Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

34. Ellenors Enttäuschung

»Niemand in der ganzen Stadt, der uns ins heilige Land fahren will! – Und wahr ist auch nicht, daß das Meer vor uns austrocknen wird, wie viele von uns sich eingeredet haben! – Wir sind betrogen . . .«

Stephan sitzt vor seinem Königszelt auf dem Hügel und schaut über die nächtlichen Gefilde hin, wo die jungen Kreuzfahrer zu Tausenden unter ihren Blahendächern oder im Freien schlafen und weiter zu den weißen Häusern der ummauerten Stadt hinüber, die sich wie eine bleiche Herzlosigkeit unter dem Sternenhimmel verbreiten. Nur die ersten der ankommenden Scharen haben in ihr Aufnahme gefunden: als ihre Zahl immer mehr anwuchs, schloß der Rat ihnen die Tore vor der Nase zu und versuchte die Überzähligen mit List und Drohung zur Umkehr zu bewegen; und in der Tat wurden nicht wenige, die bisher ausgeharrt hatten, noch zu allerletzt ihrem Vorhaben untreu, warfen Kreuz und Fahnen fort und begannen den Weg, auf 195 dem sie mit soviel zähem Mut einhergezogen waren, in elender Enttäuschung und Zerstreuung zurückzuwandern. Alle diejenigen, die hier in den Zelten und um sie herum wohnen, unverdrossen auf eine günstige Schicksalswendung wartend, tun es gegen die ausdrückliche Verfügung der Behörden und hangen in ihrem ganzen Dasein von der Gutmütigkeit des Volkes ab, das sie bisher immer wieder mit Lebensmitteln versah.

»Sprichst du im Ernste?«

Ellenor ist hinter Stephan in die Zeltöffnung getreten und fühlt, wie die Verzagtheit, die täglich drückender über dem Heerlager der jungen Glaubensstreiter lastet, auch im Herzen ihres Führers wieder Einzug halten will, in welchem genug der früheren, nur vorübergehend überwundenen Verstimmungen bereit sind, sich mit der Mutlosigkeit des Augenblickes zu verbünden, um ihn doch noch in jene Erniedrigung hineinzustürzen, die ihnen bisher mißlang. Vor ihr und über ihr schimmert eine Herbstnacht, so klar, wie jene Frühlingsnacht war, in der sie mit ihren Freundinnen als Königin zu Stephan stieß – wäre sie seine Königin, wenn sie jetzt nicht den Arm um den Nacken des Bekümmerten legte und ihm durch ihren Glauben an ihn den eigenen Glauben an seine Sendung zurückgäbe? Aber ein dunkles Gefühl sagt ihr auch, daß es jetzt nicht mehr nur der anfeuernden Kraft ihres Wortes, sondern vielleicht des Einsatzes ihres ganzen Wesens bedarf, wenn er als ein Mann, der seinem Schicksal gewachsen ist, soll unter die Sonne des nächsten Tages treten können.

»Du bist müde. Komm, Lieber, laß uns schlafen!«

Aber Stephan steht wohl auf; doch geht er nicht wie sonst in das Zelt hinein und legt sich zum tiefen Schlafe nieder. Er prüft das Antlitz des blonden Mädchens, das ihm eine 196 unergründliche Vorsehung an die Seite gegeben und bis jetzt an seiner Seite erhalten hat; und Ellenor hält im Sternendämmer die längst empfundene Frage seines Blickes aus und weiß sich in einem willigen Opfermut bereit, ihm jene Antwort zu geben, die ein junges Weib stets zuletzt dem Manne gibt, mit welchem es sich durch lange Leiden und Entbehrungen verbunden sieht. Sie hört als etwas Erwartetes, und fast mehr aus seinen Augen als aus seinem Munde, die heiseren Worte: »Mein Herz hat nur noch den einen Wunsch, bei dir alles das zu vergessen, was ich mir in dieser Welt aufgeladen habe . . .«

Da sagt ihr ein nachtwandlerisch sicheres Empfinden dessen, was seine Natur fordert und ihre Natur gewähren soll, daß sie jetzt nur noch hingegebenes Gefühl sein darf, damit er seine von Zweifeln zerquälte Seele in ihm gesund bade und, wenn er sich wieder von ihr weghebt, in jenem unendlichen Meer des Seins all die kleinmütigen Gedanken, die aus den Begrenzungen dieses Daseins ihren Ursprung nehmen, zurückgelassen hat. An ihr soll er zum Bewußtsein jener in ihm noch unentbunden schlummernden Kraft kommen, die das Leben nicht nur mit sehnsüchtigen Träumen umwirbt, sondern es mit hartem Willen zu unterwerfen und zu gestalten vermag! Und sie weiß auf einmal: Um diesen Augenblick zu erleben, hat sie Vater und Mutter verlassen und hat sie durch alle Greuel hindurch diese weite Reise gemacht; und dadurch allein kann auch sie selber sich ihres Wertes bewußt werden und unmittelbarsten Anteil daran haben, wenn es ihm gelingt, sich und sie alle, die ihm gefolgt sind und noch weiter folgen wollen, über diese letzte und gefährlichste Stockung ihrer Fahrt hinwegzureißen.

Gleichwie sie sich einst vor die stolze Kiefer stellte und ihr zurief: »Wenn du ein König bist, so nimm mich!«, so bietet sie jetzt 197 dem Gefährten in so vielen bittern Abenteuern – der in seiner Hirtentracht nicht mehr ärmlicher vor ihr dasteht, als sie in ihrem abgetragenen grünen Jagdkleid vor ihm – ihren jungen, frischen, leichtgeöffneten Mund dar. Und wie sie da, nach all dem langen, ernsten Zusammensein zum erstenmal, seine Jünglingsarme ihren straffen Leib umfangen fühlt, legt sie voll Andacht und Hingebung auch ihre Arme um seinen Nacken, schließt in dem Augenblick, in welchem ihre Lippenpaare sich zusammenschließen, auch ihre Lider und ist nur noch selbstvergessenes Lauschen auf das süße Brausen in ihrem und in seinem Blute. Gering erscheint ihrer Demut das Glück, das sie ihm damit schenken kann – ihm, der sie alle durch Not und Tod dem Frieden der Seele entgegenführen möchte –, und groß das Glück, daß er das einzige, was sie zu schenken hat, als Geschenk sollte entgegennehmen wollen.

In Stephan aber, welcher mit ihr, der nur noch in seinem Willen Lebenden, in einem bisher nie gekannten Taumel auf das ärmliche Wanderlager hingesunken ist, steigt, während seine Hände bebend die kaum verhüllten Wunder ihrer Jugend umtasten, ein furchtbares Bild auf. Jene begehrliche Magd am Sterbebett des von der Tanne gefällten Bauers, mit ihren blühenden Wangen und heißen Augen, tritt auf einmal vor seinen innern Blick – soll er dieses verderbliche Feuer auch in Ellenor entzünden? Zum Danke dafür, daß sie sich in ihrem Herzen zu ihm zurückgefunden hat? Und er erkennt mit grausamer Deutlichkeit, daß das, was seiner Schwäche als Glück erscheinen wollte, jene Sünde ist, aus welcher jede andere Sünde dieser Welt wie tausendfältiges Unkraut emporschießt. Mit einem erstickten Aufschrei stößt er Ellenor von sich und verkriecht sich stöhnend in einem Winkel des Zeltes, umdüstert von der 198 Scham seiner noch unerfahrenen Männlichkeit, welche ihm wie ein böses Tier vorkommt, das er in sich erwürgen muß.

In tiefem Entsetzen liegt Ellenor allein und hört sein Schluchzen; und lautlos rinnen auch ihr die Tränen in die Locken, während ihr Blick starr das Zeltdach zu durchdringen sucht, um denjenigen zu finden, welcher dieses unfaßbare Leid des Aneinandervorbeigreifens über sie beide gebracht hat. Als ob sie sich seinem richtenden Auge unterwerfen wollte, entblößt sie sich mit zitternden Händen, damit er, der über den Sternen thront, es erkenne, wenn etwas Böses an ihr oder in ihr ist; und ihre Gedanken wandern mit der leisen Frage einer Schwester zurück zu ihren Freundinnen, die einst so keck zugreifend eine jede ihren Baum umarmten, als alles noch ein lachendes Kinderspiel war. Wo mögen sie jetzt sein? Zurückgekehrt in die Heimat? Aber wie liegt doch die Heimat so fern! Wie sind ihr die Menschen von damals so fremd! Und wieviel dunkler und unerklärlich trennend ist das, was sich soeben zwischen sie und den einzigen Menschen geschoben hat, der ihr noch hätte Heimat sein können und dem sie mitten in all der fühllosen Welt, die sie umgibt, mit liebendem Herzen hätte Heimat werden wollen!

Sie wagt kaum, den Atem in ihre bedrückte Brust einzuziehen, aus Furcht, Stephan könnte sie hören und schon ihre bloße Gegenwart als verhaßt empfinden. Sie lauscht auf den schweren, unruhigen Schlummer des Jünglings, dem sie sich hatte zum Opfer darbringen wollen, damit er in sich selbst die Kraft aller derer entbinde, die opfern können, und der ihre Gabe so herb zurückwies; und dann, wie alles still ist um sie herum, öffnet sie ihre Sinne dem leisen, unbestimmten Rauschen der Sternennacht, das durch die Zeltöffnung hereinwogt, von andern Sphären kündet und sie in einem größeren Strome wiegt. Ihre 199 Seele aber ruht in der Einsamkeit der weiten Welt wie in einem abgrundtiefen Grab und versinkt zuletzt, durch Trauer und Trostlosigkeit hindurch, in eine todesstarre Ohnmacht der Verzweiflung an dem Geliebten, an sich selbst und an ihrer Liebe, weil ihr weder Blüte noch Frucht beschieden sein soll . . .

 


 << zurück weiter >>