum dann sie nicht? Und sie weisen auf die Kreuze an ihrer Brust und suchen mit Winken und erneuten Rufen ihre Retter immer näher an sich heranzuziehen. Kommt! Kommt! Nehmt uns mit!

Da steigt einer der Schiffer auf die Warenballen, welche in der Mitte der Barke aufeinandergeschichtet liegen, und ruft ihnen etwas zu. Fast gleichzeitig schwingt er ein gerolltes Tau nach rückwärts aus, wirft es mit Wucht durch die Luft, wobei sich die Seilringe auflösen – und schon schlägt es neben ihnen in die Büsche und wird alsbald über den Ufersand hingeschleift. Sie aber erhaschen es wie eine davonschnellende Schlange; halten sich mit einer Hand an ihm fest und lassen sich von ihm, sobald es angespannt ist, in das kalte Gewoge hereinzerren; rudern jetzt, sich mutig auf die Brust legend, mit der freien Hand und den Beinen durch die quirlende Flut nach der Barke hin, die bereits wieder von dem gefährlichen Ufer weggesteuert ist und von der aus sie immer mehr Arme und so rasch an sich ziehen, daß sie sich zuletzt mit beiden Händen an dem Tau 193 festhalten müssen und wie zwei Fische an der Angel spritzend über die Wellenkämme dahinhüpfen, bis endlich kräftige Fäuste ihnen unter die Schultern greifen und ein vielstimmiges Jubelschrei ihnen beglaubigt, daß sie geborgen sind.

Wie staunt der gute Bruder Augustin mit seinen Kindern auf das tropfnasse Paar, dem die Kleider so eng ankleben! Aber er ist zufrieden, daß sie gerettet wurden, und fragt schon deshalb nicht viel, weil er sieht, daß die Geretteten eine fremde Sprache sprechen; und ebensowenig die Schiffsleute, die einfach ihre Christenpflicht taten und sich im übrigen weder um die Greuel, noch um die Torheiten des Landes kümmern, das sie durchfahren. Sie weisen Albrecht und Gertrud einen Platz hinten am Steuer an, reichen ihnen freundlich Speise und Trank und befassen sich dann wieder mit der Lenkung des Schiffes.

So gleiten sie stundenlang dahin; längst hat die Sonne die beiden Verliebten getrocknet und in ihnen ein neues, frohes Lebensgefühl entzündet. Da weiten sich die Ufer des Stromes, und eine kaum übersehbare Wasserfläche dehnt sich vor ihnen aus; und zugleich zeigt ein eigenartiges Wiegen der Barke, wie die anrollenden Wogen des Meeres gegen die Wellen des Stromes an der Oberfläche ankämpfen, während doch die unergründliche Tiefe das zugeführte Wasser schweigend in sich aufnimmt. Zuletzt erlischt die vorwärtsstrebende Trift des Stromes völlig und tragen sie die Wogen nicht mehr dahin, sondern nur noch auf und ab.

Vorn im Schiff hebt Bruder Augustin die Hände gen Himmel und senkt sie, einen Halbkreis beschreibend, zu beiden Seiten herab: er will seinen Kindern die Größe des Meeres begreiflich machen. Albrecht und Gertrud aber hinten beim Steuer haben weder Auge noch Sinn für die Unermeßlichkeit der äußern 194 Welt; sie staunen ein jedes selig versonnen in die Tiefen ihrer Herzen hinunter, wo sie jenen wunderbaren Quell entdeckt haben, aus welchem alle Welten geboren werden. Und mit einer ganz neuen Ergebenheit in das Schicksal sind sie Zeugen, wie die Schiffleute einen Mast aufrichten und an ihm ein weißes Segel hissen, welches fröhlich den Wind fängt, aus seiner prallen Bauschung die gewonnene Kraft dem furchenden Kiel weitergibt und sie alsbald in frohbeschwingter Fahrt durch den goldenen Abend trägt, der großen Hafenstadt mit den vielen weißen Häusern entgegen.

 


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