Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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16. Die Nacht der Zweifel

Sie rasten nach ihrer blinden Flucht auf einem kleinen Hügel und blicken auf die Stadt zurück, welcher sie wie durch ein Wunder entronnen sind.

Neben ihrem blauen Schattenbild geht eben die Sonne unter. Sie schwimmt mit ihren Mauern, Dächern und Türmen in einem Meer von Feuer und Blut. Es scheint in diesem Lande keine andern Abende zu geben.

»Zum zweitenmal hat uns dein Brief gerettet!« bricht endlich Ellenor das Schweigen, die mit Stephan zusammen etwas abseits auf der Erde lagert. »Und nicht nur uns . . .«

79 Aber Stephan blickt finster vor sich hin. Ein schlimmer Gedanke zermartert sein Gehirn.

»Vielleicht sollte man Gott niemals in den Arm fallen! Waren es nicht Ketzer, welche kamen und sie dem Feuer entrissen? – Dann ist ihre Seele verloren . . .«

»So hätte sie brennen sollen?« Ellenor schaut ihm mit einem Blick des Hasses und der Empörung in die Augen. Wenn Gott ihre Rettung nicht von sich aus gewollt hätte, würde dann irgend ein Gebet sie haben bewirken können?

»Frage Eustachius!« gibt ihr Stephan zurück. »Er gehört ja zu den Gelehrten . . . Hast du ihn nicht gelobt, als er dem schwarzen Reiter antwortete?«

»O, ich will von dieser ganzen Welt nichts mehr wissen!« schreit Ellenor auf. »Wie gut taten doch meine Freundinnen, als sie wieder nach Hause ritten! Nun sitzen sie auf ihren sichern Burgen, denken an ihren ›Kreuzzug‹ wie an einen Traum zurück – und ich bin hier und fange an zu zweifeln, ob ich recht tue . . .«

Sie legt den Kopf in ihre Hände und schluchzt in sich hinein. Glühende Reuetränen fallen in ihr jugendliches Herz, das sich in gläubigem Aufschwung dem Höchsten ergeben wollte, ohne vorher seine Kraft zu prüfen. Wird sie noch weiterhin diesen Weg zu Gott aushalten, der immer mehr zwischen höllischen Tiefen dahinführt?

Stephan betrachtet sie.

»Ob deine Freundinnen glücklicher sind als du, das weiß nur einer: er, der uns diese Prüfung schickt!« redet er ihr mild zu. «Du aber kamst zu mir als meine Königin und denkst jetzt nur an dich, nicht auch an mich und an uns alle?«

»Ich denke an das Mädchen, das am Pfahle hing und um 80 das schon die Flammen emporzüngelten. Was sollte es Böses getan haben? Mir war es, als sei es meine Schwester und als könnte ebensogut ich an seiner Stelle sein!«

Stephan schaut in die immer mehr eindämmernde Ferne und besinnt sich eine Weile, ehe er spricht.

»Auch das Böse kann im Gewande der Reinheit einhergehen. Was wissen wir von der Seele eines Menschen, wenn wir sein Äußeres sehen? Sie soll einen geistlichen Herrn mit ihrem Blick verzaubert haben . . .«

Ellenor fühlt, wie er die Nackenlast ihres goldenen Haares betrachtet, und erhebt ihr Haupt, um seinen Augen mit den ihren zu begegnen.

»So könntest du am Ende auch mich für eine Hexe halten, die die Menschen mit ihrem Blick vergiften will?«

Da hält er der Frage ihres bebenden Mundes den Zweifel seiner dunkel gefurchten Stirne entgegen und redet mehr zu sich selbst als zu ihr:

»Wie wenige Dinge in diesem Leben sind gewiß – wie vieles aber ist ungewiß?«

»Stephan?« Sie starrt wie in einen Abgrund hinein. »Stephan, du glaubst –? . . . Gott, nicht ich bin böse und nicht du bist es; nein, die Luft dieses verfluchten Landes ist vergiftet, daß hier die Menschen in Raserei sich vernichten und selbst in unsere Seelen das Mißtrauen hineindringt! – Ich bin dir gefolgt und glaube an dich und deine Sendung – und du willst mich verstoßen, wo ich niemand mehr außer dir habe in diesem entsetzlichen Dasein?!«

Er senkt den Kopf und stiert vor sich hin. Schwer trifft ihn ihr Vorwurf; er weiß, daß er nicht ganz ungerecht ist. Aber kann er darum seine Zweifel niederschlagen?

81 »Niemand mehr außer mir?« murmelt er, mühsam atmend, mit einem Lächeln. »Wer weiß, was Gott mit uns vorhat? Wer weiß, was der Teufel mit uns vorhat?«

Da sinkt Ellenor wimmernd in sich zusammen; ihr ist, als schwände der Boden unter ihren Füßen. Stephan steht auf, als müßte er den Kampf mit den eifersüchtigen Gefühlen, die wie wilde Tiere die Pranken gegen sein besseres Selbst erheben, in eine Einsamkeit tragen, wo er kein anderes Wesen verletzen kann: sie hört, wie er von ihr weggeht; als ginge er für immer. Aber nachdem sie eine Weile in ihrem Schmerz hingeworfen dagelegen hat, allmählich in den hart glitzernden Sternhimmel aufschauend und sich besinnend, ob sie auch die Wahrheit zu ihm sprach, fühlt sie eine Hand auf ihrem Scheitel.

»Warum bist du so traurig, Schwester?«

Sie wendet sich. Eine Gestalt kniet neben ihr. Eustachius.

»Weil nichts sicher ist in diesem Leben«, stöhnt sie schluchzend. »Kein Schwur, kein Gefühl – nichts. Oder sage du mir, wenn du es weißt: Können wir Gott in unserm Herzen festhalten? Können wir einen Menschen festhalten? Können wir gläubig bleiben, wenn wir es wollen; oder liegt es nicht in unserer Macht, an Gott und an die Menschen zu glauben, die wir lieben? Sind am Ende auch die Ketzer, die sie hierzulande verfolgen, wider ihren eigenen Willen Ketzer geworden?«

»Du suchst den Trost, den ich selber suche!« bekennt Eustachius' Stimme durch das hochhin überschimmerte Dunkel der Nacht. »Nun habe ich zum erstenmal Menschen verbrennen sehen und habe nicht glauben können, daß sie schuldig sind. Woher nehmen Menschen das Recht, andern Menschen das Leben zu rauben, die doch Gott nicht minder geschaffen hat als sie? Es ist furchtbar, Schwester . . .«

82 »Eustachius? Hast du vergessen, was du dem schwarzen Reiter für eine Antwort gabst?« keucht Ellenor ihm entgegen. »Auch du glaubst also nicht mehr, daß wenigstens die Kirche weiß, was gut und böse ist? – Wie aber sollen wir dann wissen, ob Gott oder der Teufel uns antreibt, wenn wir handeln, wie unser Wille es uns eingibt?«

Die Sterne flimmern gleich falschen Augen; und das ausgedörrte Land in seiner lechzenden Sehnsucht schweigt. Nicht nur die Nacht, sondern das qualvolle Rätsel des Lebens selbst liegt lastend auf der Erde: sie gestehen sich beide ein, wie auch sie selber sich von den Menschen abgewandt haben, denen sie Treue gelobten! Und doch streicht jetzt auf einmal eine milde Luftwelle über sie hin wie eine Liebkosung aus Gründen, welche kein Gedanke jemals wird ausloten können.

»Wenn wir das wüßten, Schwester, wir zögen nicht nach dem heiligen Land. Gott muß immer aufs neue erlebt werden; und von denen am meisten, die am meisten Schuld auf sich geladen haben. Bitte du ihn, daß er sich uns am Grabe des Erlösers offenbart . . .«

»Wo ist Alix?«

»Sie weint. Sie hat mich dasselbe gefragt, was du mich fragst und was ich dich frage. Ich habe Stephan zu ihr gehen sehen; und vielleicht fragen auch sie sich dasselbe. Wo ist Gott? Was ist Gott? Wo ist die Gewißheit, daß wir Gott gefunden haben?«

Und sie staunen vor sich hin, in immer unbestimmteren quälenden Gefühlen, die nicht mehr zu Worten werden können Vor ihren schlafmüden Blicken lodern in der Erinnerung die Flammen der Scheiterhaufen; und ihre Seelen knien immer wieder in kindlicher Hilflosigkeit vor dem furchtbaren Bilde 83 brennender Menschen, das ihren ahnungsvollen Träumen wie zu einem Sinnbild dafür wird, daß auch den Altar des Herzens eine Glut umlodert, die auf ihm keine ewigen Götter duldet. Sie fühlen bei allem Grauen ein verwandtes Feuer in ihrem aufgepeitschten Blute und erschauern über der Möglichkeit, daß auch das, was in ihnen Liebe und Güte ist, gleich einem zerbrechlichen Nachen auf dem dunklen Strome verborgener Begierden dahintreibt und jeden Augenblick Schiffbruch erleiden kann . . .

Und so entschlummern sie zuletzt auf dem Hügel, in raunender, flimmernder Nacht und bleiben bis zur kühlen Morgendämmerung in den leidvollen Schlaf der Erschöpfung versenkt. Dann regen sie abermals ihre steifen Glieder, erheben sich und blicken sich an mit der heimlich verwunderten Erkenntnis, daß sie immer noch beisammen sind, wo sie sich doch in Gedanken schon so weit von einander getrennt hatten. Und endlich wandern sie wieder weiter, den Notwendigkeiten eines neuen Tages ergeben, gemeinsam in ihr gemeinsames Schicksal hinein.

 


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