Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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45. Brigittes Einsamkeit

Brigitte hat die große Stadt Mailand durchwandert.

Überall fragte sie: »Wo sind meine Kinder? Ich habe meine sieben Kinder verloren!« Aber unter den Scharen jugendlicher Kreuzfahrer, die in den unzähligen hohen, engen Gassen zusammenströmten, fand sie die vermißten Lieblinge so wenig wie bisher. Und die Leute, die sie ansprach, verstanden sie nicht, schüttelten den Kopf über ihr sonderbares Gebaren und kehrten ihr den Rücken.

Jetzt schreitet sie schon den dritten Tag weiter im Staube der Straße, welche durch die dürre Ebene nach Süden führt: ihr Leben ist nur noch ein einziges Schmachten und Dürsten. Vor ihr zeichnen sich im Sonnendunst wie graue Schattengebilde die Gebirgszüge ab, hinter denen das unendliche Meer sich auftun soll; und sie redet sich ein, es müsse bei seinem Anblick auch die Verknotung in ihrer Seele sich lösen und einem unfaßbaren Glück berauschenden Einzug gestatten. Aber zwischen die Bilder der Sehnsucht, auf welchen sie sich selber mit gebauschten Segeln nach dem heiligen Lande fahren sieht, schieben sich die Erinnerungsbilder dessen, was sie in der Stadt geschaut und erlebt hat.

Wie man die müden Zugvögel auf ihren Rastplätzen in Netzen abfängt, wenn sie im Herbst nach den wärmeren Landstrichen fliegen, so taten die jungen Mailänder mit den erschöpften Kreuzfahrerinnen, die arglos der Stadt nahten. Da standen sie am Tore mit ihren Dienern, die schöne neue Kleider 404 bereithielten; und ein jeder holte sich mit freundlichem Lächeln aus den Scharen das Mädchen heraus, das ihm am meisten gefiel und von dem er sich am meisten Freude versprach. Es war aber die Kunde hiervon in der Landschaft herumgeboten worden und hatte manche dralle Bauerndirn veranlaßt, ebenfalls ein weißes Kreuz sich auf die Brust zu heften und sich den Pilgerscharen beizugesellen, um auf diese Weise ein Glück zu erhaschen, das ihr sonst zeitlebens versagt geblieben wäre: immer noch sieht sie jenes Mädchen vor sich, gebräunt wie eine Blutorange, das ihr aus seinem grünschwarzen Gelock hochmütige Blicke zuschoß und ihr wie zum Hohne sogar ein goldenes Kreuz an ihrer Kehle wies . . .

Und dann in der Stadt selbst! Auf den Balkonen saßen die Neugekleideten, frisch gekämmt und sauber gewaschen und umfangen vom Arme des Mannes, der ihnen nach so vielen Mühsalen ein leichtes Leben versprach, falls sie nur das Kreuz vergessen und gestatten wollten, daß er dann und wann mit ihren blonden Flechten spielte. »Wenn du nach Jerusalem kommst, sprich auch für mich ein Gebet!« rief ihr eine von diesen zu und winkte ihr nach. War es Mitleid mit ihr, der Weiterpilgernden; oder ein Geständnis des eigenen Verlorenseins? Sie wagte nicht, ihr ins Gesicht zu schauen. Warum?

Sie hat kein vornehmer Signore in sein Haus geladen. Sie wandert dahin, als ob ihr Fuß niemals Ruhe finden sollte: das dürftige Haupt trägt sie dem schwankenden Körper voran; und ihre brennenden Blicke eilen den müden Augen voraus, welche ihr, vom Staube schmerzend, tief in den Höhlen sitzen. Ihre Seele aber ist nach rückwärts gewandt und umrankt die Gestalten der Glücklichen, die sie hinter sich gelassen hat, mit heimlichen Fragen, welche langsam ihren Glauben zerfressen, 405 so daß er ihr nicht mehr als die letzte Zuflucht erscheint, und in ihr aufs neue alle die Wünsche des Blutes wachrufen, die sie längst überwunden zu haben wähnte: und diese werden ihr auch durch die frommen Lieder nicht mehr eingelullt, die sie im Vorbeigehen jene Knaben und Mädchen singen hört, welche wie sie ungefährdet durch die Stadt hindurchgekommen sind und jetzt aufs neue die Glut ihres Herzens in Tönen ausströmen, so daß es zuweilen ist, als ob der heiß über das flache Land hinfächelnde Wind eine einzige lodernde Stimme geworden wäre . . .

Sie weiß sich eben wieder allein, wie sie die schmale, ein ausgetrocknetes Bachbett beschattende Brücke überschreiten soll, um drüben in ein bewegteres Gelände, zugleich aber auch in den milden Abend hinein zu gelangen. Jenseits sitzen vor einer Schenke drei Eseltreiber, deren Tiere am Mauerring festgebunden sind; und kaum daß sie ihrer ansichtig werden, springt schon einer auf und ihr entgegen, um ihr den Ausgang der Brücke zu versperren. »Schönste der Schönen,« ruft er ihr angeheitert in seiner Sprache zu, die sie nur im Echo des Gelächters seiner beiden Kumpane versteht, »du mußt dir den Durchpaß mit einem Kuß erkaufen!«

Sie fühlt, wie seine sehnigen Arme ihren magern Leib umfassen; und sie spürt seinen nach Wein riechenden Atem vor ihrem Munde. Aber sie duckt sich, entschlüpft dem frechen Ring, den er um sie geschlagen hat, stößt ihn mit letzter Kraft auf die Seite und eilt, all ihre Mattigkeit vergessend, mit fliegenden Haaren an der Schenke vorbei und so lange über sie hinaus, bis sie außer Hörweite der wild gröhlenden Stimmen gelangt ist, die sie einen Augenblick wie eine drohend, aber wirkungslos zugeworfene Schlinge empfand. Erst wie ihr der Atem 406 versagt – und nachdem sie zurückschauend sich überzeugt hat, daß sie nicht verfolgt wird –, verfällt sie nach und nach wieder in jenen zähen Wanderschritt, dessen Gewohnheit sie schon oft bis in den Schlaf hinein begleitete.

Und wie bereits in Schlaf und Traum, so schreitet sie jetzt das allmählich ansteigende Bergtal hinauf. In der beginnenden Kühle des Abends, die sich wie ein schmerzhafter Kranz um ihre Stirne legt, wird sie sich doppelt der Öde des Daseins bewußt, in welchem sie selber in trauriger Leere dasteht. Sie spürt an ihren Rippen immer noch die Arme des Eseltreibers, der sich wenigstens den Anschein gab, Lust nach ihr zu haben; aber der Haß, der sie einen Augenblick lang bei dem tölpelhaften Überfall erfüllte, ist schon längst kein ungeteiltes Gefühl mehr: halb erlischt er in der zunehmenden Erkenntnis ihrer Verlassenheit, halb richtet er sich gegen sie selbst, daß sie niemals einem Manne etwas war, weil sie es niemals gewagt hatte, ein Weib zu werden.

Was soll sie noch lange den sieben Kindern nachlaufen? Was soll sie auch jenem nachlaufen, welcher sagte »Lasset die Kindlein zu mir kommen!«, wo sie doch wahrlich kein Kind mehr ist? Ihr vor Müdigkeit schmerzender Leib, an dem keiner jemals Freude fand, ist ihr zu einer Last geworden, die sie nur dann noch weitertragen möchte, wenn sie wüßte, warum und für wen. Sie fühlt sich in ihm längst nicht mehr wie in einem Heim, sondern wie in einem düstern, verhaßten Gefängnis.

Die Dämmerung umdunkelt sie aus Braun in Schwarz. Sie ist am Straßenbord niedergesunken und starrt angelehnt in die Sterne hinauf, die wie stechende Küsse über ihren schmachtenden Lippen funkeln. Aber wiederum nimmt niemand ihr Haupt in seine Arme; bettet niemand sie, die im kalten Fieber 407 ihres verleugneten Liebeshungers als demütiges Werkzeug sich hingeben möchte, an seine Brust; spricht niemand zu ihr das seit Jahren vergeblich erhoffte Auferstehungswort: Lebe, um mein zu sein! . . .

 


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